T.F. Carter

Lysistratos oder Der Traum von Freiheit


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nur mit Glück vielleicht eine Große Kälte überleben, eine gesunde Königin aber mehrere, so vermute ich, dass ein Drohn einfach eine noch kürzere Lebensspanne hat. Selbst wenn er sich nicht mit einer Königin vereinigt.“

      Lysistratos blickte zu Boden.

      „Es tut mir sehr leid“, flüsterte Xenia, und sie strich ihm zärtlich über die Fühler, dann über die Flügel, und immer noch war da dieses prickelnde, schöne Gefühl.

      „Man kann der Natur nicht entkommen.“ sagte er schließlich.

      „Nein, aber man kann das Leben in ihr verändern“, antwortete Chalice.

      „Ich soll dich von Amalthea grüßen“, fügte Xenia hinzu. „Sie wird ihren Bau nie wieder verlassen, hat nun viele hundert Kinder. Ich hingegen, ich kann noch herumfliegen…“ Sie seufzte. „Auch das ist eine Entscheidung, die ich treffen konnte. Etwas, Lysistratos, was du angestoßen hast.“

      „Und hast du jetzt die Erkenntnis, dass man nichts ändern kann?“ fragte er erneut.

      „Wie Chalice schon sagte, man muss lernen, das Leben in den gebotenen Rahmenbedingungen zu verändern. Wie das aussehen kann, werden wir alle vielleicht niemals erfahren, aber wir können das, was wir selbst erlebt haben, an die nächste Generation weitergeben.“

      „Wenn da eine nächste Generation wäre…“, sagte Chalice sanft.

      „Zu schnelle Veränderungen führen zu Chaos und Tod.“

      „Aber sie sind ein erster Schritt. Vielleicht zu Besserem, vielleicht zu Schlechterem.“

      Xenia nickte bestätigend, bevor sie sagte: „Ich habe das Volk meiner Schwester Tardena gefunden. Sie hatte bereits über ihre Arbeiterinnen Kontakt zu Amaltheas Volk. Sie ist willens, Amaltheas Ideen, die Drohnen besser zu behandeln, zu übernehmen. Meine Schwester Doppelstern allerdings bedroht andere Völker mit Krieg, wenn sie nicht zu den alten Denkweisen zurückkehrten.“

      „Und was sagen Amalthea und Tardena dazu?“ erkundigte sich Lysistratos.

      „Doppelstern ist mächtig. Und sie hat sich mit unserer Mutter, die einigermaßen geheilt ist, verbündet. Die Schwarmzeit, die Zeit der Großen Flüge nach der nächsten Großen Kälte, sie wird von entscheidender Bedeutung der Zukunft unserer Völker sein. Ein Krieg steht bevor.“

      „Das…“, begann Lysistratos.

      „Das wolltest du nicht“, unterbrach ihn Chalice lächelnd.

      „Natürlich nicht!“

      „Du schaffst eine neue Gewohnheit: Das ständige Entschuldigen.“

      Xenia atmete tief ein: „Amalthea und Tardena sind der Auffassung, dass man neue Ideen verteidigen muss. Sie wissen noch nicht, was sie wert sind, aber sie lassen sich nicht von unserer Schwester und unserer Mutter erpressen.“ Langsam wandte sie sich ab, krabbelte zum Flugloch und blickte hinaus. „Wir wollen keinen Krieg, aber jedes Volk auf unserer Seite ist hilfreich.“

      „Gibt es noch mehr auf eurer… auf unserer Seite?“ fragte Lysistratos.

      „Die Zeit wird es zeigen. Noch ist das Gemetzel an den Drohnen zu sehr im Bewusstsein. Und diejenigen Königinnen, die mit uns sympathisieren, haben gleichzeitig Rubinrot vor Augen. Was geschehen kann, wenn Unordnung entsteht. Das möchte keine Königin. Auch Amalthea oder Tardena nicht. Zudem ist unklar, was deine, was unsere Ideen überhaupt bewirken… Wir haben zu wenig Zeit.“

      „Aber niemand lässt sich gerne erpressen“, fügte Chalice hinzu.

      „Ich werde es alles nicht erleben.“ Lysistratos sog schnaufend Luft durch seine Tracheen.

      „Aber du bist derjenige, der uns lehrt, dass man über das Dasein, über Regeln, nachdenken kann“, nickte ihm Xenia zu. „Das ist sehr viel wert. Erst so erkennt man, welche Regeln gut und welche schlecht sind.“

      „Und vielleicht finden wir irgendwann einen Weg, wie die Völker weiterleben können und gleichzeitig die Drohnen nicht sterben müssen?“

      Xenia schmunzelte traurig: „Du klingst wie Amalthea. Sie ist ganz begeistert von dir. Sie meint, sie hat so viele Ideen, sie weiß gar nicht, wie sie sie sortieren soll! Ideen über Miteinander, mehr Effizienz für das Volk, mehr Anerkennung. Sie wird jeder einzelnen Drohne einen Namen geben. Jede Biene wird einen Namen bei ihr bekommen.“

      „Das ist ein Anfang“, bestätigte Chalice.

      „Ein kleiner… Und vielleicht, ja, vielleicht überleben irgendwann auch die Drohnen. Wer weiß?“

      „Ein kleiner Schritt für uns, ein großer für die Bienenschaft…“

      „Bitte?“ erstaunt blickten Lysistratos und Xenia zu der alten Arbeiterin, die nur mit den Fühlern zuckte.

      „Ich weiß auch nicht, ist mir gerade so eingefallen.“

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      Eine weitere Große Dunkelheit war vorbeigezogen, und Lysistratos hatte einen Entschluss gefasst. Er wurde immer schwächer, doch noch fühlte er sich stark genug, noch einmal auf eine Reise zu gehen. Eine kurze Reise. Seine letzte Reise…

      Er krabbelte zu Xenia, die sich gerade mit Chalice unterhielt. Er mochte Xenia sehr. Ihre vielen langen Unterhaltungen während der Großen Helligkeiten hatten es ihm unmöglich gemacht, ihre körperliche Attraktivität wahrzunehmen. Sie war eine blühende Schönheit, wenn auch relativ klein. Sie war schlank und kräftig, mit langen, wunderschön gebogenen Beinen, glitzernden Augen, einem atemberaubenden Pelz. Und der verbogene Fühler… Lysistratos liebte diesen verbogenen Fühler!

      „Xenia…“

      Sie strich ihm zärtlich über seine Fühler.

      „Ich möchte noch einmal ausfliegen.“

      „Fühlst du dich…?“

      Lysistratos schluckte: „Ich meine das anders, meine Königin. Ich, ich werde sterben, aber ich glaube, ich kann meinem Leben noch einen ganz speziellen Sinn geben… Ich bin die letzte noch lebende Drohne.“

      Chalice klappten ihre Beißwerkzeuge auseinander, und Xenia wirkte wie vom Schlag getroffen: „Du… willst…?“

      „Ich möchte, dass du ein Volk gründen kannst.“

      „Das ist reichlich spät“, merkte Chalice an.

      „Ich kann nicht sicherstellen, dass das Volk in der Zeit vor der Großen Kälte überlebt. Dass deine, unsere Kinder…“, erwiderte Xenia.

      „Wenn jetzt nicht, werde ich nie Kinder haben“, unterbrach Lysistratos die junge Königin. „Und du wiederum weißt nicht, ob du im nächsten Jahr noch fruchtbar sein kannst, wenn du bei den Großen Flügen mitmachst und neue junge Königinnen kommen.“

      „Lysistratos, du machst jetzt genau das, was du gerade nicht wolltest.“

      Er nickte: „Ich tue das nicht, weil ich muss, Xenia. Ich tue es, weil ich es jetzt, in diesem Augenblick, möchte. Es ist meine Entscheidung. Meine eigene Entscheidung. Ich kann entscheiden, ob ich möchte oder nicht.“

      Wortlos nahm sie ihn in ihre Fühler und begann zu weinen.

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      Die letzte Große Dunkelheit hatten sie gemeinsam verbracht, eng aneinandergeschmiegt. Er hatte sie gestreichelt und sie ihn, und er genoss den Zauber, der von ihr ausging. Er fühlte sich noch einmal stark und kräftig, als ob er eine junge Drohne wäre.

      Und nun standen sie vor dem Flugloch. Xenia gab ihm eine letzte Umarmung und verließ den Bau. Chalice wischte sich eine Träne von den Facetten und wisperte: „Lysistratos, ich verspreche dir, ich werde deinen Kindern von dir berichten. Was eine Drohne kann.“

      „Ich weiß, Chalice, ich weiß.“

      Dann flog er los, hinauf in die Luft. Es war schwierig, und er fühlte, dass ihm nicht viel Zeit blieb, sich in der Luft