Else Ury

Nesthäkchen und ihre Küken


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vertragen kann wie dein sechsjähriger, Vronli«, meinte der Opapa. »Aber das beste ist, wir machen nachher fünf kleine Tüten, für jedes Kind eine. Dann braucht ihr die Bonbons nicht gleich im Magen unterzubringen und könnt euch noch was zu morgen verwahren.« Der Arzt in Doktor Braun bekam doch die Oberhand über den Großvater.

      »Nee«, – Hansi war nicht einverstanden – »denn sind se moggen danz fott, denn sind destimmt verstohlen.« Er schien in seinem dreijährigen Leben hinreichend trübe Erfahrungen gesammelt zu haben.

      Doktor Braun lachte, daß Ursel, die bereits auf seiner Schulter thronte, ausrief: »Opapa, niß so watteln.«

      Annemarie wollte nun aber auch endlich ihr Teil, nachdem sie die Freundinnen Vera Burkhard und Margot Thielen freudig begrüßt und mit Kaffee und Kuchen versorgt hatte.

      »Vatchen – ich existiere wohl überhaupt nicht mehr für dich? Meinen Glückwunsch will ich zum Hochzeitstag. Du hast ja nur noch Augen für die dritte Generation«, beklagte sie sich halb ernst, halb scherzhaft.

      »Meine große, dumme Lotte, – das Beste kommt zuletzt!« Doktor Braun schlang den freien Arm um Annemarie. »Komm her, du eifersüchtige Mutter! Möge dir dein Glück erhalten bleiben, mein Kind. Und dies hier – du sprachst neulich mal davon, daß du dir einen neuen Wintermantel verkneifen müßtest; ich hatte diese Tage eine kleine Extraeinnahme, vielleicht langt's.« Der gute Vater drückte seinem Nesthäkchen ein verheißungsvolles Kuvert in die Hand.

      Fest schmiegte Annemarie den Blondkopf an des Vaters Schulter in stummem Dank. Es war nicht die Gabe, die sie tief innerlich beglückte, trotzdem sie einen neuen Mantel wirklich gebrauchen konnte, nein, dieses sich Umhegtwissen von treuer Elternfürsorge, das tut noch immer wohl, selbst wenn man längst für die eigenen Küken zu sorgen hat.

      Bis in die achte Stunde dehnte sich die Kaffeetafel unter der Goldlinde aus, bis im Westen die kupferrote Lampe am mattgrünen Himmel angezündet wurde und drinnen im Laufe die goldgelbe Speisezimmerkrone. Bis Frau Marianne entsetzt aufsprang: »Ich Rabenmutter, laß Mann und Kind verhungern!« Sie war nicht zum Bleiben zu bewegen. Klein-Edith, das kluge Vierteljahrskind, mußte besorgt werden. Und »mein Mann ist den ganzen Tag in der Apotheke so angestrengt, abends will er wenigstens etwas von Frau und Kind haben.«

      »Du hilfst ihm ja doch als Laborantin in der Apotheke, Marianne, da hat er doch mehr als genug von dir«, wollte Margot sie zum Bleiben überreden.

      »Findest du – er ist anderer Ansicht.« Marianne lachte noch immer ihr munteres Backfischlachen.

      »Grüß deinen Tyrannen, und ein andermal soll er abends nachkommen.« Marianne zog mit Herbertchen und Waldemarchen, die vom Mädchen geholt wurden, und einem Strauß bunter Astern ab.

      »Ein glückliches junges Frrau! Und trrotzdem frreiheitsberraubt«, meinte Vera, der Freundin sinnend nachschauend.

      »Ja, wir Junggesellen haben es entschieden besser, Vera. Wir können heute Abend hier bleiben, bis Hartensteins uns rauswerfen. Kein gestrenger Eheherr zieht die Uhr stirnrunzelnd, wenn wir heimkommen. Kein Wurm schreit uns vernachlässigte Mutterpflichten in die Ohren«, stimmte Ilse lebhaft bei.

      »Ist das deine wahre Meinung, Ilse?« Man hätte es den lustigen Augen von Klaus niemals zugetraut, daß sie so ernst zu fragen verstünden.

      »Aber natürlich!« Ilse schüttelte das merkwürdige Etwas, das sie bei Klaus' Worten überkommen wollte, gewaltsam ab. »Du denkst wohl, wir Frauen von heute warten noch auf den Mann, wie die von anno dazumal? Da bist du schief gewickelt. Wir freuen uns unserer Unabhängigkeit.«

      »So – hm – da habe ich mich geirrt.« Worin er sich geirrt habe, ob in der modernen Frau oder in Ilse, das ließ Klaus offen. Er reichte, als Hanne jetzt »zu's Abendbrot« bat, Marlene und Vera den Arm, trotzdem dieselben ein ganzes Ende entfernt saßen. Peter lud Ilse und Margot auf – wie es, in der Landmannssprache ausgedrückt, hieß.

      Eine fröhliche Tafelrunde war's, die sich in dem gemütlichen Speisezimmer mit den hellen Eichenmöbeln um den runden Tisch scharte. Man saß so eng, daß man nur abwechselnd Messer und Gabel gebrauchen konnte, was zur Fidelitas noch beitrug. Der Großvater hatte es für die bettelnden Kleinen bei den Eltern durchgesetzt, daß sie bis über das Essen aufbleiben durften. Das heißt, Klein-Ursel, die am wenigsten ins Bett gewollt, lag auf dem Tigerfell nebenan vor Rudis Schreibtisch in süßem Schlummer. Ganz plötzlich hatte der Sandmann sie überrumpelt. Ein Genrebild war es – Vera konnte sich daran nicht satt sehen.

      »Weißt du, Annemie, so möchte ich ihrr photogrraphierren, die kleine Ding«, meinte sie.

      »Dazu kann Rat werden, Verachen. Wir beabsichtigen dich nächstens in deinem Atelier zu überfallen, Urmütterchen feiert im Januar den siebzigsten Geburtstag – wir besprechen das ein anderes Mal. Sie hat trotz ihres Alters noch fabelhaft gute Ohren.«

      Wirklich, Großmama war aufmerksam geworden.

      »Was führt ihr da gegen mich im Schilde, Annemiechen?« fragte sie mit ihrem lieben Lächeln.

      »Das wird nicht verraten, Großmütterchen. Ein Geheimnis – du bist noch zu jung dazu. Erst, wenn du siebenzig bist, darfst du es erfahren. Deine große Schwester ist sicher auch meiner Meinung. Nicht wahr, Tante Albertinchen?«

      Die »große Schwester«, ein kleines, verhutzeltes Frauchen, war zu sehr mit dem Vertilgen des Heringssalates beschäftigt, um zu antworten. Tante Albertinchen, deren weiße Ringellöckchen dünner, aber noch viel beweglicher geworden waren wie dereinst, sprach überhaupt nicht mehr viel, sondern brauchte ihren Mund fast nur noch zum Essen und zum Trinken. Wenn sie aber mal etwas sagte, dann machte Vronli einen großen Bogen um das Urtantchen. Denn dann hieß es sicher: »Annemiechen« – sie verwechselte die Generationen – »Annemiechen, Kind – du bist noch auf? Als deine Mutter solch ein kleines Mädchen war, ging sie immer schon um halb sieben ins Bett. Nicht wahr, Elsbeth?« Tante Albertinchens Löckchen schienen ebensowenig einverstanden mit der neuen Zeit, wie sie selbst.

      Die Omama aber, von der sich Vronli durchaus nicht vorstellen konnte, daß sie mal das kleine Mädchen Elsbeth gewesen, begütigte: »Es ist ja nur einmal im Jahr der Hochzeitstag der Eltern, Tantchen.«

      Hansi, der zwischen Omama und Opapa eingeklemmt saß, schien vom Urtantchen die Inbrunst beim Essen geerbt zu haben. Er ließ sich von den Großeltern abwechselnd gute Häppchen zuschieben. Man sah ja auch, wo es blieb. Hannes Roastbeef aber, das allgemein Furore machte, fand vor dem kleinen Gourmand kein Wohlgefallen. Er kaute so lange darauf herum, bis er zur allgemeinen Erheiterung das abgelutschte Stück schließlich dem Opapa freigebig auf den Teller legte: »Da – die Wust kaut niß.«

      Und als sich Doktor Braun den Spaß machte, ihn von der Mayonnaise, die Hannes ganzer Stolz war, kosten zu lassen, rief Hansi sich schüttelnd: »Iß ekele miß auf die Nese.« Wodurch die Heiterkeit den Höhepunkt erreichte.

      Ilse Hermann ging es ähnlich wie dem kleinen Hansi. Das Roastbeef wollte bei ihr nicht »kauen«. Sie würgte und würgte an jedem Bissen. Und dabei war es doch so zartrosa, dabei war Ilses guter Appetit bei den Freundinnen sprichwörtlich.

      Peter Frenssen war ein netter Tischherr. Er war lange nicht so lebhaft wie Klaus und auch nicht so amüsant. Ernst und überlegt, etwas schwerfällig in der Ausdrucksweise. Aber was er sagte, hatte Hand und Fuß. Er verstand es sogar, Margot, die noch immer eine gewisse gesellschaftliche Schüchternheit nicht überwinden konnte, trotzdem sie jetzt einem großen Kunststickerei-Atelier vorstand, aus ihrer Schüchternheit hervorzulocken. Das Gespräch, das zwischen Wollstickereien und landwirtschaftlichem Betrieb hin und her pendelte und sich schließlich in Stickereimustern, die der Natur entlehnt wurden, vereinte, plätscherte ganz munter dahin. Denn an seiner anderen Nachbarin hatte Annemaries Vetter eine recht wortkarge Gesellschaft. War sie etwa als »Studierte« zu stolz, um Gefallen an der Unterhaltung eines simplen Landwirtes zu finden? Peter Frenssen hatte eine Abneigung gegen alle Weiber, die Latein lernten, anstatt den Kochlöffel zu schwingen. Daß Ilse Hermann dies, trotzdem sie Fräulein Oberlehrer war, aus dem Effeff verstand, ahnte er nicht. Ihre Cousine, die schwarzzöpfige Marlene Ulrich, erschien ihm eigentlich noch unnahbarer. Schon die Anrede