Bürger im Temple und erwartet sein Urteil. Statt seiner herrschen jetzt die Siebenhundertfünfzig im Land, und sie haben sich niedergelassen in seinem eigenen Hause. Hinter dem Präsidententisch erhebt sich in Riesenlettern die neue Mosestafel der Gesetze, der Wortlaut der Konstitution, und die Saalwände schmückt – gefährliches Symbol! – das Bündel der Liktoren und das mörderische Beil.
Domenico Pellegrini: Ludwig XI. vor dem Nationalkonvent.
Stich von Luigi Schiavonetti
Auf den Galerieen sammelt sich das Volk und betrachtet neugierig seine Repräsentanten. Siebenhundertfünfzig Konventsmitglieder ziehen langsamen Schrittes ein in das königliche Haus, seltsame Mischung aller Stände und Berufe: stellenlose Advokaten neben illustren Philosophen, entlaufene Priester neben verdienten Militärs, gescheiterte Abenteurer neben berühmten Mathematikern und galanten Dichtern; wie in einem gewaltsam geschüttelten Glas ist in Frankreich durch die Revolution das Unterste zuoberst gekommen. Nun ist es Zeit, das Chaos zu klären.
Schon die Sitzordnung deutet einen ersten Versuch zur Ordnung an. In dem amphitheatralischen Saal, der so eng ist, daß Stirn an Stirn, Atem an Atem feindselige Rede widereinander fährt, sitzen unten in der Tiefe die Ruhigen, die Geklärten, die Vorsichtigen, der »Marais«, der Sumpf, wie man die bei allen Entscheidungen Leidenschaftslosen höhnisch nennt. Die Stürmer, die Ungeduldigen, die Radikalen nehmen oben auf den höchsten Bänken Platz, am »Berge«, der mit seinen letzten Sitzreihen die Galerieen schon berührt, gleichsam symbolisch damit andeutend, daß sie die Masse, daß sie das Volk, das Proletariat im Rücken haben.
Diese beiden Mächte halten sich die Wage. Zwischen ihnen schwankt in Ebbe und Flut die Revolution. Für die Bürgerlichen, für die Gemäßigten ist die Republik bereits vollendet mit der eroberten Verfassung, mit der Erledigung des Königs und des Adels, mit dem Übergang der Rechte an den dritten Stand: sie möchten nun die Strömung, die von unten aufgewühlte, am liebsten wieder eindämmen und zurückhalten, nur noch das Gesicherte verteidigen. Condorcet, Roland, die Girondisten sind ihre Führer, Vertreter der Geistigkeit und des Mittelstandes. Jene vom Berge aber wollen die gewaltige revolutionäre Woge noch weitertreiben, bis sie alles mit sich reißt, was an Bestehendem, an Rückständigkeiten noch übrigblieb; sie wollen, Marat, Danton, Robespierre als Führer des Proletariats, »la revolution integrale«, die restlose, die radikale Revolution bis zum Atheismus und Kommunismus. Sie wollen nach dem König noch die andern alten Mächte des Staates zu Boden werfen, das Geld und Gott. Unruhig schwankt zwischen beiden Parteien die Wage. Siegen die Girondisten, die Gemäßigten, so wird die Revolution allmählich versanden in eine erst liberale, dann konservative Reaktion. Siegen die Radikalen, so treiben sie in alle Tiefen und Wirbelstürme der Anarchie. So täuscht der feierliche Einklang der ersten Stunde keinen der Anwesenden in dem schicksalhaften Saal, jeder weiß, daß hier bald ein Kampf beginnen wird um Leben und Tod, um Geist und Gewalt. Und die Stelle, an der ein Abgeordneter Platz nimmt, ob unten in der Ebene oder oben am Berge, sagt schon im voraus seine Entscheidung.
Mit den Siebenhundertfünfzig, die den Saal des entthronten Königs feierlich beschreiten, tritt auch, die dreifarbige Binde des Volksbeauftragten quer über der Brust, Joseph Fouché, der Deputierte von Nantes, schweigend ein. Schon ist die Tonsur überwachsen, längst das Kleid des Priesters abgetan: er trägt, wie sie alle, schmucklose Bürgertracht.
Wo wird er Platz nehmen, Joseph Fouché? Bei den Radikalen am Berge oder bei den Gemäßigten in der Tiefe? Joseph Fouché zögert nicht lange. Er kennt nur eine Partei, der er treu war und treu bleibt bis ans Ende: die stärkere, die Majorität. So wägt und zählt er auch diesmal innerlich die Stimmen und sieht: zur Stunde steht die Macht noch bei den Girondisten, bei den Gemäßigten. Also setzt er sich hin auf ihre Bänke, zu Condorcet, zu Roland, zu Servan, zu den Männern, die die Ministerien in der Hand halten, die alle Ernennungen beeinflussen und die Pfründen verteilen. Dort in ihrer Mitte fühlt er sich sicher, dort setzt er sich hin. Aber wie er die Augen zufällig nach oben hebt, wo die Gegner, die Radikalen, ihre Stellungen bezogen haben, begegnet er einem strengen, abweisenden Blick. Sein Freund, Maximilian Robespierre, der Advokat von Arras, hat dort seine Kämpfer um sich versammelt, und durch das gehobene Lorgnon sieht der Unbarmherzige, der, eitel auf seinen eigenen Starrsinn, keinem andern Schwanken oder Schwäche verzeiht, kalt und höhnisch auf den Opportunisten herab. In diesem Augenblick ist das Letzte ihrer Freundschaft zu Ende. Von nun ab spürt, bei jeder Geste und jeder Handlung, Fouché im Rücken diesen unbarmherzig prüfenden, streng beobachtenden Blick des ewigen Anklägers, des unerbittlichen Puritaners und weiß: er muß vorsichtig sein.
Vorsichtig: Kaum einer ist es mehr als er. In den Sitzungsberichten der ersten Monate vermißt man vollkommen den Namen Joseph Fouchés. Indes alle ungestüm und eitel zur Rednertribüne sich drängen, Vorschläge machen, Tiraden halten, einander anklagen und befeinden, betritt der Deputierte von Nantes niemals das erhobene Pult. Schwäche der Stimme, so entschuldigt er sich bei seinen Freunden und Wählern, behindern ihn an der öffentlichen Rede. Und da alle die andern gierig und ungeduldig sich das Wort vom Munde reißen, fällt das Schweigen dieses scheinbar Bescheidenen nur sympathisch auf.
Aber in Wahrheit ist seine Bescheidenheit Berechnung. Der Exphysiker kalkuliert erst das Parallelogramm der Kräfte, er beobachtet, er zögert mit seiner Stellungnahme, weil er die Wage noch ständig schwanken sieht. Vorsichtig spart er sein entscheidendes Votum erst für den Augenblick, da sie sich endgültig auf die eine oder andere Seite zu senken beginnt. Nur nicht zu früh sich verbrauchen, nur nicht vorzeitig sich festlegen, nur sich nicht binden für immer! Denn noch ist es nicht entschieden, ob die Revolution fortschreiten wird oder zurückebben: als rechter Seemannssohn wartet er, um auf den Rücken der Welle zu springen, erst auf den rechten Wind und hält sein Fahrzeug im Hafen.
Und dann: schon von Arras her, noch hinter Klostermauern hat er beobachtet, wie rasch in einer Revolution die Popularität sich verbraucht, wie rasch der Volksruf vom »Hosianna« in das »Crucifige« überschlägt. Alle, oder fast alle, die während der Epoche der Generalstände und der Gesetzgebenden Versammlung in den Vordergrund getreten waren, sind heute vergessen oder verhaßt. Mirabeaus Leichnam, gestern noch im Pantheon, ist heute schmählich daraus entfernt worden; Lafayette, vor wenigen Wochen noch im Triumph als Vater des Vaterlandes gefeiert, heute schon Verräter; Custine, Petion, vor wenigen Wochen noch umjubelt, schleichen sich bereits ängstlich in den Schatten der Öffentlichkeit hinein. Nein, nur nicht zu früh ans Licht, nur nicht zu rasch sich festlegen, erst die andern sich abnutzen, sich verbrauchen lassen! Eine Revolution, er weiß es, der Früherfahrene, gehört niemals dem Ersten, der sie beginnt, sondern immer dem Letzten, der sie endet und wie eine Beute an sich reißt.
So duckt sich der Kluge absichtsvoll ins Dunkel. Er nähert sich den Mächtigen, aber er vermeidet jede öffentliche, jede sichtbare Macht. Statt auf der Tribüne, in den Zeitungen zu lärmen, läßt er sich lieber in die Ausschüsse und Kommissionen wählen, wo man Einsicht in die Verhältnisse, Einfluß auf die Geschehnisse im Schatten gewinnt, ohne kontrolliert und gehaßt zu werden. Und tatsächlich, seine zähe, seine rapide Arbeitskraft macht ihn beliebt, seine Unsichtbarkeit schützt ihn vor jedem Neid. Aus seinem Arbeitszimmer kann er unbehelligt abwartend zusehen, wie die Tiger vom Berge und die Panther der Gironde sich gegenseitig zerfleischen, wie die großen Leidenschaftlichen, wie die überragenden Gestalten eines Vergniaud, Condorcet, Desmoulins, Danton, Marat und Robespierre einander tödlich verwunden. Er sieht zu und wartet, denn er weiß: erst wenn die Leidenschaftlichen sich gegenseitig vernichtet haben, beginnt die Zeit für die Abwartenden und für die Klugen. Immer erst, wenn eine Schlacht entschieden ist, wird sich Fouche endgültig entscheiden.
Dieses Im-Dunkel-Stehen ist Joseph Fouches Haltung ein Leben lang: Niemals sichtbarer Träger der Macht zu sein und doch sie gänzlich zu halten, alle Fäden zu ziehen und niemals als verantwortlich zu gelten. Immer sich hinter einen Ersten stellen, sich hinter ihm zu verschanzen, ihn vorwärts zu treiben und, sobald er zu weit sich vorgewagt, im entscheidenden Augenblick ihn glatt zu verleugnen, das bleibt seine liebste Rolle. Er spielt sie, der vollendetste Intrigant der politischen Bühne, in zwanzig Verkleidungen, in zahllosen Episoden, unter Republikanern, Königen und Kaisern mit gleicher Virtuosität.
Manchmal