Ulrich Hermann Trolle

Die Villa in der Oskarstraße


Скачать книгу

wir gehen morgen baden... Ferienlager.

      Was anderes ist auch vorstellbar.

      Sind also nun zwei gegenüber, sind sich gegenüber, sitzen nun zwei unbeholfen. Jeder in Erwartung. Ihre Worte kommen nicht, die lösenden Worte. Soll ich anfangen oder sie?

      Freundlich sein, Allerweltszeug plappern, über andere reden, prahlen und: „Hast du das schon mal gehört“. Wichtig tun.

      Geschmeidig schnell geschürzte Lippen.

      Ich will nichts von ihr.

      Nach innen gedacht: Wenn ich lache, denkt sie: ihm gefalle ich.

      Denke ich aber: sie gefällt mir nur an einer Stelle.

      Nach innen denken ist immer Sauerei.

      Charme?

      Dein Kleid, Brigitte, welch schöne Form dem Busen es geschenkt, köstlich wie die Morgenröte. Gehen wir gemeinsam zur Uni?

      Mit dem englischen Charme, dem tragödischen, vom Hofe Richards, des Herzogs von Gloster, der Missgestalt: „Eu’r Reiz, der heim mich sucht’ in meinem Schlaf, (...) den Tod zu unternehmen für eine Stund an eurem Busen.“

      Und denkt: „Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajestät will sie haben, doch nicht lang behalten. (...) Sie find’t, ich sei ein wunderhübscher Mann. Ich will auf einen Spiegel was verwenden, und ein paar Dutzend Schneider unterhalten...“ London. Shakespeare, Richard III. Hat Schlegel übersetzt.

      Und der Richard Third setzt nach: „...Hunde bellen, hink’ ich vorbei.“

      Ein kaiserlich, untertänig, monarchisch fühlender tut’s vielleicht zackig, Brust raus unterm Korsett, und auch recht patriotisch deutsch, Hände vors Geschlecht, nein, an den Degen und an die Naht: Gestatten Vortritt zu... gnä...Fräulein, wohl allein hier in der Mitropa?

      Mitropa zu Kaisers Zeiten?

      Und vielleicht noch den Nietzsche in petto zum Zitieren. Gut jetzt! Lass es sein, Du Prahlhans eines Unterprimaners.

      Tatsächlich denke ich: Augen, Hautfarbe, Brüste, Hüfte...

      Tatsächlich denkt Sie: Frisur, Pickel, Bizeps, Sprache...

      Der wollene Rock dräut ihren Leib.

      Blitzschnell fällt mein Auge wieder in die Mitte.

      Sie lächelt.

      Ich werde mürrisch.

      Wie immer, zuerst visuelle Auswahl der Signale. Es genügt ein trügerischer Code, und die Ehe dann – eventuell – geht flöten. Flöten, streiten, heulen, versöhnen, Schwanz rein, Schwanz raus, Kinder, schreien, trösten, Taschentücher...

      Brigitte ist mal laut geworden, hat ihr Mundwerk voll genommen vor den anderen. Stark. Aufrecht. Plötzlich ist sie aufgestanden in der Seminargruppe und hat gefightet. Unheimlich.

      Wie eine Mutter mit drei Kindern beim Ausgießen der Abwaschschüssel. Brigitte, spitzer Tonfall, Dialekt oberhalb der Indifferenzlage.

      Sicher Spannung den ganzen Tag dort unter Thüringens Dächern.

      Ute ist die erste gewesen.

      Nichts. Einfach nichts, Knutschen, unkörperlich.

      Leiser, sanfter Griff. Nach dem Saufen in der Lagerbaracke.

      Bin nicht rangekommen. Sie wollte Gewissheiten, ich Konkretheiten.

      Wollte mich über sie legen auf der Bank neben der Dorfkirche von Korbetha. Ein bisschen wippen. Benebelt von den süßlichen Staubdämpfen aus den brodelnden Buna-Kesseln.

      Wiedersehen mit ihr vielleicht heute, während der Anmeldung im Sekretariat oder morgen in irgendeiner Bankreihe, vielleicht Reihe 7 im Hörsaal 213, oder im Seminarraum xyz.

      Vielleicht noch einen Versuch wagen. Wie mir ist.

      Will ich, will ich nicht, will ich, will ich nicht?

      Vorher Hände waschen...

      In der Wartehalle hängen versoffene Leute ab.

      Nachtschlaf im Stuhlbett der Mitropa des Dresdner Hauptbahnhofs.

      Frühes Kaffeeschlürfen und schales Bier in schmutzigen Gläsern.

      Zigarettenqualm verstopft die Luft zwischen den Tischen und vollen Aschenbechern. Eigentlich ist es noch Nacht, oder doch schon früh, fünf Uhr früh.

      Jetzt habe ich Sodbrennen vom dem Gesöff.

      Brigitte sagt nach einer Weile, es ist acht Uhr: „Ich gehe mal los.“

      Ich sage: „Ich bleibe noch.“

      Ich bleibe sitzen, schaue auf mein Papier, voll geschrieben seit vier Uhr in der Mitropa. Was will ich machen mit soviel Zeit.

      Schnell noch die Zeilen überfliegen:

      „Der Alte vom Bahnhof, Februar 1966

      Ich schien im Wartesaal aufzufallen.

      Die Fahrt mit dem Zug war lang und unbequem gewesen, dazu noch während der Nacht. Der Termin war erst um zehn Uhr vormittags und um drei Uhr Dreißig, früh, stand ich bereits auf dem Zielbahnhof. Es ist nichts, wenn man in der stillen Provinz wohnt. Also ging ich rein in die Expreß-Mitropa. Ich gaffte die Leute an. Die gafften zurück, aßen, tranken und gafften. Einige schliefen, und wenn sie munter wurden und aufschauten, war ihr Gesicht wie zerknülltes Butterbrotpapier. Die Zeit wurde mehr und mehr langweilig.

      Ein Alter kam an meinen Tisch und setzte sich unaufgefordert zu mir. Der will sich unterhalten, dachte ich. Der will mich unterhalten. Er redete von früheren Zeiten und wie er vor Stalingrad lag bei ungeheurem Frost, dass der Tee in der Thermosflasche gefror. Der Alte bekam ein rotes Gesicht, wurde aufgebracht, redete sich Rage, seine Stimme überschlug sich. Er überlegte nicht beim Reden, er entleerte die Speicher seiner Vergangenheit. Seine Frau war tot. Sie kam als Lebende nicht mit ihm in die Mitropa. Er wollte unvergessene alte Freunde zu treffen, frühere Kameraden. Sie wollte keinen treffen. Er traf auch niemals einen. Er hielt in seiner linken Hand ein leeres Glas. Am Rand klebte angetrockneter Bierschaum...“

      Und so weiter.

      Auf A5 (das ist jetzt Tagebuchformat), mit schwarzem Kugelschreiber und in der Vergangenheitsform. Weglegen und irgendwann weiter schreiben.

      Und ich will mich fühlen wie ein Schriftsteller, kein Briefeschreiber. Ich bin ein Weltverbesserer, ein Unabhängiger, ein freier Mensch. Ich bin ein bar der Strümpfe Laufender.

      Was will ich dann hier?

      Schreiben geht nicht im Hörsaal, wenn mathematische Fourierreihen an der Tafel entwickelt werden. Schreiben geht in einer warmen verrauchten Kneipe, in einem ruhigen Zimmer, an einem alten Tisch mit einer alten Lampe, Leistung 40 Watt, eine Seite täglich, ein halbe tut’s auch, manchmal nur ein einziger Satz, mehr ist nicht drin und ist der Einsamkeit abträglich.

      Der Walter Ulbricht zitiert den Walter Jens in der NDL:

      „Alles ist in Fluß, und der Schriftsteller tut gut daran, nicht vorschnell nach neuen Bindungen zu suchen, sondern die Isolation, in die er sich gedrängt sieht, zu tragen und die Einsamkeit nicht zu verachten - eine Einsamkeit, die um so größer ist, als er sich in der einmal gegeben Lage weder als ein Sprecher einer Klasse noch als Repräsentant der Nation fühlen kann (...) der deutsche Schriftsteller unserer Tage (...) ein dreifach einsamer Mann.“

      (Walter Ulbricht, Rede auf dem 11. Plenum des ZK der SED, Dezember 1965)

      Wer hat denn das nur dem Ulbricht ins Redemanuskript geschrieben?

      Der Schreiber kriegt ein Parteiverfahren und wird aus der Partei ausgeschlossen. Einsamkeit und Sozialismus schließen sich auch aus.

      Die Einsamkeit kennt keinen Sozialismus. Der Sozialismus verträgt keine Einsamkeiten, er will Kollektivitäten

      Die Einsamkeitsvorstellung des einen Walter, zitiert durch den anderen Walter, verhöhnt die hiesigen