Ihr ein tosendes Lächeln."
Weil es wohl leise geworden war, hatte Bannasch's Vertreter angenommen, daß Marlene endlich weg war und kam mit fürsorglicher Chefmine ins Zimmer. Kaum sah sie sich aber nach ihm um, ging es sofort los, wie am Anfang: "Sie Stummfilmplakat, Sie! Was stören sie uns hier beim Füttern? Sehen Sie zu, daß sie an Ihren Galgen kommen, den dreischläfrigen, damit sie Marlene auch kriegen, den Kopf und die Hüften und besonders die Beine!" Er machte eine völlig verwirrte Handbewegung: "Schreien sie doch nicht so laut." "Soll sie vielleicht leise schreien? Außerdem schreit sie überhaupt nicht, sie wirft nur weit. Sie wollen ja die Tauben nicht in der Nähe haben. Man darf nicht einmal mehr auf dem Spielplatz die Tauben füttern. Was kann sie dafür, daß Ihr Euch Eure Schreisieger selbst züchtet. So hundertfünfzehn Dezibel schreit sie bestimmt, damit sie genug kriegen, die Tauben."
Der Mann war schon erledigt, als Marlene sich mit Verachtung an Maul wandte. "Es geht auf zwölf", rief sie, "Marlene hat Hunger." Darauf schien Maul gewartet zu haben: "Wir können zum Bäcker gehen, drüben, im Stehen was essen." "Wir? Was meinen sie mit wir?" Maul sah zu mir herüber, ich nickte. "Nun, wir gehen eben rüber und essen 'ne Kleinigkeit zusammen. Sie, Frau Judatz und ich." Sie nickte und ging sofort zu dem Haken, an dem ihr Mantel hing. Maul half ihr, ganz Gentleman. Dann packte Marlene ihren Geländebuggy und rief: "Also! Wir gehen zum Bäcker!". Maul sagte nichts, ich ließ Stift und Protokollbogen liegen und nahm meine Jacke. Mir war schon hier drinnen kalt, und auch in der Sonne konnte es Anfang Mai draußen noch überraschend kalten Wind geben. Ich konnte mich nicht erinnern, daß Maul jemals in Begleitung einer aufgegriffenen Person Mittagspause gemacht hatte. Ich war auf alles gefaßt, was mit Marlene zusammenhing und die Dienstvorschriften außer Kraft setzte. Umgekehrt war Bannasch's Vertreter wahrscheinlich froh, daß die Vorschriften nun wenigstens auf dem Revier wieder zur Geltung kommen würden, wenn wir gegangen wären.
Auch in dem steinernen Treppenhaus gönnte Marlene ihrem Organ keinen Moment Ruhe, so daß ich schon dachte, ich kriege Zustände in dem lichtlosen Gemäuer. Aber als wir draußen waren, hörte der Druck auf den Ohren plötzlich auf. Marlene redete zwar pausenlos weiter, wahrscheinlich sogar noch lauter wegen des Verkehrs und der vielen Leute. Trotzdem schien es mir weicher und freundlicher, vielleicht hatte sie so das Sprechen gelernt. Ich meine: im Freien oder in großen Sälen vor Menschenmengen. Dazu quietschten die Räder von dem Buggy mit ihrem ganzen Hausstand. Ich fand wieder, daß alles zusammenpaßte und nichts Besonderes war.
Als wir gerade unter der neuen Eisenbahnbrücke waren, dröhnte oben drüber so ein klappriger Vorortszug aus Hanau oder Fulda. Aber Marlene schaffte es trotzdem, daß die Leute sich umdrehten und ihr zuhörten, als gäbe es sonst keinen Laut. Einige verglichen auch meine leichte Uniform mit ihrem Wintermantel und schauten nach dem Wetter. Man kann nicht sagen, daß ich mich richtig wohl fühlte in dieser Gesellschaft, aber doch gut genug, um schrecklich neugierig zu sein, wie das nun weitergehen würde. Dabei überquerten wir zunächst einmal die Hedderichstraße, und zwar so, daß der Buggy mit lautem Gepolter kopfüber ein paar Tüten in den Rinnstein entlud, worauf Marlene sich gestikulierend und schimpfend hinhockte und begann, mit dem langen Mantel im Straßendreck, alles neu zu verstauen.
Als der 961er sich näherte, gab sie dem Busfahrer nur ein Zeichen, etwas vor der Haltestelle zum Stehen zu kommen, und fuhr dann fluchend und schwitzend fort, ihre Wortkanonade auf die Tüten und Taschen abzufeuern. Als Passanten zu kichern begannen, stürzte sie mit hochgezogenen Schultern auf eine solche Gruppe los und redete eigentlich ganz normale Gedanken, aber so laut, daß jeder nur das Schlimmste dachte und erschrocken zu entkommen versuchte. Maul stand herum und tat unbeteiligt, machte höchstens mal mit dem Kopf ein Zeichen, daß man die Frau in Ruhe lassen sollte. Die Uniform sagte wohl den Leuten den Rest.
Schon von weitem sah ich auf der anderen Seite des Platzes die schöne Zeugin mit ihrem "Wachtturm" vor der Brust unter dem Vordach vom Bäcker, diesmal allein. In den geschützten Unterstand fiel schräg die Sonne und beleuchtete die streng zusammenstehenden Beine der jungen Frau hinauf bis zum Rocksaum. Kein Lüftchen bewegte ihre dunklen Haare. Ich dachte noch, daß sie mich an einen Star aus der Stummfilmzeit erinnerte, als eine lange Straßenbahn mit blitzenden Rädern das Bild zerschnitt. Die Frau war weg. Von diesem Moment an geschah alles wie im Flug.
Marlenes Gezeter schwoll plötzlich zu einer Art Ohrplattler an, und ich sah, daß Mauls Augen ganz irritiert nach der Zeugin suchten. Als wir über die eingepflasterten Bahngleise gingen, stolperte er, sagte aber nichts. Drüben vor dem großen Schaufenster faßte er Marlene am Arm und deutete nach drinnen. "Sag ihr, daß sie sich benehmen soll, vor allem nicht so schreien, wenn wir da drin sind." Marlene nickte. "Und laß bloß ihren Müllwagen draußen, ja?" Marlene schüttelte den Kopf. Maul ließ sie los und packte die Griffe vom Buggy. "Hör zu! Ich hab mir das vorgenommen und lasse es mir von niemandem kaputt machen. Wir haben nur die Chance, was zu essen zu kriegen, wenn das mein Wagen ist. Ich schieb ihn rein, Frau Judatz bestellt, und wir essen im Stehen, da am Tisch! Verstanden?" Marlene schüttelte wieder den Kopf. Aber sie schimpfte plötzlich nicht mehr, und was noch erstaunlicher war: Sie ließ Maul den Wagen, trotz der Angst um ihre Habe.
Maul schob den Wagen auf die gläserne Eingangstür zu; hinter ihm hielt sich Marlene sehr gerade und ließ ihren weißen Schal weiter über die Schultern in den Nacken gleiten. Dann kam ich. Im Laden war es voll und laut, und es roch gut. Ein runder Tisch am Fenster war noch frei. Maul schob den Wagen so vorsichtig durch das Gewühl dorthin, daß auch ein schlafendes Kind nicht aufgewacht wäre. Marlene stellte sich mit dem Rücken zur Theke, ich daneben und Maul uns gegenüber mit dem Rücken zum Fenster. Ich sah, dass die schöne Frau draußen mit ihrem Zeugenblättchen wieder an ihrem Platz stand. Maul redete leise mit Marlene. Die Zeugin vor dem Fenster sah lange auf Mauls Uniform. Dann sah sie mich an. Ich hatte das Gefühl, ganz allein zu sein, so still war es. Das wurde mir aber erst klar, als Maul mich von der Seite anstieß. "Haben sie verstanden? Einen Zwiebelkuchen, ein Viertel von der Pizza, zwei Tassen Kaffee und das, was Sie wollen." Er konnte nicht wissen, was ich gesehen hatte. Bei der Pizza nickte Marlene. Maul mußte mir etwas angemerkt haben und sah sich um, als ich mich am Tresen anstellte. Gleich darauf sprach er aber wieder mit Marlene und blieb so und kehrte der schönen Zeugin den Rücken zu. Einen Moment dachte ich, er hat Angst vor der Frau da draußen. Aber wahrscheinlich wollte er nur Marlene und mich im Auge behalten.
Ich weiß nicht, was inzwischen passierte. Irgendeine instinktive Stimme sagte mir, daß ich nicht hinsehen sollte. Ich versuchte, aus dem Gewirr Marlenes Stimme herauszuhören. Das gelang mir aber nicht. In der dichtgedrängten Schlange kam ich mir ohne Marlenes Stimme mit einem Mal hilflos vor, richtig verlassen, wie im Nebel. Ich hatte auch noch nicht verstanden, warum Marlene so einfach aufgehört hatte mit ihrem Gekeife. Nur weil Maul sie zum Essen mitnahm? Oder hatte sie nur Angst, zum Beispiel, daß sie sonst ihren Wagen nicht wiederbekam? Ich war an der Reihe, bestellte alles und für mich einen Kracher mit Fleischwurst, zahlte und nahm das volle Tablett.
Maul stand plötzlich neben Marlene und starrte aus dem Fenster. Die Schöne zeigte mit einem ganz langen, blassen Zeigefinger auf den "Wachtturm" und sah durch die Scheibe. Als sie mich kommen sah, lächelte sie wie gemalt. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll: wir waren verzaubert! Maul schob wie von selbst die Karre voran, dahinter Marlene mit ihrem weißen Schal, dann ich mit dem Tablett. Draußen stellten wir uns zu einem Kreis zusammen, und Marlene gab der Schönen die Hälfte von der Pizza, obwohl die Zeugin sagte, sie sei im Dienst. Maul sagte das auch und fing an, ihr zu erklären, daß er sehr gern mit Pennern zu diesem Bäcker geht. So wie letzten Samstag, als die Schöne mit ihrem Glaubensbruder Dienst tat und daß er sich als Polizist sehr um diese Leute sorgt, so wie jetzt. Und dabei sah er sie unentwegt über seinen Zwiebelkuchen hinweg an, während sie sich das Heft wie einen Panzer vor die Brust hielt und langsam Marlenes Pizzahälfte aß.
Eine ganze Weile redete Maul. Ich merkte, wie aufgeregt er war. Als er anfing zu erzählen, daß er Marlene beim Taubenfüttern festgenommen hatte, sah die Schöne ihm von unten in die Augen. Maul war sofort still. "Dürfen Sie das?" fragte sie. "Ja, aber natürlich. Die Tagesmutter… " "Ich meine, dürfen sie mir das erzählen? Sie ermitteln doch noch, oder?" Maul schluckte. "Das ist alles eine Verwechslung", sagte Marlene wie nebenbei, aber sehr vernehmlich. Immerhin schrie sie nicht. "Eine ganz gewöhnliche Verwechslung." Die Schöne sah Marlene an. Es war, als blühten Rosen zwischen