Christine Boy

Sichelland


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      „Wie kommt es, dass du nicht dafür gesorgt hast, dass manche schlechten Nachrichten etwas entschärft werden?“

      „Entschärft?“ Talmir gab sich verwundert. „Wovon sprichst du? Makk-Uras Tod lässt sich nicht schönreden!“

      „Du weißt genau, was ich meine. Aber bevor wir davon sprechen, wüsste ich gern was passiert ist. Frajs Nachricht war nicht gerade ausschweifend.“ Endlich nahm Lennys Platz und nun setzte sich auch Sara.

      „Bedient euch.“ sagte Talmir aufmunternd und deutete auf die gedeckte Tafel, doch Lennys schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

      „Wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier. Ich will so schnell wie möglich nach Semon-Sey reiten. Also? Ich höre!“

      Unbeeindruckt von Lennys' scharfem Ton füllte Talmir drei Becher mit Tee und reichte Sara einen davon.

      „Die letzten Tage waren entsetzlich. Ich weiß einfach nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Nun gut, am besten, ich fange von vorne an. Makk-Ura und ich hatten uns einiges vorgenommen. Wir wollten die Silberzuteilung für die Großtempel im nächsten Jahr festlegen. Außerdem war da noch eine unschöne Geschichte zu klären. Einer der höchsten Zimmermänner, der im Übrigen auch für Makk-Uras persönliches Mobiliar verantwortlich war, steht unter dem Verdacht, heimliche Geschäfte mit den Shangu zu machen. Die mir unterstellten Richter verstehen da keinen Spaß und Makk-Ura wollte wohl bei mir ein gutes Wort für den Mann einlegen. Wie dem auch sei, wir trafen uns also in seinem Haus und wollten zuerst die Angelegenheit mit dem Silber erledigen. Es waren wirklich zähe Verhandlungen, wie immer, wenn es um dieses Thema geht. Jedenfalls kamen wir irgendwann nicht mehr weiter und Makk-Ura lud mich ein, in seinem Hause zu übernachten. Um die Gemüter zu beruhigen, tranken wir abends noch gemeinsam Tee und sprachen über die Sache mit dem Zimmermann. Alles war ganz normal. Plötzlich meinte er, dass er sich nicht wohlfühle. All das lange Reden und die Diskussionen seien ihm wohl auf den Magen geschlagen. So oder so ähnlich hat er sich ausgedrückt. Er wollte unbedingt noch einmal an die frische Luft. Auf der Treppe, die hinunter in seinen Garten führt, ist er dann zusammengebrochen und hinabgestürzt. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.“

      Talmir erzählte den Vorfall so erschüttert, als sei er dadurch gezwungen, alles noch einmal hautnah mitzuerleben. Lennys hingegen schien wenig beeindruckt.

      „Also das Herz?“

      „Nein... also... ich weiß nicht, warum er zusammengebrochen ist... Aber als er die Treppe herabfiel, hat er sich das Genick gebrochen.“

      Überrascht horchte Lennys auf. „Das Genick gebrochen? Ich kenne sein Haus, es sind nur ein paar Stufen in den Park hinunter.“

      „Ja, aber er ist wohl sehr unglücklich aufgeschlagen. Ich war wie unter Schock, aber seine Diener kamen gleich herbei und da.... da konnten sie nur noch seinen Tod feststellen.“

      „Wieso hast du von Mord gesprochen? Frajs Botschaft war eindeutig.“

      „Mord? Ich soll von Mord....? Nein, nein, ganz sicher nicht. Zugegeben, es sind seltsame Umstände gewesen...“ Er druckste ein wenig herum. „Nun ja, einer meiner Diener meinte, seine Zunge wäre merkwürdig verfärbt gewesen, wie es manchmal bei Vergiftungen vorkommt. Aber das ist völlig ausgeschlossen! Und er starb ja am Genickbruch, das ist ganz sicher! Ich habe wohl im ersten Moment etwas überreagiert.“

      „Überreagiert?“ Lennys glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Der Shaj der Erde stirbt vor deinen Augen, sein eigener Diener äußert den Verdacht einer Vergiftung und du sagst, du hättest überreagiert?“

      „Aber Lennys, es war ein Unfall! Natürlich, wir müssen der Sache nachgehen und das mit der verfärbten Zunge ist höchst verdächtig, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er gestürzt ist. Niemand sonst war dabei. Vielleicht gab es Gift. Vielleicht fühlte er sich deshalb schlecht. Aber wir werden nie erfahren, ob es ihn auch getötet hätte.“

      „Vielleicht doch. Wie konntest du die Sache nur so auf sich beruhen lassen? Wo ist die Leiche jetzt?“

      „Die Lei...? Makk-Ura? Auf den Weg zum Totentempel. Sie bereiten ihn für das Abschiedsritual vor. Und nein, ich habe es nicht auf sich beruhen lassen. Meine Rechtsprecher arbeiten Tag und Nacht daran, die Sache aufzuklären, aber bis jetzt haben sie noch keine ernstzunehmende Spur gefunden. Aber ich kann ihnen nicht pausenlos auf die Finger sehen. Die Dunen sind natürlich in heller Aufregung. Sie rennen mir das Haus ein, fordern sofortige Bestrafung, obwohl wir nicht einen einzigen Verdächtigen haben und sie weigern sich, sich mir zu unterstellen. Kaum haben sie von Makk-Uras Tod erfahren, haben sie verlangt, dass der Hohe Rat einberufen wird und obwohl ich ihnen versprochen habe, alles Nötige zu veranlassen, haben sie selbst einen Boten nach Semon-Sey geschickt.“

      „Willst du ihnen das vorwerfen? Würden deine Geweihten nicht dasselbe tun, wenn du so plötzlich und unter solchen Umständen sterben würdest?“

      „Natürlich! Ich … ich sage ja auch nicht, dass es falsch war, aber... gerade jetzt... Sie haben die Cas unter Druck gesetzt, bis diese schließlich zugegeben haben, dass...“

      „...der Shaj der Nacht verschwunden ist.“ ergänzte Lennys.

      „So ist es. Kannst du dir vorstellen, was jetzt los ist? Die Dunen toben, allen voran Mela-Cor und diese Ebna. Sie wollen jetzt alles selbst in die Hand nehmen. Und die Cas...“

      Doch eine flüchtige Geste von Lennys ließ ihn verstummen.

      „Sara...“ sagte Lennys, ohne ihre Dienerin anzusehen. „Warte draußen.“

      Ein Dienstbote Talmirs brachte Sara zu einer gemütlichen Sitzgruppe vor einer Fensterreihe, von der aus man einen herrlichen Blick auf den umliegenden Garten hatte. Dabei sprach der Mann kein Wort und hielt dabei den Blick stur geradeaus. Es war nicht zu übersehen, dass er nicht gerne den Laufburschen für eine Fremdländerin spielte. Sara versuchte gar nicht erst, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder sonst in irgendeiner Form seine vorgefertigte Meinung zu ändern. Zu viele Eindrücke waren heute auf sie eingestürzt und insgeheim war sie dankbar, dass sie jetzt kurz für sich war.

      Lennys hatte ihr nichts über Askaryan erzählt, außer, dass es eben eine Grenzstadt war. Sie hatte nicht erklärt, warum sich die Menschen hier so seltsam verhielten, warum sie so ernst und vollkommen schweigsam waren und sie hatte auch mit keinem Wort angedeutet, dass ihr erstes Ziel das Haus des Shajs Talmir sein würde. Allerdings hatte sie auch nicht erwarten können, dass ihre Herrin sie in all ihre Pläne einweihte.

      Ein wenig mehr überraschte die Novizin Talmirs Art, mit den momentanen Schwierigkeiten umzugehen. Die Umstände, unter denen dieser Makk-Ura ums Leben gekommen war, waren doch mehr als nur ungewöhnlich. Wieso tat Talmir nicht alles, um das offenkundige Verbrechen aufzuklären? Wieso versteckte er sich hinter fadenscheinigen Ausreden? Hatte er vielleicht Angst, dass man ihn zur Verantwortung ziehen konnte, weil er der einzige war, der das Geschehen beobachtet hatte? Oder fühlte er sich tatsächlich so unter Druck gesetzt, wie er betonte? Eigentlich war das doch auch verständlich, immerhin war einer der drei Herrscher tot, ein weiterer wie vom Erdboden verschluckt und er, Talmir, musste nun allein die Geschicke des ganzen Sichelreichs lenken. Ein Land der Krieger. Und er war nur ein friedliebender Priester. Zudem erwarteten offenbar ja auch die 'Geliebten der Erde', dass er sich um ihre Sorgen bemühte.

      Sara wusste, was die 'Dunen' waren, von denen Talmir gesprochen hatte. Akosh hatte es ihr einmal erklärt. Unter jedem Shaj stand direkt eine Gruppe „Erwählter“ oder auch „Geweihter“, die jeweils höchsten Säulenangehörigen. Sie hatten sich durch besondere Fähigkeiten ausgezeichnet und waren direkt für das verantwortlich, was in ihrer Säule vor sich ging. Im Falle der 'Gebieter der Nacht', also der Krieger, waren es die neun Cas, die als Befehlshaber des cycalanischen Heeres nur dem Shaj Rechenschaft über ihr Tun ablegen mussten.

      Unter Talmir hingegen standen achtzehn Hohepriester und Richter, die man die Yla nannte, und Makk-Uras engster Vertrautenkreis wurde durch die siebenundzwanzig Dunen, die obersten Handwerker, Bauern und Bergleute gebildet. Und eben diese Dunen waren nun auf sich gestellt, hatten keinen Shaj, bei dem die Fäden zusammenliefen und mussten sich