Christine Boy

Das Blut des Sichellands


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hatten, drehte sich Racyl etwas verunsichert zu ihrem Bruder um.

      "Sie mag uns wohl nicht."

      Doch Rahor zuckte nur die Achseln. "Sie kennt euch nicht. Noch nicht. Eigentlich kann sie sogar richtig nett sein. Du wirst schon sehen."

      An der Westküste des Sichellandes standen im Rin dieses Jahres alle Zeichen auf Freude, als der große Festtag zum Ablegen der Silberschiffe ausgerufen wurde. Während die meisten Cycala die großen Tafeln und den günstigen Ausschank bejubelten, war es für Saton jedoch vor allen Dingen eine seltene Gelegenheit, diesen offiziellen Akt in Begleitung zu begehen. Bereits zwei Tage zuvor hatte er seine Tochter aus Semon-Sey anreisen lassen und sie vom Kasernenunterricht befreit, damit sie dem Ereignis beiwohnen konnte. Jetzt saßen beide Ac-Sarrs im Ruhezelt des Shajs und Saton erklärte anhand verschiedener Landkarten den genauen Verlauf, den die Flotte nehmen sollte.

      "Hier werden sie einen weiten Bogen fahren." Er deutete auf die Küstenlinie des großen Kontinents Sacua, auf dessen südlicher Hälfte weder Dörfer noch Flüsse eingezeichnet waren. Bislang galt alles Land jenseits der Bergkette Valahir für die Sichelländer als beinahe unerforscht.

      "Wir sind uns noch nicht sicher, wie dicht der Küstenstreifen besiedelt ist und wollen nicht zu früh entdeckt werden. Allerdings berichteten meine Kundschafter, dass die Fremdvölker das Wasser weitgehend meiden. Aus Angst, so heißt es."

      Lennys schnaubte abfällig. "Angst vor Wasser? Sind sie wirklich so dumm?"

      "Vielleicht werden wir das eines Tages erfahren. Möglicherweise hat ihre Abneigung auch einen guten Grund. Wir sollten ihnen also vorerst besser keine Dummheit unterstellen."

      "Und was ist mit dieser Insel? Wohnen da keine Menschen?"

      Saton schüttelte den Kopf.

      "Nein. Wahrscheinlich hat sie vor uns überhaupt noch nie jemand betreten. Wir haben bereits im vergangenen Jahr eine kleinere Gruppe Kundschafter dorthin ausgesandt. Sie berichteten nur von kargem Fels und davon, dass dort kein Lebewesen anzutreffen sei. Und es gab auch keinerlei Spuren, die irgendjemand hätte hinterlassen haben können."

      "Sie scheint ziemlich groß zu sein."

      "Nicht so groß, wie es auf der Karte scheint. Bei Flut sind weite Teile überschwemmt und nicht begehbar. Ich denke, die Fläche, auf der wir uns aufhalten werden, ist vielleicht mit den Cassydischen Gräben vergleichbar. Möglicherweise auch kleiner."

      Lennys zuckte gelangweilt die Achseln.

      "Ich verstehe immer noch nicht, warum wir das alles überhaupt machen. Warum ist dieses Ritual so unsagbar wichtig, dass man dafür solche Mühe in Kauf nimmt? Wir sind auch ohne den Bann nicht zu besiegen."

      "Schließe nicht von dir auf andere." belehrte Saton seine Tochter mit einem leichten Lächeln. "Nicht jeder hat so viel Talent wie du. Vor langer, langer Zeit wurde das Silber schon einmal durch das Ritual verstärkt. Damals gab es noch Regionen in Valahir, die vollkommen unberührt waren. Inzwischen jedoch sind die Abenteuerlustigen aus dem Süden sogar schon einmal bis zum Shanguin-Gürtel vorgedrungen. Nur einzelne, natürlich. Aber wir könnten nicht garantieren, unbeobachtet zu bleiben. Und Mondor zufolge hat die Magie von damals ihre Kraft fast vollständig eingebüßt. Wenn wir unser Silber auf der Abendinsel dieser Zeremonie unterziehen, wird es uns für viele Jahre... nein, für viele Generationen eine Macht sichern, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Es ist sehr wichtig, dass du das verstehst."

      Sie legte den Kopf zur Seite, gerade so, als wolle sie eine zynische Antwort geben, doch bereits als sie den Mund öffnete, schüttelte Saton den Kopf.

      "Du brauchst gar nicht zu fragen. Ich kann dich nicht mitnehmen. Noch nicht. Wenn ich im Herbst dorthin reise, um nach dem Rechten zu sehen, wird mich nur Wandan begleiten. Sonst niemand. Aber wenn alles gut verläuft und du weiterhin solche Fortschritte machst, die es es dir erlauben, auch einmal eine längere Zeit des Unterrichts zu versäumen, könntest du im nächsten Jahr mitfahren. Darüber werde ich aber erst nachdenken, wenn es soweit ist."

      "Wo ist der Unterschied? Ob in diesem Jahr oder im nächsten... Ich habe bereits zwei Säbelklassen überholt und seit einem Jahr habe ich Sichelunterricht! Früher als jeder andere! Und beim Shajkan gibt es niemanden mehr, den ich nicht...!

      "Lenyca..." Saton hob seine Stimme etwas und sie bekam einen belehrenden Unterton. Er war versucht, sogar den Zeigefinger zu erheben, doch konnte er diesen Impuls gerade noch unterdrücken. "Ich mag es nicht, wenn du so angibst. Natürlich bist du gut. Aber das allein ist eben noch nicht ausreichend. Ich verspreche dir, ich werde darüber nachdenken, dich in einem Jahr mit zur Insel zu nehmen. Das halte ich sogar für sehr sinnvoll, ich möchte schließlich, dass du einmal mehr zu sehen bekommst als unser Sichelland, so schön es auch sein mag. Nur jetzt noch nicht. Doch ich habe einen anderen Vorschlag. Beleb und Cala haben mich bedrängt, ihnen in den nächsten Wochen einen Erkundungsritt zur Vala-Schlucht zu erlauben. Wenn du möchtest, darfst du daran teilnehmen. Und ich werde auch zusehen, dass du Shanguin und Valahir besuchst. Ich habe nicht vergessen, wie gut du dich gegen die beiden Hantua geschlagen hast, denen wir vor einiger Zeit an unserer Südgrenze begegnet sind. Wäre das ein Kompromiss bis zum nächsten Jahr?"

      Sie seufzte ergeben. "Meinetwegen. Aber ich will auch wieder nach Yto Te Vel."

      Saton hob überrascht den Kopf.

      "Wie kommst du denn darauf? Ich dachte, dir hätte es nicht sonderlich im Tempel gefallen?" Er erinnerte sich an die letzte Reise in den Norden.

      "Ich will ja auch nicht in den Tempel, sondern ins Dorf."

      "Und warum, wenn ich fragen darf?"

      "Es war ganz nett dort."

      "Nett? In Yto Te Vel? Ohne Säbeltraining? Du warst doch die meiste Zeit ...ach... Augenblick... dein merkwürdiges Verlangen hat doch hoffentlich nichts mit Mondor zu tun?"

      "Und wenn? Er hat mir ein paar interessante Geschichten erzählt."

      "Ich kann mir schon denken, was das für Geschichten waren. Versteh mich nicht falsch, Mondor gehört zu meinen engsten Vertrauten. Und er kennt dich seit deiner Geburt. Aber er ist sehr eigen. Und ich weiß, womit er dich locken kann. Du bist eine Batí, Lenyca, aber das bedeutet nicht, dass du dich an alles wagen solltest, was in Yto gelehrt wird. Manche Dinge sind nur für die Ohren von Priestern bestimmt."

      "Aber ich bin..."

      "Ich weiß, was du bist. Aber das Blut in deinen Adern ersetzt nicht die Lehre der Tempel und das Wissen, das dort vermittelt wird. Ich fürchte, ich werde Mondor noch einmal eindringlich darüber aufklären müssen, welche Geschichten für eine Fünf... - naja gut, sagen wir Sechzehnjährige - ein wenig unpassend sind."

      Sie verdrehte die Augen und Saton kannte diese Mimik schon derart genau, dass er fast lachen musste. Geduld war nach wie vor nicht Lennys' Stärke.

      "Immer das Gleiche. Immer höre ich, dass ich zu jung bin. Wenn es nach dir ginge, müsste ich wahrscheinlich noch mit Rasseln spielen und mir das Essen vorkauen lassen."

      "Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Und für einiges scheinst du nun gar nicht mehr zu jung zu sein. Wie ich gehört habe, haben bereits einige junge Männer ein Auge auf dich geworfen. Ich hoffe, sie wissen sich zu benehmen."

      Er sagte es nicht böse oder gar vorwurfsvoll und obwohl Lennys davon überzeugt war, dass es ihren Vater nicht das Geringste anging, wie und mit wem sie ihre Freizeit verbrachte, wollte sie dennoch keine Missverständnisse aufkommen lassen.

      "Die interessieren mich nicht. Die meisten sind doch nur dumme Trampel."

      "Du sprichst aus Erfahrung?"

      "Wenn du so willst. Mach mir bloß keine Vorhaltungen! Rahor Req-Nuur hatte schon einige Mädchen und Dway..."

      "Beide sind auch etwas älter. Aber gut. Es ist in Ordnung. Du kennst meine Bedingungen. Tu was du willst, aber ..."

      Ein Husten unterbrach den Shaj und gleich darauf schlüpfte Wandan durch den Zelteingang.

      "Verzeih Saton... und Lennys natürlich, ...dass ich mich nicht