Riegel verschlossen wurde. Mit aller Kraft schiebt sie ihn beiseite und drückt den Deckel neugierig nach oben. Um besser hineinsehen zu können, holt sie schnell einen kleinen Fußschemel.
»Was ist das? Ein Stein?«, fragt sie verwirrt und lässt ihre Großmutter das Geschenk herausnehmen. Mühsam hebt die alte Hexe den Stein aus der Kiste und hält ihn dem Mädchen verzückt entgegen.
»Das, meine Liebe, ist ein Lythargium. Dein eigener Gedankenstein. Er bewahrt sowohl die Gedanken deiner Vergangenheit wie die der Gegenwart. Er ist der Wächter deines Horts, dem Platz, den niemand außer dir betreten kann. Es sei denn, dass du dies ausdrücklich wünschst.
Dieses Lythargium wurde aus einem seltenen Stein gefertigt, der nur in den unerreichbaren Felsen hinter dem toten Wald vorkommt. Er wird von den Griefern aus den dortigen Minen geborgen und mit dem Wasser des schwarzen Flusses gewaschen, bevor jeder dieser Steine selbst seinen Besitzer ernennt.
Ich war voller Freude, als ich gestern darüber benachrichtigt wurde, dass dieser Stein dich erwählt hat. Das bedeutet, dass du nun die Zauberkunst des dunklen Phads erlernen darfst. Du bist jetzt alt genug, um unsere Familientradition fortzuführen!«
Oma Vettel schreitet langsam auf Jezabel zu. Broaf, der hinter der alten Dame steht, wischt sich vor Rührung eine Träne von der Wange.
»Sobald du diesen Stein in die Hände nimmst, bringt er dich in deinen Hort. Dies ist ein rein geistiger Ort, der nach deiner eigenen Vorstellung errichtet wird.
Beim ersten Mal ist es etwas erschreckend, da du deinen Hort noch nicht eingerichtet hast. Du wirst dich also in einem grauen Nebel wiederfinden. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Halte den Stein gut fest und schließe deine Augen. Stell dir ganz genau vor, wie es dort aussehen soll. Wenn du das geschafft hast, kannst du deine Augen wieder öffnen und findest dich an einem wunderschönen und sicheren Ort wieder. Es ist allerdings sehr wichtig, dass du den Stein danach sofort wieder ablegst!
Verstehst du mich, Jezabel? Auch wenn die Versuchung noch so groß ist, darfst du beim ersten Mal noch kein Erlebnis aus deiner Vergangenheit aufrufen! Das würde dich überfordern. Also, mein Schatz. Bist du bereit?«
Jezabel zögert einen Moment und sieht ängstlich zu Broaf, bevor sie den Stein entgegennimmt. Im selben Augenblick befindet sie sich auch schon an einem anderen Ort. Das kleine Mädchen sieht sich ängstlich um. Sie steht in einem undurchdringlichen, grauen Nebel und starrt auf den Stein, der trotz seiner Größe leicht und warm in ihren Händen ruht. Sofort verschließt sie die Augen, da sie nicht lang überlegen muss, welchen Ort sie wählt.
»Mein Hort soll wie der verzauberte Garten hinter Großmutters Haus sein«, flüstert sie.
Da sie trotz ihres jungen Alters über eine herausragende Vorstellungskraft verfügt, fällt ihr diese Imagination nicht schwer. Sie sieht die Rosenbäume, zwischen denen ihre Blütenschaukel hängt. Die Himbeerhecken, von denen sie das ganze Jahr naschen kann, und dann fügt sie noch Florence das Sonnentrichterorakel ein, mit dem sie so gern über ihre Märchenbücher redet. Plötzlich wird ihr kalt. Sie presst die Augen noch fester zusammen und stellt sich einen wunderschönen Sommertag vor. Als sie spürt, wie ihre Haut sich erwärmt, öffnet sie neugierig die Augen und kommt aus dem Staunen nicht heraus. Der graue, triste Nebel ist verschwunden. Sie steht nun inmitten eines wunderschönen Gartens, der dem hinter Großmutter Vettels Haus tatsächlich sehr ähnelt. Nur ein paar Kleinigkeiten, wie die Lollipopblumen und den großen Schmetterling, hat sie sich dazugedacht.
Trotz der einschlägigen Warnung ihrer Großmutter legt sie ihr Lythargium aber nicht sofort wieder ab, sondern hält es fest in ihren Händen, während sie neugierig durch ihren Hort schleicht. Hinter den Himbeerhecken entdeckt sie eine Marmorsäule. Intuitiv hebt sie den Gedankenstein hoch und setzt ihn auf die steinerne Einkerbung. Ein tiefer Summton erfolgt, worauf der Stein seltsam zu leuchten beginnt. Jezabel ist aufgeregt, da nun wunderschöne, kleine Sterne herausgewirbelt kommen, die um sie herumtanzen.
»Auch wenn Großmutter es verboten hat, möchte ich so gern meine Eltern wiedersehen. Was soll so schlimm daran sein?«, flüstert sie versonnen, während sie unbewusst an das alte Familienalbum denkt. Die einzige Möglichkeit der letzten Jahre, ihre Eltern zu sehen. Oma Vettel holt es an manchen Abenden hervor und erzählt ihr zu jedem Bild eine lange Geschichte.
Da bemerkt sie, dass sich hinter ihr etwas tut. Erschrocken dreht sie sich um und entdeckt an der Stelle, wo die Blütenschaukel hing, einen großen Tisch. Neugierig schleicht sie hinüber und findet darauf ein altes Fotoalbum, ähnlich dem ihrer Großmutter, üppig bestückt mit Fotos ihrer Eltern. Da wird dem Mädchen bang. Auch wenn sie noch fast ein Baby war, als diese verunglückten, vermisst sie sie sehr. Versonnen streicht sie über ein Foto, auf dem ihre Eltern sie glücklich anstrahlen.
»Fotos. Ich sehe euch immer nur auf Fotos. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie eure Stimmen klangen.«
Da kommt ihr eine Idee.
»Ich habe vorhin an ein Fotoalbum gedacht. Das ist es!«
Man sollte in diesem Moment vielleicht anmerken, dass Jezabel für ihr Alter sehr klug ist.
Das kleine Mädchen konzentriert sich und spricht laut:
»Ich möchte meine Eltern sehen! Aber nicht nur auf einem Foto. Ich will sie ein letztes Mal sehen und bei ihnen sein!«, ruft sie trotz der Warnung ihrer Großmutter fordernd in den Garten.
Plötzlich wird es düster und ein kühler Wind kommt auf. Der Ort verändert sich. Die Umgebung verschmiert vor ihren Augen und lässt die Farben verblassen. Jezabel fällt zu Boden und bemerkt, dass um sie herum alles viel größer wird. Aus weiter Entfernung hört sie aufgeregte Stimmen. Sie sieht sich panisch um und stellt fest, dass sie in einem Auto ist. Der Hort hat sie also in die Erinnerung geschleust, als sie ihre Eltern das letzte Mal sah.
Eine blonde Frau sitzt vor ihr auf dem Beifahrersitz und dreht sich ängstlich zu ihr. Während der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit das Auto manövriert, löst sie den Gurt und kriecht zu dem Mädchen. Jezabel folgt den Blicken ihrer Mutter, die fortwährend mit angstverzerrter Miene aus dem Fenster sieht. Die Bäume, die sie durch das Fenster sehen kann, fliegen immer schneller an ihnen vorbei. Und sie bemerkt noch etwas, das nicht in diese Landschaft passt. Riesige, schwarze Vögel, die in unmittelbarer Entfernung neben ihnen herfliegen und fürchterlich kreischen.
»Du brauchst keine Angst zu haben, mein Schatz! Es ist nur ein Spiel! Hörst du. Versteck dich unter dem Sitz und verhalte dich ganz still! Mami hat dich lieb.«
Die Frau löst den Gurt des Mädchens und lächelt sie seltsam an.
»Mama. Diese Frau ist meine Mama! Aber wovor hat sie Angst?«
Jezabel versucht sie zu berühren, aber ihre Mutter drückt sie sanft unter den Sitz und legt ihren Zeigefinger an die Lippen. Dann setzt sie sich wieder zu Jezabels Vater, der sich umdreht und ihr beruhigend zuzwinkert.
»Keine Angst, kleine Prinzessin. Diese Hexen kriegen uns nicht!«
Jezabel hat aber Angst! Sie versucht ihren Eltern etwas zuzuschreien, aber die können sie nicht hören, da sie sich in ihrer Vergangenheit befindet und deshalb nicht eingreifen kann. Ein paar Worte, die ihre Mutter ständig wiederholt, merkt sie sich:
Dunkler Phad, Darania, Marla, Legende und Skulks.
»Skulks!«, kreischt die junge Frau hysterisch, dann folgt ein dumpfer Schlag.
So als wäre etwas Großes auf das Autodach gefallen. Ängstlich presst Jezabel die Hände vor die Augen und schreit: »Aufhören!«
Und im nächsten Moment ist es still.
Es dauert ein paar Sekunden, bis das kleine Mädchen sich traut, die Augen zu öffnen. Ganz langsam nimmt sie die Hände herunter und sieht sich ängstlich um. Sie ist wieder in ihrem Hort und liegt auf der Blütenschaukel. Ohne nachzudenken, springt sie auf und rennt zur Marmorsäule. Sie nimmt den Gedankenstein herunter und schmeißt ihn fluchend zu Boden. In diesem Moment steht sie wieder im Esssalon. Oma Vettel starrt entsetzt auf den Stein und dann zu ihrer Enkelin. Eine angespannte Atmosphäre beherrscht plötzlich den Raum.