Christine Boy

Sichelland


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nicht vollständig teilte, rief natürlich Unmut hervor. Nun war erst recht eine starke Hand gefragt, die das Leben der Cycala wieder in geregelte Bahnen lenkte und diese Hand sollte – wenn es nach den Dunen ging – eher die eines Kriegers als die eines Priesters sein.

      Wo war der Shaj der Nacht? Wusste es Talmir? Oder Lennys? Oder die Cas? Manche schienen ein großes Geheimnis daraus zu machen, andere wieder zeigten offenkundige Angst. Was, wenn auch er einem Angriff zum Opfer gefallen war? Würde das nicht das Sichelland ins Chaos stürzen und ihm eine noch schwerere Wunde zufügen als der Tod Makk-Uras? Wollte deshalb niemand offen darüber reden?

      Irgendwann war Sara des Denkens müde. Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, seit Lennys sie hinausgeschickt hatte, doch ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Sonne ihren höchsten Punkt längst überwunden hatte und ihre ausgetrocknete Kehle erinnerte sie an den Tee, der drüben im Empfangssaal schon längst kalt geworden war. Ob sie den nächsten Diener, der vorbei kam, wohl um einen Schluck Wasser bitten durfte? Da kamen doch Schritte den Flur hinab... Mit etwas Glück war es nicht der mürrische Dienstbote von vorhin. Doch dann erkannte sie die Stimme.

      „Ich werde gleich meinen Stallmeister rufen lassen.“ hörte Sara Talmir sagen und gleich darauf trat der Shaj des Himmels in Lennys' Begleitung um die Ecke. Beim Anblick der Novizin hellte sich seine Miene etwas auf, doch er sagte nichts. Sein Gespräch mit Lennys war wohl nicht gerade zu seiner vollsten Zufriedenheit verlaufen und auch die Cycala wirkte gereizt. Mit einem Kopfnicken erlaubte sie Sara, aufzustehen.

      „Es wird Zeit, dass wir hier wegkommen. Wir werden keine Pausen mehr machen bis wir in Semon-Sey sind.“

      Sie rief einen Diener herbei, gab Befehl, ihr Mondpferd bringen zu lassen und winkte Sara hinter sich her nach draußen. Talmir folgte ihnen bis zum Hauptportal.

      „Eure Wasserflaschen wurden aufgefüllt.“ sagte Talmir. „Aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn ihr bis morgen bleibt.“

      „Das kommt nicht in Frage.“ sagte Lennys. „Kann ich davon ausgehen, dass du bald nachkommst?“

      „Natürlich. Schon morgen werde ich aufbrechen. Nicht später. Vergiss aber nicht, dass ich zu alt bin, um mit deinem Tempo mitzuhalten.“

      "Es wird sehr bald eine Ratsversammlung geben."

      "Es ist nicht nötig, dass du einen Shaj daran erinnerst." Er lächelte schwach. "Ich werde rechtzeitig da sein."

      Als Lennys und Sara kurz darauf wieder durch das Tor der weißen Mauer ritten und dann einen Weg nach Norden einschlugen, glühte die Abendsonne dunkelrot, durchbrochen durch die Silhouetten der schwarzen Wachtürme. Der größte Teil der Stadt Askaryan lag nun hinter ihnen.

      Sara hatte keine Ahnung, wie lange sie nach Semon-Sey brauchen würden. Auf der Karte hatte es weit ausgesehen, zu Fuß wohl einige Tagesreisen. Aber sie hatte bereits erlebt, wie der Mondhengst solche Schätzungen außer Kraft setzte und jetzt, da sie sich endlich im Sichelland befanden, wo das Tier das Gelände mindestens ebenso gut kannte wie seine Reiterin, war nicht mehr mit einem gemütlichen Trab zu rechnen.

      Hinter dem Stadttor Askaryans lag eine weite Grasebene, die leicht anstieg. Trotz der Kälte war es ein herrlicher Abend und obwohl die Hantua immer noch eine Bedrohung waren, obwohl in Askaryan ein Shaj ermordet worden war und obwohl sie hier eigentlich nicht willkommen war, fühlte Sara sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen sicher.

      Das erste, was die Novizin wahrnahm, war ihr schmerzender Rücken und der steife Nacken. Sie fühlte sich zerschunden, alles tat ihr weh und ihre Augen wollten vor lauter Müdigkeit gleich wieder zufallen. Nur langsam wurde sie sich darüber bewusst, dass sie immer noch hinter Lennys auf dem Rücken des Mondhengstes saß und wohl während des langen Ritts eingenickt war. Vorsichtig hob sie den Kopf, der an der Schulter ihrer Herrin gelehnt hatte.

      „Gut geschlafen?“

      Die Sichelländerin wandte sich nicht um, hatte aber sehr wohl Saras Bewegung gespürt.

      „Es tut mir leid.“

      „Du musst dich nicht entschuldigen. Wäre es nötig gewesen, hätte ich dich geweckt. Allerdings hast du natürlich bisher nicht allzu viel von der cycalanischen Landschaft mitbekommen.“

      Sara unterdrückte ein Gähnen.

      „Verzeiht. Ich hätte sehr gern mehr von eurem Land gesehen, aber ich fürchte, meine Augen sind bei Dunkelheit auch nicht so gut wie die euren.“

      „Da hast du allerdings recht. Diese Gegend hier nennt man übrigens die Cassydischen Gräben.“

      Erstaunt sah sich Sara um. Sie durchquerten gerade eine felsige Landschaft, die in unregelmäßigen Abständen von tiefen Furchen durchzogen war. Anscheinend war Lennys in etwas redseligerer Stimmung als in den letzten Tagen, denn noch bevor die Novizin eine Frage stellen konnte, erklärte sie, was es mit den Gräben auf sich hatte.

      „Eine Laune der Natur. Vermutlich gab es vor Urzeiten, noch bevor die ersten Menschen hier lebten, ein Erdbeben oder eine ähnliche Katastrophe. Heutzutage halten sich die neun Cas hier gelegentlich auf. Die Gegend verbirgt sie vor neugierigen Blicken und sie nutzen diesen Umstand, um in den Gräben Reit- und Kampftechniken zu trainieren. Daher auch der Name... Cassydische Gräben. Niemand, der hier durch muss, bleibt lange, denn keiner möchte den Cas in die Quere kommen. Aber es ist der kürzeste Weg nach Semon-Sey.“

      „Es könnte also sein, dass wir hier diesen Cas begegnen?“

      „Das ist sehr unwahrscheinlich. Akosh ist sicher schon in Semon-Sey angekommen und sorgt dafür, dass der Große Rat schnellstmöglich zusammentreten kann. Die Cas werden die Stadt jetzt sicher nicht mehr verlassen, wenn sie dort sind. Und diejenigen, die sich woanders aufhalten, werden sich auch gleich auf den Weg machen.“

      „Und wenn Akosh sie nicht alle findet? Oder sie nicht auf ihn hören?“

      „Du vergisst, dass Akosh selbst einer von ihnen war. Er weiß, wie er sie aufspüren kann und er weiß auch, was er ihnen sagen muss, damit sie den Ernst der Lage erkennen. Akosh mag lange im Mittelland gelebt haben, aber er hat wohl kaum Ansehen eingebüßt.“

      „Und... ihr?“

      „Ich?“ Lennys sah starr nach vorne, so dass Sara ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.

      „Entschuldigt. Ich sollte euch das nicht fragen. Ich dachte nur... dass ihr vielleicht auch eine Cas seid. Ich war mir sogar sicher.“

      „Ich muss dich enttäuschen. Nein, ich bin keine Cas. Ich war eine. So wie Akosh. Damals. Und wie er habe ich meinen Rang abgegeben. Sogar noch vor ihm.“

      „Aber... ihr müsst trotzdem noch eine sehr hohe....“ Sara verstummte mitten im Satz. Vor ihnen waren wie aus dem Nichts zwei Gestalten aufgetaucht und kamen jetzt auf sie zu. Sie waren ganz ähnlich der Stadtwachen Askaryans gekleidet und trugen prächtig geschmückte Shajkane. Argwöhnisch stellten sie sich dem schwarzen Hengst in den Weg.

      „Wer wagt es, auf einem Mondpferd durch die Cassydischen Gräben zu reiten?“ fragte der eine scharf.

      „Ich würde dir raten, uns nicht lange aufzuhalten.“ antwortete Lennys ruhig und ließ wie zufällig ihre Sichel unter dem Umhang hervorblitzen. Sofort verbeugten sie die beiden Wachen tief und der erste stammelte eine Entschuldigung in cycalanischer Sprache.

      „Ist euch in den letzten Stunden noch jemand außer uns begegnet?“ fragte Lennys weiter.

      „N...nein, Herrin, niemand sonst. Alles ist ruhig.“

      Ohne noch etwas zu sagen oder eine weitere Erklärung abzuwarten, zog Lennys die Zügel an und ritt an den beiden Männern vorbei. Sara bemühte sich, ihr Gesicht im Schatten der hochgeschlagenen Kapuze zu verbergen.

      Hinter den Cassydischen Gräben wurde die Landschaft wieder etwas freundlicher. Vielleicht lag es auch daran, dass inzwischen die Sonne im Osten hervorblinzelte und goldene Streifen auf das Gras malte. Wie schon südlich von Askaryan dominierten auch hier saftige dunkelgrüne Wiesen, dichte Nadelwälder und tiefblaue