J.C. Caissen

Brüder mit schlanken Beinen


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war eine spannende Sache, die sich vor allem Enne, immer neugierig und gerne auf Entdeckungstour, unbedingt mal näher ansehen wollte. Verschalungen wurden mit lauten Hammerschlägen gezimmert, Betonmischer brummten, Lastwagen mit Mauersteinen kamen an und wurden entladen, Schubkarren wurden hin und her geschoben, Böden wurden gegossen, Wände hochgezogen und gegossene Decken bis zur vollständigen Fertigstellung mit vielen Holzbohlen abgestützt. Und den ganzen Tag hörte man die Bauarbeiter rufen, pfeifen, erzählen, lachen, da war immer gute Laune, und dazu das Geräusch der Betonmischer und der Grundwasserpumpe. Irgendwann standen an allen Seiten der Baustelle warnende Schilder, weiß, mit roter Farbe „Betreten der Baustelle verboten. Eltern haften für ihre Kinder“. Auf das Kellergeschoss wurde die nächste Etage gesetzt, und auch wieder mit Balken gestützt. Später kam auch noch ein Obergeschoss dazu. Diese Baustelle war eine Fundgrube und ganz bestimmt ein abenteuerlicherer Spielplatz als der eigene Garten, der nur ein Klettergerüst hatte. Enne und Corinna klebten fast jeden Tag am Gartenzaun, auch die anderen Kinder, und schauten den Männern bei der Arbeit zu. Da lagen alte Türen, die beim Bau verwendet wurden, um irgendwelche Räume vorübergehend zu verschließen, da lagen Bretter, mit denen man herrliche Dinge hätte bauen können und Mauersteine, die man wunderbar zum Bauen eines eigenen kleinen Häuschens hätte gebrauchen können. Da standen Betonmischer, lagen Schaufeln und Schubkarren herum, alles, alles hätte man gut gebrauchen können, um an einem schönen Sommernachmittag mal etwas anderes zu spielen, als immer nur im Sandkasten oder auf dem Rasen.“Irgendwann gehe ich da mal rüber. Traust du dich und kommst mit, später, wenn die Arbeiter weg sind?“ Enne und Corinna wechselten Blicke. Na klar würde sie mitkommen, sie war ja selbst neugierig. Und zusammen mit Enne fühlte sie sich sowieso stark. Tobbe wollten sie lieber nichts davon sagen, der petzte das nur wieder den Eltern.

      „Und daß mir keiner auf die Idee kommt, auf die Baustelle zu gehen“, hatte der Vater ja ausdrücklich gesagt.

      Der Nachmittag war strahlend sonnig, eher drückend heiß, sogar ein bisschen schwül. An diesem Tag wäre wohl jeder gern ins Freibad gegangen, wenn es nur eins gegeben hätte. Der Vater hatte zwar irgendwann ein großes Loch neben der Terrasse gegraben und dort mit Beton und blauer Schwimmbeckenfarbe einen Fischteich angelegt, mit zierlichen Wasserpflanzen und schön geformten Steinen, die sie beim Spazierengehen im Wald mitgenommen hatten. Aber die Füße dort hineinhalten oder sich darin abkühlen, durften sie natürlich nicht. In dem Teich schwammen zunächst einmal vier fette, orange Goldfische. Noch hatten die Kinder sich auf Namen für die Fische nicht einigen können. Die namenlosen Fische schwammen vielleicht eine Woche lang, einen Meter vor, einen Meter zurück und 80 cm zur Seite, dann hatte die gestreifte Katze aus der Nachbarschaft sie wohl 'geangelt'. Jedenfalls war erst einmal ein Goldfisch weg, am nächsten Morgen waren sie dann schon alle nicht mehr da. Der Vater hatte nachdenken wollen, ob er nochmals neue Fische hineinsetzen sollte und vor allem, wie er verhindern könnte, daß die Katze am nächsten Tag wieder auf der Lauer liegen würde. Jedenfalls war es nach wie vor ein Fischteich und kein Planschbecken für die Kinder.

      Später dann würde der Vater, nach einem erneuten, kurzen und erfolglosen Versuch, die Kinder an den Umgang mit Tieren heranzuführen, wieder eine Karre mit Muttererde hineinschütten und die Mutter würde ein farbenfrohes Blumenbeet aus blau violetten Usambaraveilchen, weißen Margeriten und roten Geranien anlegen. Aus der Traum vom eigenen Planschbecken.

      Enne hatte die Worte des Vaters, auf keinen Fall auf die Baustelle zu gehen, natürlich schon längst nicht mehr in Erinnerung. Tobbe war mit zu einem Freund nach Hause gegangen, „nur ganz kurz“, und die Bauarbeiter hatten auch schon Feierabend gemacht. Enne und Corinna waren sich einig, sie gingen um den Zaun herum und auf der anderen Seite auf die Baustelle zu. Es war ganz still, alle Maschinen waren abgestellt, auch die Pumpe pustete kein Wasser mehr in den Graben. Enne schlüpfte als erster unter dem rotweißen Absperrband hindurch, vorbei an dem Warnschild, das ihn hätte abhalten sollen. „Komm schon“ drängte er Corinna, die hatte noch ein wenig Bedenken. „Sei kein Spielverderber, jetzt sind wir ja schon mal hier. Wir wollen ja nur mal gucken“. So schlimm konnte das ja nicht sein, und Corinna folgte Enne auf die Baustelle. Am Neubau ging eine der alten, unverschlossenen Türen zu öffnen und sie wagten sich über die erste sichtbare Treppe, die noch ohne Geländer war, in das Kellergeschoss. Die Decken wurden immer noch mit Holzbohlen gestützt, und der Boden war immer noch mit Wasser bedeckt, was wohl am nächsten Tag wieder abgepumpt werden würde.

      Sie zogen ihre Sandalen aus und ließen sie auf dem Treppenabsatz stehen.

      Corinna reichte das Wasser jetzt bis zur Wade. In dem Rohbau war es zwar wesentlich kühler als draußen, wo immer noch die gleißende Sonne auf den Garten herunter brannte. Trotzdem hatte Enne plötzlich die, wie er fand, ausgesprochen schlaue Idee, in dem zwar braunen, aber kühlen Wasser, ein Bad zu nehmen. Und schon warf er sich, mitsamt seiner kurzen Hosen und dem blaurot karierten, kurzärmeligen Hemd, in die braune Brühe. Und er jauchzte und prustete und lachte und schlug mit den Armen immer wieder auf das schmutzige Wasser, so daß Corinna schon nach kurzer Zeit völlig durchnässt im Wasser stand. An ihrem blauen Kleid waren die ursprünglich weißen Punkte schon lange nicht mehr weiß, sondern der ganze Stoff war übersät mit braunen Flecken. „Komm doch endlich auch rein, dein Kleid ist sowieso schon schmutzig, das trocknet doch schnell wieder “ jauchzte Enne, und tatsächlich ging Corinna in die Knie und versuchte die ersten Schwimmzüge im dafür natürlich viel zu flachen Wasser. Was für ein herrlicher Spaß. Sie tollten umher, planschten in der braunen Brühe, lachten und spritzten sich gegenseitig immer wieder nass. Ennes und Corinnas Haare hingen ihnen bald nass und strähnig über den Augen. Die Gesichter waren schmierig braun vom Schlammwasser. Es war herrlich.

      Irgendwann, in einer Lach- und Planschpause, in der sie verschnauften, hörten sie Rufe.

      „Sei mal still, ich höre jemanden rufen“. Enne war plötzlich total ernst und stellte sich auf die Füße. Corinna erschrak fürchterlich und wusste sofort, daß sie niemals hätten hierher gehen dürfen. Sie kam auf die Füße und schaute verzweifelt an sich hinunter. Wie sah sie nur aus. Weder würde ihr Kleid jetzt noch schnell trocknen, noch würde es jemals wieder richtig sauber werden. Warum war sie nur so dumm gewesen und war Enne hierher gefolgt. „Heiner, Corinna, wo seid ihr?“ Natürlich war es die rufende Stimme des Vaters. Du liebe Güte, das bedeutete nichts Gutes. Corinna bereute alles, aber dafür war es jetzt schließlich schon zu spät. „Komm, Corinna, wir müssen schnell nach Hause. Hoffentlich sieht er nicht, daß wir hier von der Baustelle kommen. Wir müssen uns irgendwas einfallen lassen.“ „Was sollen wir uns denn einfallen lassen?“, Corinna wusste nicht, was für eine Erklärung jetzt noch helfen sollte. Enne stürzte zur Tür, nahm seine Schuhe und sprang barfuß die kalte Steintreppe hoch. Corinna folgte ihm. Oben konnte Enne durch eines der noch ungeglasten Fenster herüberschauen zum Garten. Dort gingen Tobbe und der Vater hin und her und schauten suchend in die Ferne, zwischendurch schimpfte der Vater mit Tobbe, Wortfetzen konnten sie hören, ungefähr wie, wo er denn gewesen sei, er hätte doch auf die Geschwister aufpassen sollen, und schließlich sei er doch der Älteste und er sprach von Enttäuschung. Tobbe stotterte irgend etwas und der Vater rief wieder nach Corinna und Enne. Enne duckte sich unter das Fenster, zog auch Corinna runter und schlich dann eilig mit ihr weiter in Richtung Hauseingang. „ Au, au, verdammt, au das tut so furchtbar weh“, Enne schrie auf und sackte dann zusammen auf dem dreckigen Betonboden. Corinna erschrak und bückte sich über Enne, der seinen Fuß hielt. Der Fuß blutete sofort stark aus einer Wunde unter der Fußsohle, in der ein Nagel steckte. „Was machen wir denn jetzt? Du bist in einen Nagel getreten und blutest wie verrückt“ Corinna wusste nicht, was sie machen sollte, aber Enne suchte mit der Hand unterm Fuß nach dem Nagel und zerrte ihn einfach ruckartig heraus, er schrie auf. Er schmiss den Nagel weit von sich, stand auf und humpelte zum Eingang. „Komm, wir müssen schnell rüber“. Corinna und der humpelnde Enne sprangen klatschnass den Trampelpfad entlang, um den Zaun herum und über den Rasen zur Terrasse. Der Vater und Tobbe waren mittlerweile auf die andere Seite des Hauses gegangen, um dort zu suchen. Enne setzte sich auf die Terrasse, die Mutter kam gerade wieder in die Küche, sah ihn und schrie auf. Plötzlich stand dann auch der Vater hinter ihr und Tobbe. Die Terrassentür wurde aufgerissen und die Mutter stürzte hinaus „Mein Gott, wie seht ihr denn aus? Wo seid ihr denn gewesen, was habt ihr bloß mit euren Kleidern gemacht? Kann man euch nicht mal ein paar Stunden allein lassen? Enne, das hast