Elke Bulenda

Das 4. Buch George


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folgte ich dem Lärm und stapfte die Treppe hinunter, wobei ich einen Flip-Flop verlor und beinahe dem Latschen hinterher gekugelt wäre. Vor dem Musikraum blieb ich stehen und lauschte. Dort drin röhrte ein Hirsch und jemand machte sich mit einem Presslufthammer an irgendetwas zu schaffen. Mit boshafter Dramatik riss ich die Tür auf. Sofort verstummte der Lärm. Vor mir saßen die Zwergenjungs mit lächerlich orangefarbigen Zipfelmützen und glotzten mich aus großen Augen an. Ebenso perplex glotzte ich zurück: »Was soll das denn werden, wenn es fertig ist? Und wer hat euch hier reingelassen?«

      Herausfordernd tippte ich mit dem Fuß auf.

      »Äh ... Und was willst du darstellen? Möchtest du Mister Bein werden, mit deinen Bermudas und den Flip-Flops? Hey, wir üben hier für einen Zwergen-Musik-Contest. Wir sind die Musizierenden Möhrchen. Unser Motto ist: ›Zurück zu den Wurzeln!‹ Und diesmal holen wir uns Gold!«, betonte Tutnix, der olle Klugscheißer, während Jokurt, Jimmy das Eichhörnchen, Weißnix, Kannnix und Franky zustimmend nickten.

      »Frau Annie uns lassen gehat rein«, meinte Franky, der eigentlich Kong co Gai heißt. Da aber Trixie meinte, das klänge wie »Ein großer Affe wird schwul«, so nannte sie den Erdlingsmann eben Franky. Seltsam, sonst hat sie einen ausgesprochen schlimmen Geschmack, was Namen betrifft, doch bei ihm handelte es sich eindeutig um eine Ausnahme. Ach ja, meine Tochter Mara schleppte sechs tibetanischen Zwerge an. Fünf Mädchen und einen als Mädchen verkleideten Jungen, eben dieser Franky. Verwundert schüttelte ich den Kopf.

      »Was habt ihr gegen legere Freizeitkleidung? Hä, was? Zurück zu den Wurzeln? Mir dünkt, ich werde gleich ein paar Wurzeln schlagen! Potzblitz! Und warum bläst er da in eine Gießkanne, und Jokurt hämmert auf einem Stück Stein herum, und was soll, zum Teufel auch, dieser Presslufthammer?«

      »DAS IST SO: ZWERGEN-MUSIK WIRD MIT UNSEREN WERKZEUGEN GEMACHT. NA JA, HEUTZUTAGE BENUTZEN WIR AUCH SCHON MAL EINEN PRESSLUFTHAMMER. DER TUNNELBOHRER IST EINDEUTIG ZU GROSS«, erläuterte Jimmy, indem er durch sein Megaphon brüllte.

      »Argh! Du Schwachkopf!«, entriss ich ihm wütend die Flüstertüte und briet ihm eins damit über seine Pelzmütze, die er unter seiner albernen Zipfelmütze trug. »Wenn Annie geahnt hätte, was ihr für Lärm macht, hätte sie euch sicherlich nicht reingelassen! Musik? Das soll Musik sein? Das ist nur Krach! Falls es euch noch nicht aufgefallen ist, besteht Musik aus einem Rhythmus, etlichen Noten und einer Melodie!«, klärte ich sie auf. »Ich verabscheue es, wenn jemand Musik spielt, und nur Lärm produziert! Immer wenn ich Schostakowitschs Violinkonzert höre, klingt es für mich, als würde jemand ein Fenster mit einer Rasierklinge abkratzen!«

      »Lärm? Das musst du gerade sagen!«, rückte sich Jimmy die Mützen wieder gerade. »Du kannst noch nicht mal einen Ton halten, geschweige denn Noten lesen. Wie willst du gute Musik bewerten können?«

      »Jetzt mach mal halblang, du Gartenschmuck! Wir Vampire haben das absolute Gehör!«, klärte ich ihn auf.

      Der Kleine fühlte sich provoziert, krempelte die Ärmel hoch und setzte sich auf den Klavierhocker. Allerdings kam er nicht an die Klaviatur heran, also rief er Jokurt, der sich wiederum auf den Sessel legte. Dann setzte sich Jimmy auf seinen keuchenden Bruder: »So, welcher Ton ist das?«, fragte er neunmalklug.

      »Äh, ich höre nichts!«

      »Gut, denn das war nur der Notenschlüssel!«, grinste er und ich verdrehte die Augen. »Höre und lerne! Welcher Ton ist das?«, fragte er und schlug eine Taste an.

      »Das ist ein gestrichenes G. Noch Fragen?«, meinte ich.

      »Woher weißt du das, wenn du gar keine Noten lesen kannst?«, hakte er nach.

      »Ich kann zwar keine Noten lesen, aber ich weiß wie ein gestrichenes G klingt!«

      »Hm, das peile ich nicht, aber egal. Sag, welcher Ton ist das?«, schlug er die nächste Taste an.

      »Das ist ein dis!«, grinste ich. Danach versuchte er es noch mit einem a, einem gis und sogar mit einem Dreiklang-Akkord. »Wie wäre es, wenn du in unterschiedlichen Farben dazu blinkst, dann können wir ein bisschen Senso spielen«, kommentierte ich.

      »Gut, das ist richtig, das gebe ich neidlos zu. Okay, ich glaube dir. Senso? Sieh dir Jokurt an, er ist schon ganz blau im Gesicht«, schmunzelte er und pumpte noch das letzte bisschen Luft aus Jokurts Lungen, indem er gehässig auf und ab hüpfte. Darauf entbrannte zwischen den beiden Brüdern eine Keilerei, die ich geflissentlich ignorierte.

      »Gut, ich gebe euch eine Stunde, während ich außer Haus bin, danach macht ihr einen Abgang, klar? Wo ist Annie eigentlich?«, wollte ich wissen.

      Franky meldete sich wieder radebrechend zu Wort: »Okay Boss. Annie geht holen kleine Sascha von Schule ab.«

      Dafür, dass er noch nicht lange zu unserer Crew gehörte, sprach er schon ganz ordentlich unsere Sprache. Kein Wunder, wenn er die ganze Zeit mit diesen Schwatzbacken verkehrte, musste zwangsläufig bei ihm ihr Vokabular hängen bleiben. Ich schloss die Tür und überließ sie ihrer Radaumusik. Beinahe hätte ich Agnir über den Haufen getreten. Er wollte mich gerade am Poloshirt zupfen.

      »Huch, schleich dich nicht so an! Ich weiß, dass du es kannst, aber lass das lieber bleiben. Solange du noch so ein Zwerg bist, kann das gefährlich werden!«

      »Papa, guck mal, ich habe dir ein Bild gemalt!«, verkündete er stolz wie Oskar.

      »Hm, lass mal sehen.« Daraus wurde ich nicht schlau, es sah aus wie eine Kreuzung eines Da Vinci, mit Experimenten von Dr. Frankenstein. »Ähhhh...«, sagte ich und machte eine etwas unbeholfene Geste.

      »Das ist eine Zeichnung von Link Rattus. Hier, guck mal. Aus seinem Schwanz werden zwei Wirbel entnommen, in der Mitte gespalten und dann an seine Hand genäht, dann hat er zwei prima Daumen!«, strahlte er über beide Backen.

      »Grundgütiger! An jeder Hand zwei Daumen? Ach so, einen Daumen an jeder Hand! Wer bist du, und was hast du mit meinem Jungen angestellt? Sag mal, bist du ganz von allein drauf gekommen?«, fragte ich leicht verdattert.

      Agnir nickte stolz: »Jawoll! Ich hörte, wie Mama darüber sprach und da habe ich mir ein paar Bücher aus unserem Regal genommen und mir die Anna Toni angesehen!«

      »Du meinst wohl Anatomie. Hm, und wie sollen seine Daumen heilen?«

      »Papa! Natürlich mit Vampir-Spucke!«, verkündete er im Brustton.

      »Ach so...«

      »Weißt du, ich will das Gleiche werden wie Mama!«, verriet er mir.

      »Wie jetzt? Du willst Ärztin werden?«, grinste ich.

      »Nee, ich bin doch nicht schwul! Nein, ich werde Arzt! Aber erst mal muss ich in die Schule. Papa, wann komme ich endlich in die Schule?«, quengelte er.

      »Gut, dass du dieses Thema gerade ansprichst...« Ich stutzte. »Warum willst du nicht das Gleiche werden wie ich?«, hakte ich nach.

      »Nö, ich will doch kein Seeräuber werden!«

      »Wie kommst du darauf, ich sei ein Seeräuber?«

      »Na ja, deine Haare! Und du bist immer eine Zeitlang weg. Und wenn du wiederkommst, bringst du Mama immer Gold mit!«, erklärte er geduldig.

      … Früher, als ich noch ein Mensch war, war es als Nordmann sozusagen Pflicht, ein paar Raubzüge zu machen. So gesehen hat Agnir recht. Andererseits, könnte ich auch bei einer Versicherung gearbeitet haben. Denn wir cleveren Nordmänner haben die Versicherung gewissermaßen erfunden. Wir drangsalierten die Leute solange, bis sie uns Schutzgeld zahlten. Danach konnten sie versichert sein, dass wir so schnell nicht wieder auftauchten...

      »Seltsam, viele Jungen würden alles geben, um Pirat zu werden. Aber ich bin kein Pirat! Jedenfalls jetzt nicht mehr. Siehst du vielleicht einen Handhaken und eine Augenklappe?«

      »Nein, aber du hast Ohrringe!«, versicherte er mir.

      »Ja, das ist schon richtig, aber ich habe keine Augenklappe! Weißt du, was das Schlimme an einer Augenklappe ist?«

      »Dir