zu halten. Und es machte zugegebenermaßen auch Sinn, falls Ankers Theorie über die Vierfingrigen stimmte, dass Keli am besten bei ihm und Anker aufgehoben war.
Viel einwenden konnte er ohnehin nicht; er sprach immerhin mit einem der respektabelsten Professoren im ganzen Laternenwald.
»Tja, wenn es nicht anders geht …«, wisperte Loyd geringschätzig. Er schaute Keli nicht an, und diese wiederrum war aufgrund von Loyds Haltung ein wenig irritiert.
Wieso sprach Loyd so, als wäre sie ein fünftes Rad am Wagen? Schon wollte Keli den Mund öffnen, um Loyd zu vermitteln, es sei genau genommen seine Schuld, dass ihre Eltern heute nicht unter ihnen weilten, doch Anker war schneller: »Dann wäre das also geklärt. Du stimmst zu. Das Expeditionsteam trägt die Verantwortung für Keli.«
»Jaja, es wird wohl das Beste sein.«
»Gut, dann wäre das Thema hiermit abgeschlossen. Und nun zum Wesentlichen. Wie ihr wisst, habe ich Keli – äh, ich meine natürlich dich, Loyd – vor einigen Tagen für eine dringende Expedition nach Lichterloh bestellt.« Anker fasste sich ans Genick und fing hektisch an, dieses zu reiben, als litte er an einem steifen Nacken. »Professor Simimund, der in der Forschungsstation 1 den Zustand der Überschwärzung und des Unlichts überwacht, berichtete mir in einer Lichtmail, das Unlicht würde sich seit wenigen Tagen in exponentieller Geschwindigkeit vermehren und könnte ohne Gegenmaßnahmen in wenigen Wochen bis zu den inneren Mauern des Schwarzen Vorhangs vordringen. Selbst der hunderte Meter dicke Wall kann das Unlicht nur temporär aufhalten. Wenn es durch die Grotten des Vorhangs nach draußen gelangt, haben wir ein mächtiges Problem. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich herausfinden, was der Grund für die plötzliche Unlichtzunahme ist und unsere Erkenntnisse anschließend allen Regierungssitzen des Laternenwalds präsentieren. Nur so können wir alle Präfekturen dazu animieren, gemeinsam gegen das Problem vorzugehen. Ich selbst glaube, dass das seltsame Wetter in Hildenberge und der Einbruch des Bodens unter dem Dorf mit dem sich ausbreitenden Unlicht in Verbindung steht. Die Annahme stütze ich auf ein Ereignis, das euch sicherlich wohlbekannt ist: der erste Schneesturz, der dem Erfrorenen Dorf damals seinen Spitznamen einbrachte. Das geschah vor 160 Jahren, im Jahr 875 ab Neuzeit; und warum ich mich ausgerechnet an diese ungewöhnliche Jahreszahl erinnere, hat damit zu tun, dass eben auch in diesem Jahr das Unlicht außer Kontrolle geraten ist.«
»Ah, ›Die Schwarze Krise‹, darüber hast du mal im Unterricht gesprochen«, ergänzte Loyd, nachdenklich sein Kinn in die Hand stützend.
»Jo. Wichtig ist hierbei, dass sich die Krise und der Schneesturz des Erfrorenen Dorfs zeitgleich zutrugen. Damals steckte das Fürstentum Nihilis dahinter, dessen Leute im Zentrum illegale Experimente durchführten, um das Unlicht zu vervielfältigen – nicht unbedingt das, was wir hier in Lichterloh als sehr klug bezeichnen würden, stimmt`s? Jedenfalls hat man die Übeltäter erwischt und dem Fürstentum als Sanktion den Zutritt nach Kael bis auf Weiteres verboten. Damals spielte das Wetter im ganzen Laternenwald verrückt. Was wir aus dem damaligen Vorfall herleiten können, ist, dass es zwischen der Ausbreitung des Unlichts und dem jüngsten Schneesturz in Hildenberge einen Zusammenhang geben könnte. Gut. Das wäre einer der offenen Punkte, für den wir auf der Expedition ins Zentrum eine Antwort suchen werden.«
Loyd zog unverzüglich ein kleines Notizbüchlein hervor und begann, zu kritzeln. Mit der Streberbrille sieht er urkomisch aus, dachte Keli, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. So eifrig hatte sie ihren Bruder noch nie gesehen.
»Dann noch ein paar Formalitäten«, fuhr Anker fort. »Auf unserer Mission geht es diesmal in der Theorie darum, herauszufinden, warum sich das Unlicht so rapide vermehrt und in welchem Ausmaß es sich verbreitet – demzufolge auch, welche Konsequenzen dies für Lichterloh und die anderen Präfekturen haben könnte. In der Praxis ist es aber unser Ziel, herauszufinden, ob Lichterloh sich die Hände schmutzig machen und mit den anderen Präfekturen zusammen eine Lösung erarbeiten muss. Das ist der Zweck der Expedition und der Grund, weshalb sie überhaupt vom Staat verfügt wurde und finanziell unterstützt wird.«
»Oder, ob Nihilis, falls es erneut die Finger im Spiel hat, wieder einmal eingeheizt werden muss«, fügte Loyd verwegen hinzu.
»Du hast es erfasst«, sagte Anker anerkennend, einen wurstähnlichen Zeigefinger in Loyds Richtung schwenkend. »Am Ende der Mission werden wir alle Daten zusammentragen und einen idiotensicheren Rapport für den Regierungsrat erstellen, damit die Lümmel in der Behörde auch verstehen, welch komplizierte Sachverhalte die Welt da draußen zu verdauen verlangt.«
Loyd und Keli schmunzelten beide etwas träge in die Runde.
»Und schließlich«, Anker sprach so leise, dass die beiden die Ohren spitzen mussten, »werden wir herausfinden, ob ihr zwei nun Nachkommen von Lailac seid oder nicht. Hier ist dein Diplomatenpass, ab heute sechs Monate gültig, und der übliche Proviant.«
Keli sah Loyds Augen aufflackern, als er den Umschlag und den Rucksack entgegennahm.
Nachdem Loyd seinem zuständigen Arzt mehrmals beteuert hatte, er sei kerngesund und bei dessen aufkeimender Skepsis noch anfing, mit seinem frisch ergatterten Diplomatenpass herumzufuchteln, musste das Krankenhaus ihn wohl oder übel entlassen. Draußen strahlte das Mittagsgrün grell auf die üppigen Walddächer der Hochschule. Die drei Botschafter waren auf dem Weg zur Wasserbahn, einem Transportmittel, welches die Strömung von Wasser als Energiequelle nutzte, und mit dem man schnell und sicher durch die Städte und Dörfer Lichterlohs pendeln konnte. Lichterloh interessierte sich schon lange für Alternativenergie und versuchte, mit Mitteln, die kein oder nur wenig Licht verbrauchten, die täglichen Bedürfnisse der Bürger zu regeln.
Am Bahnhof Herbstfeld angekommen, stapfte Anker vor den Ticketschalter und beschaffte allen dreien einen Fahrschein nach ›Lichterloh-Hauptbahnhof‹. Eigentlich war es möglich, vom Hauptbahnhof aus die Untergrund-Wasserbahn zum Lichterloh-Campus der HHF zu nehmen, doch auf diesen Fahrschein – wie Loyd bemerkte – hatte Anker verzichtet.
Sie durchschritten eine Untergrundpassage des Bahnhofs und tauchten neben dem wartenden Zug wieder auf. Keli war sehr aufgeregt. Das letzte Mal, als sie mit diesem Zug gefahren war, war sie zehn gewesen. Damals hatte sie höllische Angst gehabt, als sich das Gefährt in Bewegung gesetzt hatte. Der Zug war unzählige Abteile lang, was auch kein Wunder war, denn tausende Wesen waren täglich auf dieses Transportmittel angewiesen. Da es Feuertag war – Dienstag auf Kaelisch – und später Morgen noch dazu, war der Bahnhof gut passierbar und nur wenige Fußgänger waren unterwegs. Loyd war sogar der Auffassung, dass er noch nie so wenig Volk auf den Plattformen neben den mit Wasser gefüllten Schächten gesehen hätte. Tatsächlich stiegen nur ein älteres Pärchen und ein paar Studenten, die wahrscheinlich zum Campus in die Hauptstadt fuhren, mit ihnen ein. Wie immer in der Wasserbahn war es ein seltsames Gefühl, das Abteil zu betreten und sich durch die Sitzreihen zu bewegen. Je nachdem, wieviel Gewicht links und rechts im Zug verteilt war, schaukelte der Wagon hin und her wie ein kleines Boot.
Dann war Anker mit Einsteigen an der Reihe. Loyd und Keli, die bereits die Stufen ins Abteil bestiegen hatten, mussten sich an den Sitzlehnen vor ihnen festhalten, damit sie nicht hinfielen. Das alte Pärchen, das gerade dabei war, die Taschen in die Ablageflächen über ihren Köpfen zu verstauen, wurde unfreiwillig, aber zielrichtig in den Sitz katapultiert. Anker selbst hatte keine Mühe mit dem Gleichgewicht. Vielmehr stellte sich die Frage, wie er durch die Sitzreihen kommen sollte. Zum Glück waren die Sessel um die Achse schwenkbar. Umständlich drehte Anker die erste Sitzreihe Richtung Passiergang und ließ sich schwerfällig darauf nieder. Loyd und Keli nahmen in der Reihe vor ihm Platz. Die drei Rucksäcke verstauten sie auf der Gepäckablage über ihren Köpfen.
Die Fahrt ging los und die städtische Aussicht vor den Zugfenstern begann sich rasch zu verändern. Am Anfang waren die Gebäude noch turmhoch und waldbewachsen, dann nahm die Größe der Häuser allmählich ab, woraufhin sich dichte Sträucher und wuchtige Laubbäume im weiten Terrain breitmachten. Jetzt, da Keli zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, wo sie sich befand, musste sie angesichts des vielen Waldes einfach staunen. In all den Ebenen zwischen Herbstfeld und Lichterloh schien die Natur praktisch unberührt. Vor drei Jahren noch war ihr der Dschungel jenseits der Fensterscheiben völlig egal gewesen; sie hatte sich damals die