keine Abenteuer begehen, keine Lust befriedigen. Er kennt nichts, er weiß alles. Er weiß von keiner Eigenschaft. Er kennt die Moral nicht. Er ist sich seiner Ewigkeit gewiss.
Das ist doch langweilig...
Ich bin nicht der HERR, ich will es nicht sein.
Ich bekomme bei dem siebenten Satz Gänsehaut. Die Falten auf meiner Stirn nehmen zu, mein Antlitz fällt ein, der Schweiß rinnt, die Augen beginnen zu flackern. Was soll eigentlich der beschissene Vergleich mit dem Parzival? ... Der hat auf den Rat seiner Mutter gehört und auf die Weisheiten eines Einsiedlers. Zwei fatale Ratgeber.
Parzival, der Athlet aus einer bewaldeten Hinterprovinz, reitet diagonal durch Europa und schlägt auf alles, was er nicht versteht. Er beherrscht die Gewalt besser als jeder andere. Er hat dem Schwert vertraut und nicht seinem Kopf.
Provinz heißt immer Gewalt und geringer Geist. Basic instinct des flachen Landes. Woher komme ich?
...An der gedanklichen Stelle stutzt Hermann, ihn durchfährt ein kleiner Schrecken, noch einmal nässt ein Schweißausbruch seine Kleider. Es bedarf keiner großen geistigen Anstrengung, sich klar zu machen, dass er selbst einer bewaldeten Hinterwelt entläuft, heraus will, zu suchen, was er nicht beschreiben kann, zu kurz sind seine Fühlungen außerhalb der Berge, zu manifest der hohe Lattenzaun, den nicht mal die Hühner überfliegen sollen. Weniger als 50 Kilometer misst Hermanns Weltendurchmesser mit einem spitzen Kirchturm im Mittelpunkt des Seins, von dem immer die Tageszeit abzulesen ist und die Turmuhr die Stunden schlägt, einem Magneten gleich die Welt zusammenhält, und seine Fragen kurz bleiben bis sie ab einem gewissen Lebensalter verstummen werden, weil sie unnötig geworden, dem schlurfenden Einerlei im Wege stehen, so gesehen in einem Maße unbeantwortet bleiben, weil alles sich selbst beantwortet hat und nichts noch nie besprochen worden ist, so dass der Eindruck entsteht, friedlich und gleitend und geregelt ist die Welt, und nichts kann anders sein als Heimat und nur das Fernsehen zeigt in den Abendnachrichten die Welt bombengrausam, im mittleren Osten, wo man keine Scherze macht, und auf dem Balkan schnell zum Messer greift, die müssen doch alle keine Sitten haben. Oder die des Parzival.
War da nicht einmal der Franz-Joseph Strauß aus der anderen Welt, dem der Wort schnitzelnde TV-Kommentator Karl-Eduard die Lust zu einem neuen Krieg unterjubelt, worüber du an jenem einen Abend, noch nicht Mann, nicht mehr Kind, vor dem Einschlafen im Bett heulst vor Angst, die gute, deine gute Welt zu verlieren, eine schlechte kennst du nicht, eben nur die mit den 50 Kilometern Durchmesser, aber am liebsten hast du eine mit zehn Kilometern, die ist mit dem Fahrrad abzufahren von einem Kornfeld bis zum Feldweg da hinten am nächsten Kilometer mit den Süßkirschen am Wegesrand, auf denen du, wie die Stare es tun, dich niederlässt, wenn du es schaffst herauf zu klettern, den kleinen Wanst zu sättigen bis zum Abendbrot, wo es Schmalzstullen und Harzer Käse gibt, Leberwurst liegt in harter Pelle und braune Bierwurst in dicken Scheiben und rosa salzige Metwurst auf dem grauen Mischbrot vom Bäcker an der Kirche, das du auf dem Weg von der Backstube bis nach Hause, bis zur Haustür, zweimal herunterfallen lässt auf die tausendfach begangenen Steine, am Milchladen vorbei über die Pflastersteine aus Schlacke, die hinter Hohnstädter seinem Laden kein Straßenkehrer mehr von Kuhfladen und Pferdeäpfeln reinigt, und Blutwurst gibt es, die isst die Mutter – nein, die hat der Vater sich und den unmündigen lebenden Teilen der Familie verboten – es geht auch so, wenn hin und wieder ein Teller mit Leinöl und Pellkartoffeln und Quark zur Erntezeit und am Wochenende Hackepeter, Salz und Pfeffer und Senf (Mostrich) den Ausgleich schaffen für das verbotene Stück fremden Blutes, das der HERR zu genießen verboten haben soll.
Da ist also der HERR wieder im Spiel. Warum macht er denn so etwas und woher weiß der Vater um dieses blutende Geheimnis? Die Tischplatte biegt sich nicht von den Gaben der täglichen Arbeit, die mit einem Gebet am Anfang, als es noch ging, und du noch daheim bleiben willst, andächtig beäugt, und gierig dann verschlungen werden, geschmatzt mit Tee verdünnt und genießbar im Schlund versinken, einen gesunden Schlaf zur Folge haben, in der Welt ist alles in Ordnung, und wiederkehrend sind ihre Verrichtungen, vom Pinkeln an die Hauswand bis zum abendlichen Abnehmen der Eier von den Nestern der Hühner. Und die Füße sind am Wochenende dran, mit Wasser gereinigt zu werden, da ist die Schüssel frei und das siedende Wasser kommt von der Herdplatte, dampft in das kalte, und die Füße werden wohlig rot vom heißen gesalzenen Wasser und der Kernseife. Morgen früh gibt es frische Strümpfe. Die Provinz, so wird dir klar, ist in dir verwachsen, unauslöschbar dein körperlicher und seelischer Teil, da kann Dresden auffahren nach Leibeskräften und dir andeuten, wonach du fahndest und dir aus Büchern erdichtet hast, es soll kein Gral mehr sein, es soll deine Seele erweitern. Und die erstrebte Bildung hungert in dir noch mit ihrem Verknüpfungsdrang zu einer Freiheit, weg von den Entscheidungen anderer über dich. Dort, dort irgendwo, liegt das unbekannte Terrain. Du willst selbst sein, das sagt sich so leicht, wie die Menschwerdung des Affen sich so leicht sagt, bloß ist der Affe nie Mensch geworden und du willst werden, wovon du nichts weißt aber davon redest und es öffentlich sagst und es umschreibst mit einer Phrase die gewaltig klingt und bei anderen Staunen erzeugt und bei manchem Zuhörer der Finger gleich an die Stirn geht, der will sich doch nicht selbst...
Nimm dir schwarzen Tee aus der Dose und brühe ihn auf. Zwei Teelöffel, leicht gehäuft auf einen halben Liter Wasser und lange ziehen lassen. Die Samoware aus der Sowjetunion sind in Mode gekommen, heißes Wasser auf den Sud, etwas Zucker je nach Gewohnheit, und dir wird es besser gehen. Tee kannst du dir leisten, armes Schwein von Student... In die Nacht hinein über den Büchern hocken und dösen, weil du nicht einschlafen willst, hundemüde aber nicht einschlafen. In den Schädel geht nichts rein, Bauzeichnungen anfertigen gerade noch, eine mathematische Gleichung auflösen schon nicht mehr. Das ist kein Heimspiel in Dresden.
Öffnend das Fenster
Erblicke ich
Sternenklar den Himmel.
Befreit aus dem Bücherwald
Sauge ich die Nacht.
Mein Atem flieht,
Protuberanzen gleich,
Sichtbar um meinen Schatten.
Du hast den schwarzen Tee getrunken aus dem neuen chinesischen Porzellan. Du hast dir als erstes Porzellan aus China gekauft, eine winzige Kanne und zwei winzige Tassen, verpackt in Papier und Pappe aus Deutschland-DDR. Du hast kein Geld in der Tasche, aber du kaufst Porzellan aus der eckigen Volksrepublik China. Der Kaufladen für Haushaltwaren liegt versteckt in einer Seitenstraße am Wasaplatz in Dresden. Reißzeug wäre für dich wichtiger gewesen. Und das Lehrbuch für Mathematik.
Tee trinken!... dümmlich verkleisterndes Markenzeichen des Studentendaseins, wortreich geboren an den Zäunen der Schrebergärten, im letzten Sommer beim Ernten der Stachelbeeren. Die Nachgeburt der Träume ausgekotzt, samstags, in die Gosse geworfen, in die Straßengräben, die Jauchegruben, den Rest abgepinkelt in dem stinkenden Pissoir des Kulturhauses auf dem städtischen Anger. Die Kumpels brachten ihre Weiber bis vors Haus... Die schafften das. Einer hat mit einer in der Garage gevögelt und den Motor laufen lassen. Er ist verröchelt, ist jetzt ein toter Schwanz.
Wo es doch so schön war für einen Moment.
Den kann man nicht benennen.
Die Garage ist nebenan gelegen, keiner hört die Geräusche.
Was schreiben die dem auf den Grabstein?
Hätte er Tee getrunken, schwarzen Tee, aus einer eckigen chinesischen Kanne, aus der eckigen Volksrepublik China, lebte er noch.
Tee ist nichts für die Kumpels des Bergbaus und der Baustellen.
Bier ist gut.
Und Schachtschnaps.
Das Etikett (Originaltext) klebt auf einer Seite der Flasche:
Steuerfreier
T r i n k b r a n n t w e i n
32 Vol.-%
Weiterverkauf durch den Verbraucher
nicht gestattet
Abgabe an den Verbraucher ohne Flasche
durch