Heike Bicher-Seidel

Lebendkontrolle


Скачать книгу

      Ich klopfte an die Zellentür, wartete einen Augenblick und schloss dann die Tür auf. Das Schloss klemmte und gab ein knirschendes Geräusch von sich.

      „Guten Abend, Herr Kanter, alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte ich. Julian Kanter saß auf dem schmalen Bett und hatte ein Buch in den Händen. Seine braunen Haare hätten einen Haarschnitt vertragen können. Er strich sie mit einer Hand zurück und musterte mich aus warmen braunen Augen, bevor er nickte und den Blick wieder in das Buch senkte.

      „Darf ich kurz reinkommen?“, fragte ich. Er legte das Buch zur Seite und wies auf den Stuhl an seinem kleinen Tisch.

      Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnte, ungebeten in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen, der sich dagegen nicht wehren konnte, aber das gehörte zum Job.

      „Mein Name ist Larsen, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin erst seit zwei Wochen hier und da waren Sie ja schon im Krankenhaus.“

      „Sie sind nicht aus dem Saarland“, stellte er fest.

      Er machte einen gefassten Eindruck. Seine dunkle Stimme klang angenehm und er sah mich direkt an. Auf den ersten Blick schien er mir nicht unter Beruhigungsmitteln zu stehen, ich würde später Christian fragen.

      „Stimmt, den saarländischen Dialekt werde ich in diesem Leben nicht mehr lernen. Sind Sie aus dem Saarland?“

      Er sah mich verwundert an, offensichtlich war er nicht gewohnt, dass jemand vom Wachpersonal spätabends auf einen Plausch in seine Zelle kam.

      „Kennen Sie meine Akte nicht?“

      „Ich mache mir gern selbst ein Bild von den Menschen.“ Aufmunternd lächelte ich ihn an und hoffte, er würde darauf anspringen und mir etwas von sich erzählen, aber er schwieg.

      „Wo wurden Sie geboren?“, versuchte ich, ein Gespräch in Gang zu bringen.

      „Saarbrücken“, antwortete er.

      „Hört man gar nicht. Haben Sie nicht im Saarland gelebt?“

      Er sah mich eine Weile schweigend an, bevor er erneut sprach.

      „Ich bin müde, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gern zu Bett gehen.“

      „Ja, klar. Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe. Leider werde ich das heute Nacht aber noch mehrmals machen müssen, Sie verstehen?“

      „Lebendkontrollen“, sagte er. Ich nickte und wandte mich zur Tür.

      „Werden Sie kommen oder einer Ihrer Kollegen?“, fragte er. Ich drehte mich nochmal zu ihm um. Ich hatte nicht bemerkt, dass er ebenfalls aufgestanden war. Er stand nur einen Meter von mir entfernt und überragte mich um beinah einen ganzen Kopf, dennoch empfand ich sein Auftreten nicht als bedrohlich.

      „Der Kollege Rau und ich haben heute Nachtdienst. Wenn Sie möchten, komme ich.“

      „Dann bis später“, sagte er und wandte sich ab. Ich schloss leise die Tür und drehte den Schlüssel im knirschenden Schloss.

      „Hat er mit dir gesprochen?“, fragte Christian, als ich in den Wachraum zurückkam.

      „Er hat mich rausgeworfen, wenn das zählt, dann ja.“ Er lachte.

      „Das war mehr, als er mit den meisten hier spricht. Komm, setz dich, ich hab Kaffee gekocht.“ Frustriert fiel ich auf einen der beiden Schreibtischstühle vor den Monitoren und bewegte die Flurkamera in Richtung Zelle sieben. Es war nicht gut, wenn sich psychisch angeschlagene Häftlinge von allem und jedem abkapselten. Ich würde ihn noch aus seiner Isolation locken, so schnell gab ich nicht auf.

      Eine Stunde später machte ich mich wieder auf den Weg zu Zelle sieben. Ich klopfte leise an und öffnete so geräuscharm, wie es das Schloss zuließ. Es war dunkel im Raum. Julian Kanter blinzelte in das durch die Tür hereinfallende Licht der Flurbeleuchtung.

      „Bin schon wieder weg“, flüsterte ich und schloss die Tür.

      Eine weitere Stunde später zeigte sich mir ein anderes Bild, als ich die Zellentür öffnete. Das Licht war noch immer ausgeschaltet, aber der Häftling schlief nicht, wie ich erwartet hatte, sondern saß auf dem Bett und starrte mich mit großen Augen an.

      „Können Sie nicht schlafen?“, fragte ich. Er lächelte bitter, sagte aber nichts.

      „Wenn Sie sowieso wach sind, was halten Sie von einem Kaffee? Bei den Kaffeekochkünsten von Rau kann ich zwar Ihr Überleben nicht garantieren, aber wenn Sie sich trotzdem trauen, hol ich Ihnen einen.“ Er fuhr mit beiden Händen durch seine Haare und zu meiner Verwunderung nickte er.

      Ich schloss die Tür wieder ab und schlenderte grinsend zurück zum Aquarium. Als ich mit zwei Tassen Kaffee aus der kleinen Teeküche neben dem Wachraum kam, sah mich Christian verwundert an.

      „Wollen wir doch mal sehen, ob Kanter nicht doch mit mir redet“, sagte ich siegessicher.

      „Ja, wenn du ihn durch Schlafentzug folterst, wird er sicher irgendwann um Hilfe rufen.“

      „Wenn ich ihn foltere, dann höchstens mit deinem Kaffee. Der ist wirklich furchtbar. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“

      „Es zwingt dich ja keiner, ihn zu trinken. Und Nina? Lass die Tür auf, wenn du rein gehst.“

      „Angsthase“, antwortete ich abfällig und machte mich auf den Weg zu meinem Opfer.

      Julian Kanter saß auf dem Bett. Unter seinen Augen waren dunkle Schatten und ich bekam beinah ein schlechtes Gewissen, ihn mitten in der Nacht mit Kaffee abzufüllen.

      „Ich wusste nicht, wie Sie ihn trinken“, sagte ich und kramte ein Päckchen Zucker und ein Portionsdöschen Milch aus der Tasche meines blauen Uniformhemdes. Ich zog das Haargummi fest, mit dem ich meine langen dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte - eine nervöse Angewohnheit, die ich kaum noch wahrnahm.

      „Ich trinke ihn schwarz, danke“, sagte er und zog eine der Tassen zu sich. Aufgrund der Enge der Zelle musste er nicht vom Bett aufstehen, um den Tisch zu erreichen.

      Super, er redet, dachte ich erfreut und überlegte, womit ich ein ungezwungenes Gespräch beginnen konnte, aber Kanter kam mir zuvor.

      „Haben Sie Angst vor mir?“, fragte er und wies mit der Tasse in der Hand auf die weitgeöffnete Zellentür.

      „Mein Kollege ist etwas übervorsichtig und wenn es ihn beruhigt, tue ich ihm den Gefallen“, sagte ich ausweichend.

      „Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Wenn man sich mit dem Abschaum der Menschheit beschäftigt, sollte man vorsichtig sein, vor allem als junge Frau.“

      „Die Insassen hier sind nicht der Abschaum der Menschheit. Ich mag viele von ihnen und kann es nicht leiden, wenn jemand so über sie redet, auch nicht, wenn derjenige dazu gehört.“ Er sah mich über seine Tasse hinweg nachdenklich an.

      „Wie lange machen Sie den Job schon?“

      „Sehr lange“, sagte ich und versuchte, mein Grinsen zu verstecken, „schon seit zwei Wochen.“

      Es war das erste Mal, dass ich Julian Kanter lachen sah und ich fand den Anblick wirklich schön. Als mir bewusst wurde, was ich da dachte, stieg mir das Blut in die Wangen. Um Ablenkung bemüht, sah ich mich in der Zelle um.

      „Sie haben gar keine Bilder aufgehängt, keine persönlichen Gegenstände. Haben Sie noch nicht ausgepackt, seit Sie aus dem Krankenhaus zurück sind?“

      „Mir ist es lieber so“, antwortete er dunkel. Schade, lachend hatte er mir besser gefallen. Ich sollte wieder ein unverfänglicheres Thema anschneiden, daher zeigte ich auf das Buch auf dem Bett.

      „Lesen Sie gern?“

      „Wenn mir mein vollgestopfter Terminkalender Zeit dafür lässt“, antwortete er.

      „Wir haben eine große Bücherspende für unsere