J.C. Caissen

Brüder mit schlanken Beinen


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Sie mußten aber trotzdem immer noch bei Frau Dapora warten, bis die Mutter nach Hause kam und sie abholte. Dann aßen sie zusammen ein Brot in der Küche mit der Gitterbett-Eckbank, und die Mutter konnte später ein Auge auf sie haben, wenn sie im Garten spielten. So lernten sie die Nachbarkinder kennen.

      Frank war eines der Nachbarkinder, der Junge vom linken Eingang, zweiter Stock. Er war still, gar nicht so fröhlich oder wild wie Enne und die anderen Kinder, aber Corinna fand ihn nett. Nur durfte er nicht so oft mit den anderen Kindern draußen spielen. Er saß oft nur an seinem Fenster und schaute hinunter. Irgendwie tat er Corinna leid, aber sie hatte keine Zeit darüber lange nachzudenken, denn sie hatte jetzt Ulrike, die wohnte auch links, im ersten Stock. Zusammen bauten sie sich eine Bude im Garten. Dazu brauchte man nur eine Decke, die hängte man über die eine Ecke, dort wo die Zäune im Winkel aneinanderstießen, dann hatte man ein Haus, mit einem richtigen Dach drüber. Zwei weitere Decken, eine alte Holzlatte und ein paar Wäscheklammern waren noch besser, dann hatte man auch noch zwei Wände.

      Ulrike und Corinna fanden es richtig gemütlich, in ihrem Haus unter dem Dach zu sitzen und mit den Puppen zu spielen. Auch wenn Enne und seine Freunde ab und zu angesprungen kamen und die Decken abrissen, nur um sie zu ärgern. Dann kreischten sie ganz wild, Enne und seine Freunde lachten laut und rannten davon. Dann mußten sie ihr Haus wieder neu aufbauen. Wenn man Pech hatte, flogen die Wäscheklammern dabei sogar auf die andere Seite des Zaunes, dann mußten sie entweder drüber klettern, aber dazu waren sie zu klein und sie fanden nirgendwo Halt oder sie mußten ganz außen herum laufen, und das waren ihnen eigentlich verboten.

      „Mami, Mami, du mußt unbedingt herauskommen, der Frank von oben steht nackt im Fenster“. Corinna trommelte mit den Fäusten an die Terrassentür. Die Mutter kam heraus, fragte nochmal nach, kam aber dann von der Terrasse doch in den Garten, um von dort aus schräg hoch in den zweiten Stock sehen zu können. Ja, das gab's doch gar nicht. War der Junge denn allein zu Haus? Dort stand wirklich der Nachbarjunge, Frank, hoch oben am Fenster. Er stand auf der Fensterbank, völlig entkleidet, die Hände hoch über dem Kopf erhoben und alle Finger an die Fensterscheibe gedrückt, mit der Zunge leckte er die Fensterscheibe ab. Frank war zehn, hätte deshalb eigentlich schon wissen müssen, daß man sich nicht nackt anderen Kindern zeigt. Die Kinder im Garten schrien und lachten und machten Hampelmänner, während sie ihm zuriefen.

      Corinnas Mutter lief schnell hinüber zum linken Eingang, die Treppe hinauf, schellte an der Tür.

      Wenig später sahen die Kinder vom Garten aus, wie Franks Mutter den Jungen von der Fensterbank herunterholte.

      Frank kam diesen Tag und auch die ganze restliche Woche nicht herunter zum Spielen.

      3

      Die Sommertage waren herrlich. Mit zunehmendem Vertrauen erlaubte nun Ruth den Kindern, wenn sie nur gut aufeinander acht geben würden, nach der Schule mit den anderen Kindern hinterm Haus zu spielen. Tobias, als der Älteste, bekam den Haustürschlüssel unter großem Ehrenwort anvertraut, und wenn der Magen knurrte, hatte Ruth erlaubt, daß sie hineingehen und sich ein Brot schmieren durften. „Aber, daß ihr mir bloß keine Schweinerei in der Küche macht, und andere Kinder haben bei uns in der Wohnung nichts zu suchen“ Vorausschauend hatte sie den Brotlaib im Küchenschrank bereits auf ein Holzbrett gelegt, dazu ein Brotmesser, daneben die Butter mit dem Messer. An manchen Tagen aber gab es trotzdem Ärger, denn der große Brotlaib war innerhalb eines Nachmittags auf einen kläglich kleinen Kanten geschrumpft. Es schmeckte aber auch zu köstlich, dicke Scheiben frisches Brot, fingerdick mit Butter bestrichen. Oben drauf streuten sie Zucker, - ein Traum -, was eigentlich nicht von der Mutter vorgesehen war, aber die überall verstreuten Zuckerkrümel hatten sie schnell entlarvt.

      Manchmal, ganz selten, waren auch noch Brötchen vom Wochenende übrig. Es ging nichts über den Geschmack eines Brötchens, oben mit einem Bohrloch versehen und mit dem Zeigefinger ausgehöhlt. Den weichen Teig puhlte man heraus und aß ihn einfach mal schnell so nebenbei, dann wurde das ausgehöhlte Brötchen bis zum Rand mit Zucker gefüllt und oben drauf wurden einige Tropfen Wasser aus der Leitung gegeben. Die Kunst war, schnell genug wieder hinaus in den Garten zu kommen, denn bald schon fing der Brötchenteig an, nass und wabbelig zu werden und das Zuckerwasser fing an, auf den Boden zu tropfen. Nach vorn gebeugt, aßen, schlangen, schlürften sie die nasse, zuckerklebrige Köstlichkeit.

      Eine andere begehrte Nascherei waren Streusel. Dazu gaben sie, in der Regel war es Enne, der diese Idee hatte, zu gleichen Teilen, wenigstens ungefähr, Mehl, Zucker und Butter in eine Schüssel. Natürlich hinterließen sie meistens in der Küche Spuren, so daß abends erst einmal wieder eine Standpauke fällig war, denn Mutters Vorräte waren für andere Dinge eingeplant. Daran dachte Enne aber nicht am Nachmittag, wenn der Magen knurrte. Schon sprang er wieder raus in den Garten und draußen, auf der Decke sitzend, wurden die Zutaten dann in der Schüssel gut durchgeknetet, so lange, bis herrliche Teigstreusel wie von selbst entstanden, die dann mehr oder weniger gerecht unter den Geschwistern – und wenn es ein ganz guter Tag war, sogar unter Freunden - aufgeteilt wurden. Der 'Bäcker' bekam dabei natürlich den Bärenanteil, und Ennes vorher schmutzige Finger sahen hinterher immer viel sauberer aus. Sie klebten aber furchtbar, und Enne machte sich einen Spaß daraus, mit ausgestreckten Händen hinter Corinna herzulaufen, die schreiend vor ihm davonlief. Aber dann setzte er sich wieder ins Gras, wohl auch weil ihm selbst die Hände zu klebrig waren und leckte alles, auch den kleinsten Rest Teig, Fett, Zucker, wie eine Katze von jedem Finger ab und strich sich dann immer und immer wieder die Hände im Gras trocken. Diese Prozedur hinterher dauerte länger als die Zubereitung an sich, aber sie war es wert. An manchen Tagen suchte die Mutter nach einer ihrer Schüsseln, Enne schlich sich dann schnell hinaus und fand sie schließlich irgendwo im Sandkasten oder im Gras wieder. Und wieder gab es Ärger, aber Enne steckte das immer einfach so weg.

      So vergingen wunderschöne, strahlende Sommertage. Das Klettergerüst, fleißig von allen Kindern benutzt, war nicht nur zum Turnen zu gebrauchen. Es eignete sich auch hervorragend dazu, einen Theatervorhang aus Decken daran zu befestigen. Tobias hatte plötzlich eine Idee und angeleitet von ihm und Enne, studierten alle Kinder des Hauses einige Turnkunststücke ein. Jeder wollte dabei sein. Sie holten dazu von daheim Bälle, Hullahupp-Reifen, Hocker, Seile, Tücher und Decken.

      So manche Mutter vermisste wohl zeitweise etwas in ihrem Haushalt, das dann später wie durch ein Wunder plötzlich wieder auftauchen sollte. Es war ein herrlich buntes und lautes Treiben auf dem Rasen. Das ging mehrere Wochen so. Alle hüpften und schrien durcheinander,

      jeder wollte mitmachen und hatte Ideen, aber sobald sich nur ein Erwachsener im Garten blicken ließ, steckte die Horde die tuschelnden Köpfe zusammen, dann wurden sie plötzlich immer stiller. Es sollte ja bloß keiner was merken. Irgendwie bekam Tobbe es hin, eine gewisse Ordnung in den Haufen zu bekommen. Es wurde eine Art Programm zusammengestellt und irgendwann wusste jeder, was er wie und wann zu tun hatte. Tobbe war zufrieden. Dies sollten wohl die Anfänge seiner Karriere sein, in Bezug auf das Thema 'Wie gewinne ich bei Menschen Aufmerksamkeit'. Schließlich schrieb er viele kleine Zettel, - Einladungen an die Eltern. „Samstag , 3 Uhr, Zirkusvorstellung im Garten. Eltern werden gebeten, eigene Stühle mitzubringen. Eintritt 1 DM.“ Natürlich kamen die Eltern fast aller Kinder und trotz stellenweisen Durcheinanders, Mängel in der Regie und Vergesslichkeit und etwas Ungeschicklichkeit bei den 'Artisten', verbrachten alle einen wunderbaren Sommertag, der den Kindern schließlich eine große Tüte mit Süßigkeiten einbrachte, denn die Eltern waren mit dem Eintrittsgeld nicht kleinlich gewesen. Tobbe kaufte ein und sah zu, daß alles redlich geteilt wurde.

      4

      Der große, rote Bagger kam mit lautem Motorengeräusch langsam um die Ecke gefahren. Mehrere Männer in Arbeitskleidung und dicken Schuhen liefen neben- und hinterher. Hinter dem Haus, auf der anderen Seite des Gartenzauns, wurde die Erde aufgegraben und nach und nach entstand eine Grube, für das Fundament eines, wie man später sehen sollte, nicht gerade bescheidenen Einfamilienhauses. Lachend versuchten die Männer, den lauten Bagger zu übertönen, um miteinander zu reden. Sie waren gut gelaunt, manche rauchten. Später wurde eine Pumpe aufgestellt. Pffffffff, pff, pff, braun graues, schlammiges Grundwasser wurde dann aus der ausgehobenen Grube abgepumpt und in den nahen Graben geleitet,