zu bewundern. Die Baumspitzen waren kaum erkennbar, als Keli den Kopf aus dem Fenster hinausreckte, so dicht war das Astwerk und so gewaltig die Stämme.
Der kühle Wind, wie auch die plötzlich in ihr aufkeimende Freude an der unmittelbaren Nähe zur Natur trieben ihr jähe Tränen in die Augen. Die vorbeirauschende Luft roch herrlich nach Kräutern und Pilzen. Eine Klangwelt von paradiesischen Lauten, die Keli nie zuvor gehört hatte, drang an ihre begierigen Ohren. Der Zug strömte an, von dichtem Moos und glitzernden Blumen umwachsenen Weihern vorbei, an denen sich kleine, farbenfrohe Kreaturen tummelten und ihr Leben augenscheinlich genossen.
Diese Welt da draußen, sie ist einfach nur traumhaft schön, dachte Keli berauscht. Was hatte sie in Hildenberge bloß alles versäumt? Was sie in diesem Augenblick vor sich sehen, hören, riechen und spüren konnte, dies war die grüne Welt; eine sich stetig bewegende Welt, die unbedingt von ihr entdeckt werden wollte.
Loyd stupste Keli an, in deren Augen er ein aufgeregtes Funkeln zu erkennen vermochte.
»Wahnsinn, nicht wahr? Als ich das erste Mal allein in diesem Zug nach Lichterloh saß, ging es mir genauso. Und das ist gerade mal ein klitzekleiner Teil des Laternenwalds. Auch die Flora und Fauna, also die Pflanzenwelt und die Wesen, die ein Gebiet bevölkern, sind an anderen Orten wieder ganz verschieden von diesen hier«, erklärte Loyd an Keli gewandt.
Keli sah Loyd erstaunt an. »Ich wusste gar nicht, dass der Laternenwald so interessant ist. Ich meine, was sind das alles für Wesen da draußen? Wie groß ist der Wald überhaupt?«
»Genau das versuchen wir in der ›Exploration‹ herauszufinden, weißt du? ›Explorieren‹ ist ein sehr altes Wort und hat seine Wurzeln in der Ursprache ›Englisch‹, in der es ›auskundschaften‹ bedeutete.«
Dann hob Loyd die Hand und begann, an den Fingern aufzuzählen, mit welchen Disziplinen das Studium zu tun hatte: »Hauptsächlich geht es bei der Exploration darum, herauszufinden, wie groß die Flächen des Laternen- und Sternenwalds sind, was dort lebt und wächst, wie viele Sonnenlöcher es gibt, ob es noch andere Menschenwesen und Urwesen gibt, welche die Universale Fusion überlebt haben, ob die neu entdeckten Gebiete bewohnbar sind, was für Gefahren dort draußen lauern und natürlich, ob sich eine Lösung für die Unlichtplage finden lässt. Von Unlicht hast du schon mal gehört, oder?«
»Ja, Anker hat mir davon erzählt.«
»›Anker‹?«, zischte Loyd aufgebracht. »Für dich heißt das ›Professor Ankerbelly‹.«
»Schon gut, Loyd. Ich habe ihr erlaubt, mich so zu nennen«, hallte Ankers Stimme von hinten zu ihnen herüber.
»Ach so – verstehe. Alles klar«, antwortete Loyd, sich albern vorkommend, weil er seine Schwester so angefahren hatte.
Natürlich hatte Anker Keli erlaubt, ihn so zu nennen. Sie war ja nun ebenfalls ein Mitglied des Teams. Aber er – er musste wieder ausrasten, und nun hatte er den ersten anständigen Dialog mit seiner Schwester seit dem Unglück in Hildenberge verdorben. Eigentlich wollte er sich für das Ereignis in der Berg-Rutschstation entschuldigen, als er Keli ohne Vorwarnung in den Schacht gestoßen hatte. Über sich selbst verärgert, neigte Loyd sich nach vorn, legte die Stirn auf seine geballte Faust und schloss die Augen.
Keli war bei Loyds Anfall zusammengezuckt und bestürzt darüber, dass er keine Anstalten machte, sich zu entschuldigen. Das war eine Seite an ihrem Bruder, die Keli nicht schätzte. Älterer Bruder hin oder her, man sollte sich entschuldigen, auch wenn der Fehler unbeabsichtigt gewesen war.
Loyd stand abrupt auf, ging zwischen den Sitzreihen hindurch und verschwand anschließend im Klo am Ende des Abteils. Loyd blieb eine ganze Weile weg, und Keli fragte sich schon, was er so lange trieb, als die Klotür wieder aufging und er durch die Reihen zurückgetorkelt kam. Er sieht alles andere als frisch aus, fand Keli. Loyd setzte sich wieder hin, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Die Art und Weise, wie Loyd mit der Situation umging, war Keli zuwider. Auch sie verschränkte die Arme und stierte betrübt aus dem Fenster. So ein Idiot, dachte Keli wütend. Sie hatte rein gar nichts verbrochen. Was sollte dieses herablassende Getue? Vielleicht sollte sie ihn auf sein Verhalten ansprechen und ihm mal ihre Meinung geigen.
Doch dann schwappte Ankers Stimme erneut über die Sitzstützen: »Übrigens wurde Vigilanz-Stufe 5 ausgesprochen. Es ist höchste Vorsicht angesagt in Lichterloh. Unser Geheimdienst hat verlauten lassen, dass sie Informationen über einen möglichen Anschlag erhalten haben. Die Schmelzfront könnte schon wieder etwas aushecken, und darum sollten wir nicht ausgerechnet jetzt zu lange im Stadtzentrum herumlungern. Wir meiden auch die U-Wasserbahn und gehen zu Fuß zum Campus, das ist sicherer.«
»Das denke ich auch. Am besten begeben wir uns direkt zur Bibliothek, wo Naomi auf uns wartet«, erwiderte Loyd seitwärts um den Sitz herum.
»Diese Typen, die Schmelzfrontler«, begann Keli, die Ankers Mitteilung in diesem Moment doch mehr bekümmerte als Loyds Blasiertheit. »Wenn doch Lichterloh einen Wall um die Stadt gebaut hat und alle Leute, die ein- und ausgehen, kontrolliert werden, wie können sie dann in Lichterloh einen Anschlag verüben? Die kommen doch aus Atlas, oder etwa nicht?«
Loyd, der Kelis Frage als Zeichen der Versöhnung verstand, sagte nun wieder etwas heiterer: »Meine Theorie ist, dass die Terroristen ihre Spione schon längst in Lichterloh eingeschleust haben und so von innen ihre Attentate planen. In Lichterloh wird oft gemunkelt, dass die Schmelzfront insgeheim eine durch Atlas’ Regierung gestützte Geheimorganisation wäre, die das extremistische Verhalten der Attentäter nur als Vorwand nutzte, um sich während eines Anschlags im unweigerlich folgenden Chaos Zutritt zu gesicherten Gebäuden zu verschaffen. Es heißt, Atlas schicke diese Leute, um in Bunkern und Tresorräumen nach Artefakten wie dem Kaelischen Index oder der Lichterlohenen Weinbeere zu suchen.«
Der Ausdruck ›Lichterlohene Weinbeere‹ hatte eine seltsame Auswirkung auf Kelis Gedächtnis, den sie nicht so richtig einordnen konnte. Sie wollte sich gerade erkundigen, was es mit dieser interessanten Frucht auf sich hatte, als die Abteiltür aufging und ein Kontrolleur, gefolgt von einer uniformierten Stadtwache, hereingetreten kam. Keli erkannte sofort das geschwärzte Holzschwert, das die Wache trug. Davon hatte sie schon gelesen und fand es aufregend, eines aus nächster Nähe bestaunen zu können. Wenn sie sich richtig erinnerte, diente die negative Ladung dazu, einen Widersacher mit einem Treffer per Lichtentzug kampfunfähig zu machen.
Der Kontrolleur prüfte gerade die Fahrkarten und die Reisepässe des alten Pärchens, das einige Reihen vor ihnen saß.
»Zückt eure Tickets und Pässe«, forderte Anker das Lanthorn Geschwisterpaar auf.
Sie brauchten nicht lange, bis die wohlumsorgten Ausweise in ihren Händen parat lagen. Als Kontrolleur und Wache nähertraten, winkte Ankers Diplomatenpass über die Lehnen und seine Stimme gellte abermals durch das Abteil: »Herr Kontrolleur – hier rüber bitte.«
Der untersetzte Mann kam mit zusammengekniffenen Augen näher.
»Ausweis- und Fahrkartenkontrolle«, ließ er offiziell verlauten.
»Jaja, schon gut«, sagte Anker abschätzig. »Letztendlich bräuchten wir ja nicht einmal ein Ticket.«
Der Kontrolleur verstand nicht, was Anker meinte und sah nur flüchtig auf die drei Fahrscheine, als alle Farbe aus seinem Gesicht wich.
»Donnerwetter. Salbo, komm … komm schnell her!«, stammelte er.
»Soso, haben wir die blinden Passagiere wieder einmal auf frischer Tat ertappt?«
»Nein, Salbo. Keine b-blinden Passagiere. Bo-Bo-Botschafter«, stotterte der Kontrolleur.
»Oh, tatsächlich? Moment, ich komme«, sagte Salbo überrascht und trat auf die Sitzreihe zu, wo Loyd und Keli mit verdatterten Gesichtern saßen.
Die restlichen Leute im Wagon hatten die Bemerkung des Kontrolleurs nicht überhört und steckten nun neugierig die Köpfe in den Passiergang, um einen Blick auf die Prominenten zu erhaschen. Loyd und Keli schauten verlegen drein und wussten nicht recht, was sie sagen sollten.
»Dürfte