Lisa Torberg

Verliebt in meinen Feind


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bevor er es zu Boden schmetterte, siegte die Vernunft, und er legte es achtlos auf die Garderobenablage.

      Daniele erwachte vom Lärm quietschender Bremsen, drehte den Kopf zur Seite, um nach dem Mobiltelefon zu greifen, doch es lag nicht auf dem Nachttisch. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, nur daran, wie und wann er schlafen gegangen war, erinnerte er sich nicht mehr. Er schwang die Beine aus dem Bett und blieb auf der Kante sitzen, starrte auf das Fenster, das von einem orangefarben blinkenden Licht erhellt wurde. Der Müllwagen!

      Oh Gott, wie sehr er diese Stadt hasste! Weg, nur weg!

      Er sprang auf, nahm einen Slip aus der Schublade der Kommode, lief ins Bad. Fünf Minuten später hatte er das Notwendigste erledigt, auch die Zähne geputzt. Er zog Jeans, ein Shirt, darüber einen Sweater an, im Flur Tennisschuhe, schnappte sich die Jacke vom Haken, steckte die Brieftasche und den Autoschlüssel ein, ließ das Handy, wo es war, und stürmte aus der Wohnung. Kurz darauf verließ er in seinem Jeep die Tiefgarage des Wohnhauses, nahm den kürzesten Weg aus der Stadt und fuhr Richtung Gardasee.

      Erst als er den Wagen auf dem Parkplatz unweit des Castello Scaligero in Torri del Benaco abstellte und die wenigen Meter zum Seeufer ging, fühlte er sich besser. Tief atmete er die feuchte Morgenluft ein, blickte auf den ruhigen Wasserspiegel, beobachtete ein paar Enten, die immer wieder ihre Köpfe unter Wasser steckten. Eine ruderte dabei besonders hektisch mit den dunkelgelben Flossen, um das Gleichgewicht zu halten, und brachte ihn zum Lachen. Die Zeile Köpfchen unters Wasser, Schwänzchen in die Höh’ aus einem Kinderlied fiel ihm ein. Genau so fühlte er sich!

      Ein Teil von ihm, wobei er nicht recht wusste, ob es der Kopf oder sein Allerwertester war, steckte im Moor fest. Der schlammige Untergrund waren das AvVentura und sein Halbbruder Franco, die ihn mit aller Kraft festhielten. Es musste sich wohl um seinen gesamten Unterkörper handeln, denn er spürte, dass er trotz aller Kraftanstrengung keinen Schritt aus der Umklammerung machen konnte. Doch seit dem gestrigen Tag, spätestens nach den Stunden, die er mit Enzo verbracht hatte, zog es ihn stark in eine andere Richtung, die ihm sein Charakter und sein Kopf vorgaben. Er war ein Gefühlsmensch, genau das Gegenteil seines eiskalten, berechnenden Bruders, und was er seit seiner Ankunft in Verona wie eine Vorahnung gespürt hatte, war gestern zur Gewissheit geworden. Er war einfach nicht dazu geschaffen, jemandem willentlich zu schaden, um daraus Vorteile zu ziehen. Schon gar nicht, da es keinen Grund dafür gab, noch mehr Geld zu scheffeln. Er selbst hatte noch nie auf das Vermögen zugegriffen, das ein Finanzberater in seinem Namen verwaltete. Bis auf einen Betrag, der monatlich als Gehalt von AvVentura auf sein Konto überwiesen wurde, hatte er seit dem Wohnungskauf vor zehn Jahren nichts mehr davon angerührt. Er konnte genauso gut leben, wenn sie keine Niederlassung in Verona hatten!

      Enzo, der muskelbepackte Fitnesstrainer, hatte sich als ernsthafter, tiefgründiger Mann herausgestellt, der in seinem Job eine Berufung sah und seinen Körper mit hartem Training und ohne Einnahme von Steroiden stählte, was Daniele auf den ersten Blick fälschlich angenommen hatte. Sie hatten nebeneinander fast vierzig Minuten lang schweigend ihre Bahnen in dem Pool absolviert, die Lagen zugleich gewechselt und waren in stillem Einvernehmen in die Sauna gegangen. Bereits der Eindruck, den die Räume in den oberen Etagen der Oasi di Giulia auf ihn gemacht hatten, war nahezu makellos gewesen, doch das Untergeschoss übertraf all seine Erwartungen. In den Umkleideräumen lagen flauschige Bademäntel zur freien Entnahme bereit, das Wasser des Pools war perfekt für sportliche Betätigung temperiert, die Saunabereiche nach Geschlechtern getrennt. Enzo hatte ihm ein dunkelblaues Saunatuch gereicht und erklärt, dass die der Damen bordeauxrot seien. Für die Aufgüsse standen Glasfläschchen mit verschiedenen Saunaölen zur Verfügung. Im Einvernehmen hatten sie Bergamotte gewählt und die Kabine die nächsten vierzig Minuten nicht mehr verlassen. Sie waren alleine gewesen, und Enzo hatte ihm freimütig alle Fragen beantwortet.

      Daniele hatte sich wie James Bond, der Spion im Dienste Seiner Majestät gefühlt, nur lagen seinem Tun keine noblen Absichten zugrunde, und sein Chef hieß Franco Ventura und war im besten Fall einem Freibeuter gleichzusetzen. Als der sympathische Fitnesstrainer schließlich über seine Chefin sprach, war Daniele vor Verlegenheit und Scham knallrot geworden, was man in der Sauna zum Glück der Hitze zuschreiben konnte. Giulia Gudmundsdottir war die Tochter eines Isländers, der in jungen Jahren zum Studium nach Verona gekommen und hier hängen geblieben war, nachdem er sich in eine Einheimische verliebt hatte. Sie war das einzige Kind geblieben, und ihre Eltern hatten jahrelang nur dafür gearbeitet, um der Tochter, die damals Sportwissenschaften studierte, ihren großen Traum zu ermöglichen: die Oasi di Giulia. Das Fitnesscenter trug also seinen Namen nicht aufgrund der Nähe zu dem historischen Wohnhaus von Shakespeares weltberühmter Giulia, sondern den der Frau, die es leitete. Er hatte sich so schäbig gefühlt, als Enzo sich nach der Mittagspause von ihm verabschiedete, um wieder nach oben in den Kraftraum zu gehen, dass er noch eine weitere Stunde seine Bahnen in dem Pool gezogen hatte. Doch der Gedanke an das irrwitzige Vorhaben seines Bruders, in diesem Vorzeigebetrieb hygienische Mängel zu provozieren, um ihn in Misskredit zu bringen, war von einem Paar strahlend blauer Augen und dem flachsblonden Pferdeschwanz überlagert gewesen. Deshalb hatte er das Fitnesscenter fluchtartig verlassen und war heimgefahren, um Abstand zwischen sich und diese unangenehme Aufgabe zu bringen. Aber anstatt sich zu Hause besser zu fühlen, hatte er nach dem Einschalten des Computers Francos drängende Mail entdeckt, die ihm die Laune noch weiter verdarb. Er war immer noch wütend, zwar nicht mehr so sehr wie am Vorabend, doch noch zu sehr, um eine rationale Entscheidung zu treffen.

      Daniele starrte auf die Enten, die ihr Frühstück immer noch nicht beendet hatten, und gab dem Drängen seines hungrigen Magens nach. Langsam schlenderte er den Weg am Seeufer entlang bis zu dem kleinen Hafen. Mittlerweile durchdrangen die ersten zaghaften Sonnenstrahlen den Frühnebel und reflektierten glitzernd auf der Wasseroberfläche. Am Zeitungskiosk kaufte er La Repubblica und setzte sich an einen Tisch des Straßencafés, in dem nur zwei ältere Paare, der Kleidung nach Touristen, saßen. Sie nickten ihm freundlich zu, er antwortete mit einem Buongiorno. Er bestellte bei der herbeieilenden Kellnerin einen Cappuccino und ein Cornetto mit Marmelade und schlug die Zeitung auf, doch seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, er nahm nichts von dem auf, was er las.

      Sein Bruder war ein größenwahnsinniger, unsportlicher Unternehmer, für den nichts zählte als Geld, zu dem er mit Ellenbogentechnik und, falls nötig, unlauteren Methoden kam. Er war immer schon von Gier nach mehr getrieben gewesen, doch was er jetzt unternahm, war - zumindest von der Grundidee her - kriminell. Daniele wusste, dass seine Abneigung gegen Verona und die Wohnung darin wurzelte, dass er sich hatte breitschlagen lassen, diese Aktion auch nur in Betracht zu ziehen. Eigentlich sollte er in Hawaii sein und sich auf den nächsten Triathlon vorbereiten, wie er geplant hatte. Stattdessen saß er in der Falle zwischen dem Projekt einer feindlichen Übernahme, die ihn persönlich absolut nicht interessierte, und seinem Wunsch, Cinzia und ihrer krankhaften Anhänglichkeit zu entkommen. Wieder einmal hatte er den Weg des geringsten Widerstandes genommen, nur um nicht diskutieren zu müssen. Er war aus Bologna aus den denkbar unvernünftigsten Gründen geflüchtet, anstatt sich den Problemen zu stellen, und hatte sie dadurch nur noch vergrößert.

      Denn auch jetzt konnte er nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Franco würde ein Nein zu dem Vorhaben, das er sich in den Kopf gesetzt hatte, nicht gelten lassen. Sollte er also nach Bologna zurückkehren, würde er im Handumdrehen durch jemand anderen ersetzt werden, der sicherlich nicht so zimperlich wäre wie er. Es gab genug skrupellose, käufliche Menschen im Dunstkreis seines Bruders, die dazu bereit waren, die meisten davon auch mit körperlichem Einsatz. Nur die Vorstellung, dass einer von denen sich Annarita, die nette Rezeptionistin, vornahm, machte ihm Angst. Die junge Frau war die erste Anlaufstelle des Fitnesscenters, und er wollte sichergehen, dass ihr nichts passierte. Er versuchte, sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, doch es gelang ihm nicht. Dafür sah er blaue Augen und einen hochgebundenen flachsblonden Pferdeschwanz, der auf und ab wippte. Die große, schlanke Frau auf dem Fahrrad war mit einer sportlichen Hose, Sneakers und einer leichten Sportjacke bekleidet. Sie hielt nur wenige Meter von ihm entfernt und stieg ab, lehnte den Drahtesel gegen einen Baum und drehte sich um.

      Ihr Blick schweifte über die wenigen besetzten Tische und blieb an ihm hängen. Erstaunen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, er starrte sie an.