Franziska Frey

Ihr letztes Schriftzeichen


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ist sie mit einem stumpfen Gegenstand zunächst bewusstlos geschlagen worden, bevor ihr die Wunde im Bauchraum zugefügt wurde. Aber auch das soll der Rechtsmediziner untersuchen. Dann wissen wir Genaueres und kommen aus dem Bereich der Spekulationen raus.“ Hannah deutete auf die Bücher. „Vorstellbar ist etwa ein dickes Buch.“ Ihr Blick fiel auf den Pschyrembel, den sie aus dem Regal zog. „Wenn du etwa mit dem heftig zuhaust, beförderst du jemanden in Millisekunden in die Bewusstlosigkeit. Das Problem ist nur, dass hier in diesem Appartement und am gesamten Inventar -zig verschiedene Fingerabdrücke und Spuren zu finden sind. Das hier war wohl ein sehr offenes Haus, in dem sich viele Menschen bewegt haben. So kann es im Prinzip jeder gewesen sein, der seine Spuren hier hinterlassen hat. Und es wird noch schlimmer, aber da gehen wir mal zu Felix in die Küche.“

      Günnur zog die Augenbrauen hoch. Es war immer das Gleiche mit ihren Ermittlungen, sie gleichen leider nur zu oft einem Puzzle mit mindestens 10.000 Teilen. Das schien wieder so eins zu sein, an dem sie im übertragenen Sinne wieder mit dem gesamten Team um den Tisch mit dem Riesenpuzzle sitzen würden. Nur gut, dass sie Puzzles schon immer gerne mochte.

      Sie folgten Hannah in die Gemeinschaftsküche und grüßten Felix, der sich über eine Schublade beugte und in ihr kramte. Hier zeigte sich, dass das Studentenwohnheim für eine andere Zeit gebaut worden war. In den siebziger Jahren waren noch keine Küchen in den Zimmern angedacht. Heute gehörte das eigentlich zum Standard der Wohnheime. Hier konnten sie froh sein, dass immerhin jedes Zweierappartement ein eigenes Bad und ein eigenes WC hatte - war beim Bau wahrscheinlich topmodern gewesen. Das war auch längst keine Selbstverständlichkeit, wie sie von ihrem Mann Tobias wusste, der in einem Wohnheim aus den sechziger Jahren ohne diesen Komfort untergebracht war. Aber auch das war schon wieder Jahre her.

      In der Küche sah es so aus, wie es jedem Klischee einer Wohnheimküche entsprach. Zuständig für das Putzen und Aufräumen war offensichtlich wie immer keiner, trotz eines Putzplanes, der wie anklagend mit Eselsohren an einem Schrank hing. Dementsprechend klebten die Herdplatten unter einer mehr oder weniger braunen Schicht. Die Griffe der Schränke klebten ebenfalls und das Geschirr machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Günnur schluckte. Hier hätte sie als Bewohnerin entweder ihr eigenes Geschirr in ihrem Zimmer gehabt oder vor jedem Kochen und Essen eine Abwaschorgie eingeleitet. Ähnlich sahen die Sitzecken aus, die vielleicht mal Gemütlichkeit ausgestrahlt hatten. Heute strahlten sie mehr Unhygiene und Staub aus. Die Stühle waren eine bunt zusammengewürfelte Mischung aus diversen Modellen und das Sofa schrie mit seinen Kissen förmlich: „Mach mich sauber, ich stinke und bin dreckig!!!“ Die Tische waren zerkratzt und verklebt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass hier ernsthaft Leute mit Appetit essen würden. Aber Studenten waren vielleicht hartgesottener als sie dachte.

      Hannah deutete auf einen Gegenstand, der auf der Arbeitsfläche lag. „Wir sind uns ziemlich sicher, dass an diesem Messer Reste von Blutspuren zu sehen sind.“, sagte sie zu Günnur und hob das Messer hoch. Die zog die Nase kraus und schaute sich das Messer mit zusammengekniffenen Augen genau an – was gar nicht so einfach war, denn ohne ihre geliebte Lesebrille sah sie nur eine verschwommene Oberfläche. Nix mit irgendwelchen Blutspuren. Aber sie hatte einfach keine Lust, jetzt auch noch bei einer Tatwaffenbetrachtung am Tatort ihre Brille zu zücken und verließ sich zunächst mal auf die Beobachtungen der Kollegen. Das würde ja noch weiter untersucht werden und die beiden waren kompetent genug, wesentliche Dinge zu erkennen. „Naaa, soll ich dir mal wieder mein Nasenfahrrad leihen?“, frotzelte Torsten und hielt ihr seine Brille vor das Gesicht. „Ach, du....“, wollte sie gerade ansetzen, aber Torsten drohte ihr spielerisch mit dem Entzug der Brille, woraufhin sie beherzt zugriff. Aha. Schon besser und schärfer.

      So ein Messer hatte sie bisher nur beim Schlachter gesehen. Der benutzte das zum Durchhacken der Lammkeulen, die sie manchmal kaufte. Es sah aus wie ein Hackbeil mit einem Holzgriff. Die Klinge war relativ kurz, weniger als 20 Zentimeter, schätzte sie. Dafür war es ungeheuer breit, fast 10 Zentimeter. Rechts oben am Schaft waren in der Tat ganz hellbraune Flecken zu sehen, durch Torstens Brille sogar richtig scharf, wie sie begeistert feststellte. Sie sahen eher aus wie Spritzer. Bei der Hygiene der Küche wäre Günnur das komplett als Unsauberkeit durchgegangen. Aber dazu hatte sie ja aufmerksame Kollegen wie Felix und Hannah. Für sie sah es aus wie ein oberflächlich dreckig gebliebener Abwasch nach einer gemeinsamen Kochaktion. Sie schluckte und sah die Salmonellen aus allen Ecken und Schubladen nahezu auf sich zu springen. Besser, hier nie eine Brille zu tragen oder fast blind zu sein. Sie schüttelte sich innerlich, gab Torsten seine Brille zurück und war froh, von einem Blick in die Kühlschränke verschont zu bleiben.

      „Ist das ein Schlachtermesser oder was? Sieht ja wirklich aus wie ein Mordinstrument.“, fragte Torsten die beiden. „Das ist ein ganz normales gängiges chinesisches Küchenmesser“ erläuterte Felix. „Kannst du googlen, findest du sofort. Ich denke, dass das in dieser Küche zur normalen Ausstattung gehört, weil viele chinesische Studierende hier wohnen. Macht unsere Arbeit natürlich auch nicht leichter, so ein Gemeinschaftsmesser, das jeden Tag wahrscheinlich durch Dutzende von Händen geht und jeder hinterlässt seine Spuren darauf. Aber schauen wir mal, was sich machen lässt. Ich hab noch ein anderes normales deutsches Messer gefunden, bei dem wir uns nicht sicher sind, ob das wirklich Blut ist, was dran klebt. Das nehmen wir auch mit.“ Er zog zwei Plastiktüten aus seiner Tasche, beschriftete sie und steckte beide Messer hinein.

      „Habt ihr noch was rausgefunden?“, fragte Günnur. „Nee, das waren die zwei wichtigsten Sachen“, antwortete Hannah. „Wir sperren hier bis morgen erst mal alles vorsichtshalber ab. Bis dahin wissen wir Genaueres. Das Appartement bleibt sowieso gesperrt, bis wir wissen, wie genau ZhangLi gestorben ist. Falls sich eines der beiden Messer als Tatwaffe herausstellt, kann der Betrieb hier normal weitergehen. Naja...“, sie schaute sich um und rümpfte die Nase „was man sich so als normal vorstellt. Ein kulinarischer Genuss wäre mir bei diesem appetitlichen Ambiente hier jedenfalls nicht vergönnt.“, sagte sie sarkastisch und traf damit den Nagel auf den Kopf. Gut, dachte Günnur, dass sie schon hygienisch und lecker gegessen hatten.

      „Torsten und ich gehen nochmal zu HaiPing. Der Arzt meinte, dass er in Maßen schon vernehmungsfähig ist.“, sagte sie zu Hannah und Felix.

      „Ja, macht mal, wir sehen uns später, wir sind auch bald fertig. Ich mach hier noch einen letzten Rundgang.“, erwiderte Felix.

      Die zwei Stockwerke bis in die siebte Etage erledigten sie ohne Fahrstuhl, was Torsten zum Schnaufen brachte. „Naaaa, länger nicht mehr gecacht oder was?“, frotzelte Günnur. „Als ob ich da meine physische Kondition trainieren würde!“, schnaufte Torsten. „Die Kinder haben keinen Bock mehr auf längere Wandercachertouren, also machen wir nur die Drive-ins bei denen man direkt an die Dose ranfahren kann. Nix mit Training für Papa...“

      „Tja“, brüstete sich Günnur - „meine Löwenfamilie ist ganz scharf auf längere Wandercachertouren. Gerade letztes Wochenende sind wir wieder zwölf Kilometer mit 24 Dosen abgelaufen. Macht richtig Spaß, Torsten. Wir sind dir ewig dankbar für den Tipp!“

      Vor einigen Monaten hatten die beiden einen Fall eines toten Cachers zu bearbeiten, bei dem Günnur durch Torsten, der schon lange Geocaching als Hobby hatte, in die Geheimnisse des Cachens eingeweiht wurde und gleichzeitig ihre Familie angesteckt hatte. Inzwischen waren sie bei gutem Wetter richtig oft unterwegs. Ihren drei Kindern Serdar, Lale und Beyza machte es ungeheuren Spaß, die versteckten Dosen mit ihrem GPS zu suchen. Tobias hatte als Stubenhocker auch Gefallen daran gefunden und sie machte gute Miene zum bösen Spiel, denn eigentlich war sie durch ihren Beruf oft genug draußen und zog ein gepflegtes Daheimsein einer Wandertour mit entsprechendem Outfit vor. Aber die Freude, die sie in den Gesichtern ihrer Kinder sah, war durch nichts zu ersetzen – und wer weiß, wie lange es noch diese tollen gemeinsamen Ausflüge als komplette Familie geben würde. Irgendwann würde es den Kindern in jedem Fall zu blöd werden, mit den eigenen Eltern durch den Wald zu ziehen und Plastikdosen zu suchen. Die Pubertät nahte mit Riesenschritten und war durch nichts aufzuhalten, wie jedes Elternteil wusste. Also sollte man diese Zeit einfach genießen.

      Inzwischen waren sie vor dem Appartement 734 angekommen und Torsten klopfte. ShenHui öffnete mit kleinen roten Augen die Tür und bat die beiden herein. Er wohnte im linken Zimmer. HaiPing saß, ebenfalls mit roten dicken Augen und trübem Blick auf ShenHuis Bett. Der