Hinrich Schroeder-Hohenwarth

MAUL VERNIMMT


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mal vormachen wollte, wie man einen Menschen richtig erleuchtet. Aber erst mal mußte ich noch Protokoll führen.

      Kaum saß Marlene, war das Zimmer auch schon randvoll mit dem Geruch von fünf Operndivas und mindestens drei Primadonnen. Die ganze Zeit hatte sie die Hand an ihrem achträdrigen Geländebuggy und schob ihn unablässig hin und her, daß die herumbaumelnden Plastiktüten laut raschelten und knisterten. Mich machte das wahnsinnig, aber Maul ließ sie reden und musterte den Plunder, der sich im Laufe der Zeit in der Karre angesammelt hatte. Maul dachte wohl, das Reden gibt sich. Vielleicht versuchte er auch, ihr nervtötendes Gelärme zu überstehen, indem er sich tot stellte. Denn wenn Marlene redete, dann redete sie so laut, daß niemand, wirklich niemand sie nicht hören könnte.

      Gleich zu Anfang kam Jordan, der Vertreter von Bannasch, ganz erschrocken rein. Der kümmert sich sowieso nur um unsere Arbeit, wenn sie ihn stört. Also tippte er sich an die Stirn und verschwand sofort wieder. Wenig später brachte dann auch noch Kollege Holtz einen Zettel: 'IDIOT! ' stand drauf. Wirklich: mit Marlene in der Nähe war an Arbeit nicht mehr zu denken. Das wußte Maul doch, aber wahrscheinlich hatte er ja von Anfang an was ganz anderes mit ihr vor.

      "Kopulation statt Kompromiß" keifte sie los. "Hören Sie? Marlene hat der Dame nur gesagt: Kopulation statt Kompromiß! Was für ein Schwachsinn, fremder Leute Kinder zu hüten, statt selbst welche zu kriegen. Marlene würde sofort noch mal, wenn sie nicht schon eines gehabt hätte. Sofort. Anstatt sich als Kinderputzer zu verkaufen, an wildfremde Frauen. Marlene putzt nur ihren eigenen Hintern, außer früher natürlich, den von ihrer Maria. Natürlich, Freundchen. Also: Keine Kompromisse. Hör zu! Sie meinte, 'Kompromiß ist Koproschiß"'.

      Marlene redet von sich immer wie von einer anderen Person. Das hatte Maul mir schon beim ersten Mal gesagt. Jetzt wollte Maul wissen, was die Tagesmutter an Marlenes Aufforderung zur Kopulation denn so aufgeregt hätte. Aber die Frage kam ziemlich ungeschickt, so daß Marlene anhaltend wie ein Esel in ihr Rauchergelächter ausbrach, überhaupt nicht aufhören wollte, dann plötzlich aufstand und: "Doppelverlierer" rief. "Sie Doppelverlierer, Sie", mit einer vernichtenden Handbewegung dazu. "Natürlich denken Sie nur an Tennis, Sie Traumbell! Man sieht es an Ihren Augen. Aber alles Quatsch, Sie Polizei, Sie! Keine Ahnung von Verbrechen, aber einfangen. Jeder normale Mensch macht seine Erfahrungen und wendet sie auch an. Aber Ihr wollt ja sauber bleiben. Also seid Ihr die Dummen. Bis viertel nach acht, dann ist endlich Euer Tatort. Muß doll sein, jede Nacht mal richtig auf Mord zu gehen, - natürlich nur mit den Augen. Ein Bulle, der Krimis sieht, das ist doch wie ein Wichser vorm Spiegel. Also sagt sie ‚Doppelverlierer!’ Die Penner seid Ihr. Ihr seid die Penner."

      "Du hast wieder die Tauben gefüttert, Marlene, auf dem Spielplatz." "Was geht es Euch an?" "Wo die Kinder am Boden rumkrabbeln und in die Taubenschisse fassen." "So?" "War es so?" "Woher soll sie das wissen, kann sein, kann nicht sein. Haben Sie denn noch nie Tauben gefüttert?" "Vielleicht, aber nicht auf dem Spielplatz." "Sie hat recht! Sie haben eben keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung, was das für ein Spielchen ist. Aber uns Vorschriften machen, abfischen, einseifen, wegschließen, das könnt Ihr. Mensch, Maul, merkst Du denn nicht, daß Du überhaupt keinen Aufschlag hast?" "Was soll das heißen: Aufschlag?" "Na Aufschlag eben, das Spiel machen, gib mir mal 'ne Zigarette rüber. Keinen einzigen hast Du. Rennst nur rum und belästigst alte Frauen." "Marlene, Du weißt doch genau, weshalb Du hier bist." "Marlene weiß alles genau, Herr Maul. Sie sind der Doppelverlierer, und Marlene ist zum Tode verurteilt."

      So ungefähr ging das Gespräch. Es war ganz und gar unmöglich, mit Marlene eine normale Vernehmung zu machen. Man kam einfach nicht an sie ran. Ich meine, für sich war sie nie da, wo sie für uns war. Ich notierte mir trotzdem ein paar Stichworte, für den Fall, daß es kritisch werden sollte. Aber Maul gab mir auch kein Zeichen zum Mitschreiben, sondern lehnte sich jetzt mit einem Seufzer wieder zurück, als hätte er sich an einen früheren Vorsatz erinnert und ließ sie reden. Wenn sie nicht gerade an der Zigarette zog oder mit der Umschichtung ihrer Habe beschäftigt war oder den weißen Schal über die Schulter zog oder den Buggy umdrehte oder ans Fenster ging oder, oder, oder... Mir wurde nicht klar, worauf Maul hinauswollte.

      "Warum fütterst Du die Tauben, Marlene?", fragte er ganz freundlich. Sofort schrie sie los: "Unrat, Walrat, Polizeirat!" sie fuchtelte mit der brennenden Zigarette vor seinem Gesicht herum. "Sie ist von Idioten umgeben. Sie hören nicht, was man sagt. Sie sagt: Walrat, Lampenöl, Erleuchtung. Hört sie denn keiner?" Sie wurde noch lauter, sprang in die Höhe. "Und da fragen Sie, warum sie die Tauben füttert, die Tauben, hören Sie, die Tauben? Man muß sie mit lauteren Worten füttern, damit sie genießbar werden. Aber sie wollen nicht hören, also muß man brüllen, bis man heiser ist."

      Sie rannte zur Tür und trommelte mit den Fäusten dagegen. "Auch die Tauben brauchen doch Wörter, sonst denken sie nicht, Herr Maul. Aber man kommt so schwer in ihre kleinen Ohren, und dann machen sie lauter Unsinn aus dem, was man ihnen gesagt hat. Laufen einfach fort. Auch Nachrufe nutzen dann nichts. Also muß man sie wieder anfüttern. Marlene nimmt nur die besten Wörter, reine Wörter, kontrollierte Wörter. Die sollen sie fressen. Und dann wollen wir mal sehen, ob sie genießbar sind, die Tauben. Und da kommen Sie und wollen ihr das Rufen und Füttern verbieten, nur weil die armen sich gern an Spielplätzen versammeln. Und dann nimmt man Marlene mit, und sie muß die Tauben allein lassen, nur damit Sie fragen können, weshalb Marlene die Tauben füttert!"

      Sie war rot angelaufen, zitterte und rang nach Luft. Dann stieß sie sich von der Tür ab und ging auf Maul los, so daß ich in meinem Schrecken nach Holtz und Frau Stödter rief. Aber Maul blieb sitzen, fing die dürren Arme von Marlene ab, wie ein widerspenstiges Geäst, und sagte zu den beiden Kollegen, als die Tür hastig aufging: "Okay, okay! Unsere Kleine muß sich noch ein bißchen beherrschen lernen. Alles in Ordnung, wirklich!"

      Ich kriegte natürlich einen roten Kopf, und Marlene sagte: "Sie machen mir Spaß, Mädchen, haben Sie was gehört?" Ich nickte, und Marlene sah mich auf einmal richtig lieb an. Da platzten die beiden an der Tür los, daß es im Flur gellte und machten schnell wieder zu, damit man es nicht so laut hörte und sah, glaube ich.

      "Wer lacht, hört erst recht nichts", sagte Marlene. Es war klar, daß an normales Arbeiten nicht zu denken war, so lange Maul sich mit ihr befaßte. Jetzt stand sie vor ihm, Pullover und Wollrock schlotterten, als sie heftig nach einer neuen Zigarette winkte. Auf dem weißen Schal lag ihr verschwitztes, bleiches Haar. Mit dem weiten Mantel hatte sie noch stark und sicher gewirkt. Jetzt sah ich aber, daß sie ein Klappergestell war und ein Ziegengesicht hatte, knochig, mit harten Kaumuskeln und schlaffen Falten den Hals herunter.

      Sie setzte sich wieder und beugte sich vor. Maul gab ihr Feuer. Sie paffte, hielt die Zigarette zwischen ihrem knotigen Mittelfinger und dem Ringfinger. Ich sah die rissigen Schwielen auf den Fingergelenken.

      "Schnöbe das Pferd oder böge und ginge der Atem ihm vom Maul, und feldwärts läge der Reif auf Fell und Schweif, dann wüßten wir: 'Winter' und salbten die Ski oder feilten die schnittigen Kufen der eisernen Gleiter." Sie sah zu mir herüber. "Man muß reden, meine Liebe, reden ersetzt dem Einsamen die Erfahrung, und woher weiß man schon als Einsamer, was eine richtige Erfahrung ist? Mit Reden ist man immer in Sicherheit, darauf kommt es an. Wenn Marlene nicht reden würde, dann wäre sie ein Sicherheitsrisiko, und Ihr wüßtet gar nicht, was Ihr tun könntet oder sagen oder machen. Einmal, früher, war sie sehr traurig, meine Kleine, da hat sie das Reden verschlafen, das war sehr gefährlich. Aber Marlene hat es überstanden, weißt Du, sie hat ihr selbstgebautes Sicherheitssystem angeschlossen, so ein wörterbetriebenes Satzkraftwerk, in dem sie sich ablebt, bis sie zu müde ist für die Angst. Verstehst Du? Der Arzt damals hat gesagt, sie soll mit dem Autistengequatsche endlich aufhören, weil sie doch gar nicht eingesperrt ist in diesem Innerweltskasten. Aber das war einer von den Leuten, die jeden Tag leben. Marlene nicht. Sie ist ein inniger Schiffbruch. Sieht der Seife an, wie sie nach Frömmigkeit schreit, und den Ästen, da vor Euerm Fenster, wie sie telefonischen Kontakt mit den Laternen aufnehmen. Ihr habt es denen doch vorgemacht. Sie haben es Euch abgeschaut. Aber Ihr hört einfach nicht zu."

      Sie drückte die Zigarette aus. "Mit Euch zu reden, ist wie das Absenden unzustellbarer Briefe. Marlene weiß, sie redet zu Tauben, aber sie füttert Euch. Jeden Tag wirft sie Euch jede Menge pralle Wörter hin, und wir bleiben am Leben. Obwohl: Vielleicht braucht Ihr ganz was Anderes.