ein, einverstanden?“ Natürlich wusste sie, dass Torsten NIEMALS nein sagen würde zu der typisch türkischen Pizza. Torsten konnte man eigentlich mit allem kommen, was essbar war. Ihr gemütlicher beleibter Kollege war da gar nicht wählerisch. „Also, du weißt ja, dass ich Lahmacun gerne esse, da sag ich nicht Nein. Außerdem,“ er grinste tückisch, „es gibt da so einen Schnack über Chinesen und ihr Essverhalten. Der fällt mir gerade ein, passt zur Situation und zu mir: Ein Chinese isst alles, was Flügel hat, außer Flugzeuge und alles, was vier Beine hat, außer einem Tisch.“ Er grinste, Günnur lachte und stieß ihm in die Seite: „Wer weiß, in was du schon so alles reingebissen hast mit deinem Appetit! Und jetzt schmälere mal das türkische Essen nicht so, also mit Tischen und Flugzeugen ist das nun echt nicht vergleichbar!“
Das stimmte, denn in dem kleinen Restaurant im Norden der Stadt, natürlich in Bahnhofsnähe, wie so oft bei den Spezialitätenrestaurants der Einwanderergeneration, gab es das beste Lahmacun der Stadt. Und diese Köstlichkeiten gab es auch noch kostengünstig. Dafür saß man recht karg auf Plastikstühlen an Kunststofftischen, von denen es auch nur fünf gab. Die Atmosphäre glich einem Wartesaal oder einem öffentlichen Büro, aber das war in der Türkei oft so, erklärte Günnur Torsten. „Das beste Essen gibt es meistens in den einfachsten Büdchen. Nur in den großen Städten zählt langsam auch das Innenambiente mehr. Und die hier machen sowieso ihr Hauptgeschäft mit Take away“, erläuterte Günnur, „also die Leute holen sich ihr Essen nach Hause oder kriegen es sogar für die ganz Faulen dorthin geliefert.“
Torsten biss in die weiche gerollte Hefeteigpizza, genoss den guten Geschmack nach Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Gewürzen und Hackfleisch und spürte die angenehme Schärfe, die sich in seinem Mundraum verteilte. „Ist doch eigentlich schlimm, dass wir nach so grauenvollen Fällen immer schon wieder essen und genießen können, oder?“ fragte er Günnur mit vollem Mund.
„Freu dich doch!“, sagte sie zu ihm. „Das zeigt, dass du nach wie vor eine gesunde Psyche hast, nicht zu unserer lieben Simone musst und in der Lage bist, das Ganze hochprofessionell anzugehen!“ Torsten nickte, schluckte seinen letzten Bissen Lahmacun herunter und wischte sich mit einer Minipapierserviette die vom Tomatenmark leicht geröteten Mundwinkel ab. Simone war ihre hochgeschätzte Polizeipsychologin, die immer mal wieder mit Rat und Tat zur Seite stehen musste, wenn ihnen etwas auf der Seele brannte. „Ablenkung ist immer gut, wie sie so schön zu sagen pflegt.“, ergänzte er. „Aber ich denke, wir müssen mal wieder los. Hannah hat sich gemeldet, die haben was gefunden.“
Wieder am Studentenwohnheim beim Campus im Süden der Stadt angekommen, registrierten die beiden mit Erleichterung, dass sich die Trauben von Studierenden verflüchtigt hatten. Das Studentenwohnheim war ein eher hässlich zu nennender Bau aus den siebziger Jahren, der wie ein großer Klotz wirkte. Günnur zählte zehn Stockwerke und schätzte, dass nach den Briefkästen zu urteilen ungefähr 300 Studentinnen und Studenten dort wohnten. Nicht gerade wenig, was durchaus zur Anonymität beitrug. Umso schöner eigentlich, dass sich so viele Kommilitonen für Zhang Lis Schicksal zu interessieren schienen.
Im fünften Stock angekommen, trafen sie gerade noch auf den Notarzt Dr. Schnellinger, den Günnur bereits von früheren Einsätzen dieser Art kannte. „Wie geht es den beiden?“, fragte sie ihn.
„Naja, ich würde mal sagen, den Umständen entsprechend. Ich habe beiden ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. HaiPing schläft in der Nacht bei ShenHui, weil das Appartement der beiden noch für die Spusi gersperrt ist. Ich finde das auch besser, da ist er nicht allein. Eventuell könnt ihr sogar versuchen, ein erstes Gespräch mit ihm zu führen. Ist im siebten Stock, Nummer 734.“
„Frau Helmer und Herr Beimann sind noch oben, oder?“ fragte Torsten. „Jaja, gehen Sie nur hoch. Die Leiche ist vorhin abtransportiert worden. So gesehen haben Sie da jetzt freie Bahn...“. Er lachte mit einem bitteren Unterton. „O.k., danke, schaun wir mal“, sagte Günnur und sie wandten sich zunächst in Richtung des Appartements der Toten. Dort stand Hannah im Zimmer, in der sie LiLi gefunden hatten.
Für das Appartement hatte Günnur bisher noch keine Augen gehabt. Es war ein Doppelappartement mit einem kleinen Flur und einem kleinen Bad mit Dusche und WC. Die zwei Zimmer hatten die beiden augenscheinlich in ein Schlaf- und das Arbeitszimmer umgewandelt, in dem LiLi gelegen hatte. Alles machte einen blitzsauberen Eindruck und war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet. Das Arbeitszimmer hatte zwei Schreibtische, die gegenüberstehend an die Wände gerückt waren. Die Regale standen voll mit Büchern. Günnur schritt sie langsam ab und ertappte sich dabei, wie sie am liebsten mit der Hand über die Buchrücken gestrichen hätte. Sie liebte Lesen und Bücher und konnte der digitalen Lesewut nach wie vor nichts abgewinnen. Lieber hielt sie ein „analoges Buch“ in der Hand, das sie anfassen und vor allem riechen konnte. Jedes Buch roch anders, fand sie und manchmal dachte sie, dass sie die gängigen Buchverlage sozusagen „erriechen“ konnte. Damit wäre sie gerne schon als Kind bei „Wetten, dass...“ aufgetreten, aber ihre Eltern machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Nun hatte sie weder Zeit noch Lust und außerdem war dieser Fernsehdino inzwischen leider eingestellt. Die Buchauswahl war ihr in Bruchteilen von Sekunden klar. Sie sah in einem Regalfach Titel wie den Pschyrembel und Sobotta, was dafür sprach, dass einer der beiden eindeutig Medizin studierte. Gegenüber standen Bücher zur organischen und anorganischen Chemie, der Mortimer und andere Bücher, aus denen man unschwer erkennen konnte, dass hier ein Chemiestudierender wohnte. Ebenfalls sah sie viele chinesische Titel. Denen konnte sie nicht mal interpretativ entnehmen, worum es hier gehen könnte. Diese Schriftzeichen zu lernen musste ein hartes Brot sein, dachte sie anerkennend und fast ehrfürchtig. Kein Wunder, dass viele Chinesen so schlau sind, bei dem, was die lernen müssen, um allein nur richtig lesen und schreiben zu können...
In einem unteren Regal entdeckte sie wieder Bücher auf Deutsch, unter anderem die Bibel, ein Gesangbuch mit weinrotem Einband und mehrere Gebetbücher. Daneben wieder chinesische Bücher. Eins war besonders dick und hatte einen festen schwarzen Einband. Musste wohl die Bibel sein. Seltsam. Sie dachte an die Stellung der Toten zurück. Hieß das, dass die beiden oder einer von ihnen Christen waren? Das musste sie im Gespräch mit HaiPing unbedingt herausbekommen. Warum tötet jemand durch ein Kreuz im Bauch und drapiert dann die Tote in dieser Art und Weise?
Ihr Blick fiel auf den linken Schreibtisch. Dort war eine begonnene Kalligrafie zu sehen, die das Pergament bereits zur Hälfte bedeckte. Schön sah es aus und Günnur war sich sicher, dass ZhangLi daran gearbeitet hatte. Neben der Kalligrafie lag ein kleiner Notizzettel mit einem Spruch auf Deutsch: „Niemals werde ich dir meine Hilfe entziehen, niemals dich im Stich lassen. Josua 1,5.“ Daneben chinesische Schriftzeichen, die den großen sehr ähnelten. Ein stärkender Spruch, fand Günnur. In ihrem Leben an der Schule hatte sie regelmäßig am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen, weil es keine Islamkunde gab. „Ist schade, aber Religionsunterricht schadet nie, du gehst da hin!“, hatte ihr Baba, ihr Vater, gesagt. Es hatte ihr auch in der Tat nie geschadet. Sie bekam Einblicke in eine andere Religion, die sehr interessant und hilfreich, manchmal auch widersprüchlich zum Islam waren. Immer mal wieder gab es Diskussionen mit Lehrern und Mitschülern, weil Günnur, die alles immer ganz genau wissen wollte, bestimmte Dinge nicht verstand oder hinterfragte. Insgesamt hatte der Religionsunterricht dazu beigetragen, dass Günnur merkte, wie viele Aspekte der Religionen sich ähnelten. Außerdem brachte es sie dazu, sich selbstständig über ihre eigene Religion zu informieren, sodass sie sich nach einiger Zeit dort recht zuhause fühlte. Das gefiel vor allem ihrem Baba sehr, der sie immer wieder ermunterte, sich mit dem Islam zu beschäftigen, weil er selbst sehr gläubig war und eine tolerante liberale Einstellung zum Glauben hatte.
Der Spruch würde Baba auch gefallen, dachte sie, aber vielleicht kannte er ihn auch, denn er war im Alten Testament, aus dem das Buch Josua stammte, durchaus belesen. Nur schade, dass ZhangLi in dem Moment des Todes nun doch von Gott im Stich gelassen wurde. Aber auch das war das Mysterium des Glaubens. Nur weil man glaubte musste ja nicht das gesamte Leben glatt gehen. Glaube war leider keine automatische Lebensversicherung. Aber er tat gut, das konnte Günnur aus eigener Erfahrung sagen.
„Hannah, habt ihr schon irgendwas Brauchbares rausgefunden?“, fragte Torsten, der sich im Schlafzimmer der beiden umgesehen hatte, seine Kollegin. „Ja, wie man’s nimmt...“, sagte die mit schiefem Blick. „Dass die Wunde