dir der Zweifel Haus bei Haus, das schlägt der Seele bitter aus... Der Zweifel ist des Wankelmuts Geselle...“.
(Parzival-Prolog, Fassung W. Mohr)
(Oha, Zweifel an dir selbst...?)
Ich will korrekt sein und bleiben und den Verführungen widerstehen, die die Jahrzehnte meinem Gedächtnis aufgebürdet haben: Wandlungen, Verfärbungen, Erinnerungslücken, Fremdeinwirkung, Gefühle, Erlebnisse, Täuschungen, Geheimnisse, Versagen, Freude... Die Reihe der Bürden ist verlängerbar. Sie bedrücken und entschwinden und folgen keinem Regelmechanismus. (Sagt der Methodiker und der Analytiker zugleich)
Mein Kopf wird angegriffen von der eigenen negierenden Artillerie. Keine Chance. Was verursachte den Beschuss?
Vernetzungen werden zerstört in meinem Gedächtnis? Ich suche nach neuen Worten, von denen ich mir erhoffe, Vorgänge des Bewusstseins beschreiben zu können. Und ich will die Tatsachen und Erscheinungen der Vergangenheit verstehen, die dem Bewusstwerden vorausgingen, und in mir gegenwärtig werden. (Noch einmal materialistisch: Das Sein bestimmt das Bewusstsein...)
Und was werde ich machen mit den Trugbildern, den vielfachen Erzählungen über ein und dieselbe Sache, welche die eigene Erinnerung an das Tatsächliche zu verschütten drohen, wie Stille Post Legenden bilden und zu fröhlichen Kalauern werden. (Das geschieht bei dir nicht)
... Ende des Zitats.
Ende deiner waghalsigen, trotzigen, dummen, auf zwei Seiten laufgelisteten Motivationen und flotten Vorsätze eines unbedarften munteren Geistes. Nichts davon wird gelingen. Das geschriebene Wort ist näher an der Wahrheit...
Wer hat das gesagt? Du selber.
Denke es richtig zu Ende: Das geschriebene Wort ist nicht näher an der Wahrheit, es kann ihr näher sein. Das geschriebene Wort wird gern und zuerst als Wahrheit gesehen und verwendet, weil es beschreibt, was eine Wahrheit sein kann und im Fall eines Irrtums oder einer Lüge nur ungültig ist.
Gedanken sind auch wahr, nur eben nicht körperlich für alle fassbar und erst ihre Fixierung ins Geschriebene macht sie für alle erkennbar. Schreibst du Gedanken auf... gelingt es dir, die richtigen Worte zu finden, den Unterschied zu minimieren, der Wahrheit nahe zu kommen...? Eine Annäherung erreichst du im Unendlichen. Asymptotisch.
Kein Ende im Kopf.
Einmal ansprechen, abwarten, formulieren, die ursprünglichen Bilder festhalten. Die innere psychische Instanz fordert ihre Erledigung.
Und dann war alles gar nicht so gewesen, war doch anders und kommt nicht mehr zurück. Kann nicht zurück gerufen werden, um neu, genauer, deutlicher, richtiger, echter, wahrhafter zu werden.
Wer an das Gedächtnis greift, erlebt die Enttäuschung. Der muss die Entzauberung hinnehmen und fühlen, wie das Ursprüngliche zerstiebt.
Das Einst degeneriert, friert ein, säuft ab, kriegt schlechte Leberwerte.
Der aber liest auf beschriebenen Blättern den neuen Zauber. Schwarze figürliche Krakel, Buchstaben, Codizes. Und ungetrocknete farbenfrische Bilder in den Metaphern der neuen Moden, neuen Übersetzungen. Das Erinnerte durchfährt die zeitgeistige Willkür, durchkämmt die gemeißelten Gedanken und nimmt neue Macht über die Seeleninstanzen.
Feindselig, prunkend?
Welch kalter Abstand. Das weißt du doch!
Er nicht. Die Fremden nicht.
Aber nichts sagen, nichts hergeben, nicht lachen, nicht frohlocken, nicht hecheln, nicht schämen, nicht nicken? Scheiß auf die Wahrheit.
Schweigend könnte Geschichte anders entstehen.
Geschichten.
Das Gedächtnis behält alles für sich, bis es verstummt.
Vor deiner Amnesie musst du zum Melken bereit sein.
Eitler Kerl, gib’s endlich her, bevor es verstaubt.
Hast du den Verstand schon verloren?
Das Gedächtnis ist ein persönlicher und ein schöner Zustand, ohne Öffentlichkeit, solange nichts gesagt wird und nur nach Innen erinnert wird. Es ist ein geiziger Zustand, du bist ein schamloser Geheimnisträger, du bist ein uninteressanter Zeitgenosse, ein Spötter, ein Verspotteter, ein verriegeltes Arsenal. Auch ein Arsenal falscher Bilder...
Doch wenn alle so, wäre die ganze Welt schweigend.
Wo wir doch den Mund haben, die Schrift können.
Versuchen willst du es vor deiner Verbrennung.
Zwei Seelen wohnen, ach...
...und nun wird gejammert: Das Gedächtnis verliert, die schönen Farben erblinden, aus Groß wird Klein, aus Wahr wird Unwahr, es war nicht, hieß soundso, geschah früher, sondern dort, hier, woanders, falsch, verzerrt, verschweigen.
Der abgeblasste Zauber?
Was ist damit?
Ach ja, der Zauber. Er ist die Unvollkommenheit der Berichtsworte, eine Entweihung. Schöner reden erst macht’s möglich.
Dem Gedächtnis nicht wehtun? Doch wehtun.
Dem Gedächtnis die Einsamkeit nehmen. Die Phantasieverlorenheit beenden, Auferstanden aus Ruinen und den Hirnen zugewandt.
Entferne Schleier, entweihe Mythen, beseitigte Täuschungen, wage Störungen, defloriere unberührte Vergangenheiten. Einen Stent implantieren, einschieben von ganz unten!
Und es ist niemand, der dagegen spricht.
Der würde sich an die Stirn tippen und meinen: Der da hat einen Riss in der Birne.
Seit langem wabern solche Gedanken über dem Eingehausten im verwunschenen Land.
Es liegt weit, weit weg, ziemlich weit. Ein verschwundenes Land. Untergegangen. Nicht mehr auffindbar.
In der Mitropa bin ich
und ich bin nicht besoffen.
Und mit der vollen Tasche am Arm geht es erstmal nicht weiter. Nur bis zur Mitropa. Mit der Tasche bleibe ich erstmal hier sitzen.
Viel zu voll und viel zu schwer. Voll wie die Mitropa.
Muss für Wochen reichen: Wäsche, Tabellenbuch, Zirkelkasten, Essbesteck, schmaler Gedichtband von Johannes Bobrowski aus Berlin-Friedrichshagen, Schattenland Ströme: „Rufe“.
Da war er schon gestorben:
Er: Über dem breiten Hang-
der Wiese, den Zäunen, über
den Pfählen- ich war der Wind
und unablässige Rede
Ich: Drunten des Baches, war ich
sprachlos und trank
Himmel aus, seine Bläue,
allabendlich der Flügel Gesang.
Vom Bahnsteig her gibt es nur eine Tür in die Mitropa, doppelflüglig. Sind es doch zwei und ich sehe die andere Tür nicht...
Brigitte kommt herein.
Brigitte, aus Erfurt. Pralle Schenkel, dichtes, leicht rötliches Haar, erinnert an einen Bubikopf mit Sommersprossen... wo hat sie noch Sommersprossen? Sie setzt sich ein paar Tische weiter, sieht mich nicht. Ich will jetzt auch lieber schreiben, will lieber für mich sein. Sie muss auch den Nachtzug genommen haben, den aus der anderen Richtung. Sie sieht mich jetzt, jetzt kommt sie rüber.
Kleine Reisetasche.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Brigitte.“
„Du schreibst wohl?“ fragt sie und: „Jetzt so früh schon, ein Brief nach Hause?“
...Welche Worte sie wählt. Wenn einer schreibt, denken alle, da schreibt einer einen Brief nach