T.F. Carter

Lysistratos oder Der Traum von Freiheit


Скачать книгу

aber er fühlte, dass es nicht grob gemeint war. Amalthea war nicht Doppelstern.

      Chalice war bereits nach Draußen geklettert, Xenia ebenfalls, und Lysistratos wollte ihnen schon folgen, als er noch einmal zu Amalthea schaute.

      „Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, Große Königin, aber ich bin sicher, dass Ihr eine wirklich richtig Große Königin werdet.“

      „Haha“, machte die Angesprochene, „noch bin ich eine ziemlich kleine Königin mit ein paar Eiern in den Waben.“

      „Ich meine es ehrlich. Königin Amalthea. Ich danke Euch.“

      Die junge Königin verharrte für einen Moment, trat dann an den Drohn heran: „Ich weiß noch nicht, warum, aber irgendwie danke ich auch dir. Du hast merkwürdige Gedanken aufgebracht, mit denen ich noch nichts anfangen kann, doch ich verspreche dir, ich werde darüber nachdenken. Und…“ – sie hob ihre Fühler – „… ich werde es nicht zulassen, dass man in meinem Volk die Drohnen schubst.“

      Der Flug dauerte nur wenige Minuten, aber Lysistratos sah kaum, wohin er flog, obwohl seine Augen blendend, sogar besser als die der jungen Königin und der alten Arbeiterin an seiner Seite waren. Nur mit Mühe vermieden die drei Kollisionen mit Zweigen und Ästen vor ihnen, erreichten schließlich einen Baum mit einem kleinen Loch. Dahinter, ähnlich wie bei Amaltheas Stock, befand sich eine große Höhle, in der ein Bienenvolk genügend Platz zum Leben haben würde.

      „Mein Zuhause“, sagte Xenia und wies mit den Fühlern in verschiedene Richtungen. „Dorthin kommen die Waben für die Arbeiterinnen, dorthin die Waben für die Großen Töchter. Hier werden später die Drohnen aufgezogen, und da verstauen wir die Nahrungsvorräte…“

      „Das ist gut, Königin“, sagte Chalice und verneigte sich. „Ich weiß, es ist ungewöhnlich, und so etwas gab es noch nie, aber dürfte ich Euch dienen?“

      Lysistratos sah, wie Xenia erstarrte. So ein Wunsch war offenbar noch nie vorgekommen.

      „Nun“, machte die junge Königin, „dies ist die Große Helligkeit der neuen Ideen, wie mir scheint. Chalice, du bist mir immer willkommen.“

      Erneut verneigte sich Chalice, bezog dann einen Platz am Flugloch und schlief kurz danach ein.

      „Und ich?“ flüsterte Lysistratos, „was wird aus mir?“

      „Hast du etwas gegessen?“

      „Ja, Amalthea hat mir etwas gegeben.“

      „Das ist gut, denn ich habe derzeit nichts außer meine eigenen Reserven. Und die brauche ich, wenn ich meine erste Brut beaufsichtige. Wir Königinnen müssen dann nichts essen.“

      Lysistratos verstand. Er würde nicht überleben können, wenn er hier bliebe. Doch wohin sollte er?

      „Vielleicht kann Chalice dir etwas besorgen, aber die Situation ist ungewöhnlich. Ich weiß nicht, was zu tun ist, Lysistratos.“

      „Ich weiß das auch nicht.“

      „Du hast von dem Bürgerkrieg gehört?“

      Er nickte.

      „Ähnliches wird aus anderen Völkern vermeldet. Viele Drohnen sind gestorben, aber du hast etwas ausgelöst. Ein Denken der Bienen über das, was eine Biene eigentlich ausmacht.“

      „Ich wollte nicht, dass jemand stirbt. Genau das wollte ich ja verhindern.“

      „Ich weiß. Doch du hast Dinge in Gang gesetzt…“

      „Hätte ich lieber nichts sagen sollen?“

      Xenia krabbelte zu ihm und strich ihm mit ihren Fühlern über die seinen, so dass sein Herz schneller schlug: „Dann wärst du jetzt tot, Lysistratos. Vermutlich hätte Amalthea nun deinen Samen, und du würdest in ihrem Volk weiterleben. Aber wir könnten uns nicht über das hier alles austauschen.“

      „Ja“, erwiderte Lysistratos nachdenklich. „Nur, wenn ich in einem Volk weiterlebe, habe ich selbst nichts davon.“

      „Die Königin hat auch keine leichte Aufgabe, mein Lieber. Wenn wir nicht genügend Eier produzieren, ist das Volk nicht gesund.“

      „Aber Ihr lebt…“

      „Und Arbeiterinnen können zwar keine weiblichen Nachkommen bekommen, doch sie genießen den gemeinschaftlichen Schutz des Volkes.“

      „Und sie leben…“

      Xenia nahm seine Fühler in die ihren: „Ich habe keine Idee, was ich aus alledem machen soll.“

      „Ich auch nicht.“

      ---------

      Mehrere Große Dunkelheiten waren vergangen. Xenia und Lysistratos hatten sich über viele Dinge unterhalten, und Chalice hatte sich als treue Freundin erwiesen, die den Drohn stets mit Futter versorgte. Sie hatten auch Amalthea besucht, deren erste Larven nun geschlüpft waren, und bald würde sie junge kräftige Arbeiterinnen an ihrer Seite haben.

      Xenia und Lysistratos hatten über das Leben und über die Gerechtigkeit gesprochen, über den Platz, den jeder einzelne in der Natur einnehmen muss, ohne dass er es wirklich wählen kann. Und über die scheinbare Unveränderlichkeit mancher Gesetzmäßigkeiten.

      „Amalthea wird etwas ändern“, sagte so Xenia während einer Großen Helligkeit. „Sie wird die Drohnen gut behandeln. Und sie wird ihnen erklären, dass sie zwar sterben müssen, doch sie werden geehrt werden.“

      Wie es Antlove, die kleine Ameise erzählte, dachte Lysistratos. Ist das aber den Tod wert? Die Anerkennung? Immerhin, es war ein Schritt…

      „Meine Schwester weiß nicht, ob es funktionieren wird. Sie ist aber willens, das Risiko einzugehen. Sie möchte gesunde, starke Große Töchter und gesunde, starke Drohnen haben.“

      „Und Ihr?“ fragte Chalice, die still neben den beiden saß. „Was werdet Ihr tun, Königin ohne Volk?“

      Lysistratos sah den Schmerz in Xenias Gesicht. Längst wusste er, dass die junge Königin durch die Suche nach ihm die noch vereinigungswilligen Drohnen verpasst hatte. Und nun gab es keine Drohnen mehr. Chalice hatte sich erkundigt. Alle Drohnen waren inzwischen gestorben, entweder durch die Vereinigung mit einer Königin, im Kampf oder aber, weil sie verhungert waren. War sein Bemühen vollkommen umsonst gewesen? Immerhin, Amalthea…

      „Was soll ich tun, Chalice?“ seufzte Xenia. „Ich habe es verpasst.“

      „Das tut mir leid“, schluckte Lysistratos.

      „Zum tausendsten Mal, das muss…“

      „Schon gut…“

      „Königin“, nahm Chalice den Faden auf, „ich weiß, dass Ihr alleine überwintern könnt. Königinnen können das. Vielleicht seid Ihr sogar noch fruchtbar nach der nächsten Großen Kälte, und wenn neue Drohnen aus anderen Völkern kommen, vielleicht sogar Drohnen von Königin Amalthea, dann…“

      „Ach, Chalice“, flüsterte Xenia, „was wäre ich nur ohne dich.“

      Lysistratos sah die Trauer im Gesicht seiner… seiner… seiner, ja, was eigentlich? Seiner Königin? Seiner Vertrauten, seiner Freundin? Er fühlte sich bemüßigt zu sagen: „Und was wäre ich ohne euch?“

      „Tot“, gab Chalice knapp zurück. „Wir füttern dich halt durch, weil du so frech bist.“

      Xenias Fühler zitterten kurz vor Erheiterung und fielen dann wieder nach unten.

      ---------

      Lysistratos fühlte sich schwach, immer schwächer, und er hatte auch keinen wirklichen Appetit. Xenia und Chalice forderten ihn immer wieder auf, Nahrung zu sich zu nehmen, aber er konnte kaum schlucken. Dabei war er nicht einmal krank. Was war das nur?

      Er sah, wie seine beiden Begleiterinnen miteinander sprachen, bevor sie zu ihm kamen.

      „Lysistratos“, begann Xenia.