Lisa Torberg

Verliebt in meinen Feind


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      »Nein«, lachte die junge Frau hinter ihrem Rezeptionstresen. »Ich sag dir nur die Wahrheit, aber das weißt du ja.«

      »Ich überlege es mir. Aber jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, es ist schon nach acht. Ich habe um halb neun noch eine Stunde Pilates und wollte Gipsy anschließend beim Umräumen der Massagekabinen helfen.«

      »Musst du das heute noch machen? Du kommst ja keinen Abend mehr vor zehn hier raus!«

      »Ach, das macht nichts. Du weißt ja, die Oasi ist mein Leben. Und jetzt - husch, husch!«

      Um viertel nach zehn war Giulia Gudmundsdottir mal wieder die letzte, die die Oasi di Giulia verließ. Vorher aber durchstreifte sie ihr Fitnessstudio vom Schwimmbad im Untergeschoss bis hinauf in die Wellnessabteilung. Sie kontrollierte die Umkleiden, um nicht etwa versehentlich ein verspätetes Mitglied einzuschließen, achtete auf vergessene oder verlorene Gegenstände und prüfte bei allen Massageliegen, ob die Heizdecken auch wirklich ausgeschaltet waren. Verträumt sah sie aus dem Fenster. Von dort aus dem oberen Stockwerk hatte sie einen schönen Blick auf die Altstadt.

      Jetzt, Ende September, wurde es schon wieder spürbar früher dunkel. Die Straßenlaternen tauchten Verona, ihre romantische Heimat, die Stadt von Shakespeares Romeo und Julia, in ein sanftes, gelbliches Licht. Nur noch wenige Menschen eilten über die Straßen, die meisten saßen nun wohl bereits in ihren Häusern und Wohnungen, bei ihren Familien und Partnern, hatten gemeinsam zu Abend gegessen und machten es sich jetzt miteinander irgendwo gemütlich.

      Giulia räusperte sich.

      Keine Zeit, jetzt melancholisch zu werden, nur weil sie all das nicht hatte. Und vielleicht auch nie haben würde.

      Aber - immerhin hatte sie Carlo.

      Carlo. Unmerklich zogen sich ihre Mundwinkel ein wenig nach unten. Als es ihr bewusst wurde, steuerte sie mit einem absichtlichen Lächeln dagegen, um sich selbst zu besserer Laune zu bringen. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass das half.

      Energisch stieß sie sich von der Wand ab, an der sie lehnte, und beendete ihren Rundgang. Wie sie vorhin zu Annarita gesagt hatte: Das hier war ihr Leben. Und nicht nur das.

      Es war vielmehr ihr Lebenswerk.

      Das, was sie schon immer hatte tun wollen und wofür sie dankbar war. Sie liebte es, mit Menschen zu arbeiten, denen sie helfen konnte, ob es nun die Kindergarten-Spiel-Sportstunden waren oder das Senioren-Programm in den Altersheimen, die sie auch heute wieder, wie jeden Mittwoch, besucht hatte. Sie liebte es, zu helfen und für andere da zu sein. Und sie liebte es, sich zu bewegen und ihren eigenen Körper mit Sport an den Rand seiner Möglichkeiten zu treiben. All das konnte sie hier perfekt vereinen und umsetzen. Und für ihre Grundbedürfnisse als Frau hatte sie Carlo.

      Dass dieser, wie ein leise nagendes Stimmchen in ihrem Hinterkopf anmerkte, nur für ihre körperliche Befriedigung zur Verfügung stand und ihrem Herzen nichts zu geben hatte, musste ja keiner wissen. Wenn sie Wärme und Emotionen brauchte, waren da immer noch ihre Eltern und ein paar wenige, handverlesene Freunde. Lieber eine nüchterne, körperbetonte Beziehung als all dieses Liebesdrama, das eine unpassende Amour fou mit sich brachte.

      Giulia verriegelte gewissenhaft das Portal zu ihrer kleinen Welt, wischte sich einen befremdlichen Tropfen Feuchtigkeit aus dem Augenwinkel und fuhr unter dem funkelnden Sternenhimmel Norditaliens nach Hause.

      Im Normalfall würde er jetzt auskuppeln, die Hände in perfekter, in der Fahrschule eingebläuter Zehn-vor-zwei-Stellung auf das Lenkrad legen, sich im Sitz zurücklehnen und abwarten. Aber da hier und heute einfach nichts der Alltagsroutine entsprach, presste Daniele Barbieri das Kupplungspedal bis zum Anschlag durch, trat mit dem rechten Fuß auf das Gaspedal und ließ den 2,8-Litermotor seines Wrangler Jeeps röhrend aufheulen. Dass sich der Stau deshalb nicht auflöste, war das Tüpfelchen auf dem i an diesem besch... Tag. Und so schlug er, seinem sonst sanften und ausgeglichenen Gemüt zum Trotz, mit den Handflächen hart auf das Steuerrad und schrie laut Merda. Dass ihm die Verwendung von Schimpfwörtern an sich gar nicht entsprach, konnte die alte Frau mit dem gebeugten Rücken, die soeben vor seinem Wagen die Straße überquerte, nicht wissen. Der Klang seiner dunklen und zornigen Stimme drang durch das geöffnete Autofenster nach draußen und das arme Weiblein zuckte zusammen. Vor lauter Schreck ließ sie die Plastiktüte fallen, in der sich ihre - unglücklicherweise - runden und daher zum Rollen fähigen Einkäufe befanden. Rotwangige Äpfel und dunkelgelbe Kartoffeln kullerten auf dem Asphalt in jede Richtung davon. Das war der Moment, in dem Daniele zu sich kam, die Fahrertür aufriss, aus dem Fahrzeug sprang und in der Einbahnstraße auf allen vieren herumkroch, um die entwischten Früchte und Knollen einzufangen. Als er dann, reumütig wie ein Pennäler, vor der konsternierten Frau stand, rückte diese ihren gebeugten Rücken gerade, straffte die Schultern, kommentierte seine Entschuldigung mit einer wegwerfenden Handbewegung und sah ihn strahlend an.

      Sie tat so, als ob die etwa vierzig Jahre, die zwischen ihr und dem ausnehmend attraktiven jungen Mann, wie sie ihn nannte, einfach nicht existierten, und flirtete ihn auf Teufel komm raus an. Verlegen sah er sie aus seinen braunen Augen an und wirkte dabei wie Bambi, das von seiner Mutter einen Rüffel erhielt. Das wurde ihm jedoch erst klar, als er eine faltige, jedoch kräftige Hand auf seinem Unterarm spürte.

      »Erlauben Sie mir, dass ich den Schaden ersetze?«, fragte er hastig und griff, ohne eine Antwort abzuwarten, an die rückwärtige Tasche seiner Jeans, die so eng saßen, dass er die Brieftasche nur mit Mühe hervorziehen konnte.

      »Es ist doch gar nichts passiert!«, erwiderte das Weiblein mit einem Augenaufschlag, als er ihr einen Zehneuroschein in die Hand drücken wollte. »Aus den Äpfeln mache ich sowieso Apfeltorte mit Zimtsoße für meine Enkel und aus den Kartoffeln Püree! Aber vielleicht darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten und ein Stück Kuchen, ich wohne gleich dort vorne«, fuhr sie fort und deutete in die Richtung, in die er eigentlich fahren wollte. Plötzlich erschien Daniele die zerbrechliche Frau alles andere als das, auch nicht mehr wirklich alt, jedoch ziemlich determiniert. Doch was auch immer sie sich vorstellte, als sie versuchte, ihn in ihre Wohnung zu bekommen, es blieb bei der Intention. Denn endlich setzte sich die Schlange der wartenden Autos in Bewegung, und Daniele dankte dem Schicksal, das ihm am heutigen Tag zum ersten Mal gnädig gestimmt war. Er rief dem Weiblein einen entschuldigenden Gruß zu, sprang in den Wagen und gab Gas, noch bevor die Fahrzeugtür ins Schloss fiel. Im Rückspiegel erkannte er das enttäuschte Gesicht, mit dem sie ihm nachsah.

      Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Ein Weibsbild, das seine Großmutter sein konnte und ihn anhimmelte wie eines der pubertierenden Mädchen, die aussahen wie Klone von Victoria Justice, Ariana Grande oder Paris Hilton und seine Kurse besuchten.

      Nicht nur, dass er seit fünf Tagen in Verona war, weil Franco ihn dazu verdonnert und er diesmal einfach keine schwerwiegenden Gegenargumente gefunden hatte. Sein Bruder hatte alles widerlegt, was er hervorbrachte. Der nächste Triathlon fand erst in einem halben Jahr statt, und ob er in Bologna oder Verona trainierte, war egal. Die administrativen Aufgaben, die er innerhalb des Unternehmens hatte, konnte er von überall aus wahrnehmen, war doch sein Bruder auf Danieles ausdrücklichen Wunsch hin der Ansprechpartner für Geschäftspartner, Banken und die Medien. Außerdem sprach er immer wieder davon, wie sehr er den Smog und den Nebel seiner Heimatstadt hasste, vor allem jetzt, wo der Herbst unmittelbar vor der Tür stand. Und als Trainer arbeitete er sowieso nur zum Ausgleich für seine sitzende Tätigkeit, tat es mit mehr Hass als Liebe und nahm zudem jemandem den Job weg, der mit dem Verdienst möglicherweise eine vierköpfige Familie ernähren konnte. Und genau das war der ausschlaggebende Punkt gewesen, an dem er eingeknickt war und nachgegeben hatte. Tatsächlich gab es eine Liste von Fitnesstrainern, die mit Freude eine Stelle in einem der vielen Fitnesscenter von AvVentura in Italien einnehmen würden. Außerdem gingen ihm vor allem die neu eingeführten Piloxing-Sessions in letzter Zeit ziemlich auf die Nerven. Erstens schienen zu seinen Terminen sämtliche Männer zu verschwinden, und er erkannte bei jedem Blick in die spiegelverkleidete Wand, dass die anwesenden