Lisa Torberg

Verliebt in meinen Feind


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eine dort, die ihn wie zufällig streifte, und mehr als einmal war der berührte Körperteil sein bestes Stück gewesen. Wahrscheinlich hatte er auch deshalb immer wieder Cinzias Drängen nachgegeben, mit deren Vater, einem Sportartikelhersteller, sein Bruder in enger Geschäftsverbindung stand. Im Laufe des Sommers war aus dem flüchtigen One-Night-Stand ein Hin-und-wieder-Stand geworden. Dass diese Geschichte mittlerweile innerhalb des AvVentura-City-Centers und darüber hinaus bekannt war, empfand er jedoch nicht unbedingt als angenehm, und so hatte er Franco nachgegeben.

      Die möblierte Wohnung, die sein Halbbruder durch ein Maklerbüro angemietet hatte, noch bevor er der Mission zustimmte, befand sich unweit des Stadtzentrums von Verona, dabei hasste Daniele nichts mehr als Asphalt, Beton und Menschenmassen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich ein kleines Haus nordwestlich der Provinzhauptstadt gemietet, irgendwo zwischen den Weinbergen von Valpolicella und Bardolino, vielleicht sogar mit Blick auf den Gardasee. An einem abgelegenen, ruhigen Ort, wo man am Morgen vom Gezwitscher der Vögel geweckt wurde und noch vor dem Frühstück über Waldwege joggen konnte. Stattdessen hatte ihn heute der Krach des Müllwagens aus dem Schlaf gerissen, da das Apartment straßenseitig lag und er als Frischluftfanatiker einfach nicht bei geschlossenen Fenstern schlafen konnte. Das war um fünf Uhr gewesen, und nachdem er sich noch zehn Minuten vergeblich damit abgemüht hatte, wieder einzuschlafen, war er missmutig aufgestanden. Er hatte seinen Morgenlauf bereits zum vierten Mal auf den geteerten Gehwegen des Viertels absolviert, wo er unzähligen Mülltonnen ausweichen und die Abgase der vorbeifahrenden Fahrzeuge inhalieren musste.

      Währenddessen hatte er zum wiederholten Male Franco verflucht, der ihn immer noch wie einen kleinen grünen Jungen behandelte, obwohl er bereits dreiunddreißig Jahre alt war. Sie waren Halbbrüder und so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein konnten. Als Francos Vater starb, war dieser sechs Jahre alt gewesen und hatte unheimlich unter dem Verlust gelitten. Doch zwei Jahre später trat ein neuer Mann in sein Leben, heiratete seine Mutter und liebte ihn vom ersten Moment an wie einen eigenen Sohn. Der kleine Bruder, der nur wenige Tage nach seinem neunten Geburtstag zur Welt kam, war ihm von Anfang an ein Dorn im Auge. Zuerst war es die Angst, dem Stiefvater nicht so viel wert zu sein wie der Kleine, der sein echter Sohn war, und Jahre später, als schon längst klar war, dass Signor Barbieri zwischen den beiden Jungen absolut keinen Unterschied machte, war es die Natur, die sich einmischte:

      Daniele war einen Meter neunundachtzig groß, gut gebaut, hatte ein angenehmes Wesen, war rundum beliebt und konnte seine gesamte Freizeit mit Sport verbringen, da ihm alles zuflog und er auch ohne zu lernen beste Noten errang. Franco blieb hingegen zehn Zentimeter unter der Größe seines Bruders stehen, lernte Tag und Nacht verbissen, um gute Resultate zu bringen, und hasste aktiven Sport so sehr, wie er passiven liebte, was man ihm auch ansah. Sein Körper war untersetzt und schwabbelig, die Hände stets schweißnass, weshalb er ständig ein Stofftaschentuch mit handgesticktem Monogramm zwischen den Fingern drehte. Am Tag, an dem Franco das Studium der Wirtschaftswissenschaften abschloss, war er der einzige der Mittzwanziger, der am Oberkopf kahl war und einen matschbraunen Haarkranz aufweisen konnte, der seinem sowieso schon rundlichen Gesicht noch mehr Fülle verlieh. Zum Ausgleich erhielt aber von allen Studienabgängern nur er eine Auszeichnung und gründete noch im gleichen Jahr das erste Fitnesscenter in Bologna. Das Geld dafür hatten er und Daniele nach dem Tod des mütterlichen Großvaters geerbt. Damals war er noch auf dem Gymnasium und nicht volljährig, vertraute jedoch bereits voll auf die unternehmerischen Fähigkeiten seines großen Bruders. Er wollte auch, dass das Unternehmen AvVentura hieß. Ventura war Francos Nachname, den er zum Andenken an seinen viel zu früh verstorbenen Vater auch nach der Heirat seiner Mutter mit Signor Barbieri, der ihn adoptiert hatte, weiterführte. Kombiniert mit den beiden vorangestellten Buchstaben Av, entstand das Wort AvVentura, was auf Italienisch Abenteuer bedeutet. Einen besseren Namen für ein Fitnesscenter konnte man sich kaum wünschen, meinte Daniele damals, und ihre Mutter stimmte zu. Sie sah in diesem Schritt die beste Möglichkeit, um die beiden unterschiedlichen Söhne einander näherzubringen, und gab den Betrag frei, den sie für den Minderjährigen verwaltete. Und Franco machte seine Sache gut. Mehr noch. Innerhalb von drei Jahren besaßen sie bereits vier Fitnesscenter in ihrer Region, der Emilia-Romagna, und eines in Rom. In dem Jahr, in dem Daniele das Studium der Sportwissenschaften abschloss, das war sieben Jahre nach der Eröffnung des ersten Standorts, hatten sie sich bis nach Neapel, Venedig, Mailand und Genua ausgedehnt. Das alles war Francos Verdienst, der zwar kein bewegungsfreudiger Mensch, sondern ein Schreibtisch-Potatoe war, wie ihn seine Mutter nannte, jedoch ein sehr bewegliches Gehirn sein Eigen nannte. Obwohl die unterschwellige Eifersucht des Größeren für das unverschämt gute Aussehen des Jüngeren immer wieder an die Oberfläche trat, hatten sie in den vergangenen zehn Jahren, seitdem auch Daniele aktiv in das Unternehmen eingestiegen war, die nahezu perfekte Art der Zusammenarbeit gefunden und waren mittlerweile mit AvVentura auf dem gesamten Staatsgebiet vertreten. Die einzige Stadt mit mehr als einhunderttausend Einwohnern, die ihnen noch fehlte, war Verona, wo es seit Jahren keine freien Lizenzen für Fitnesscenter gab. Offenbar schauten die Veroneser auf ihre Körper, weshalb die Unternehmer der Fitnessbranche alle gut verdienten, also hatte Franco zum zuständigen Beamten der Stadt an der Etsch Kontakt aufgenommen. Stundenlange Telefongespräche waren einem persönlichen Treffen in einem Luxusrestaurant vorausgegangen, an dessen Ende die beiden Männer zwar volle Bäuche hatten, die Antwort jedoch immer noch die gleiche war. »Nichts zu machen!«

      Und so hatte Franco Ventura, der nicht nur dem Namen nach, sondern auch als Geschäftsmann ein Abenteurer war, einen Plan gefasst, den nun sein Bruder umsetzen sollte. Der sollte in Verona heimisch werden und den Feind ausspionieren. Es ging darum, Fakten vor Ort zu beschaffen, die Schwachstelle des Unternehmens zu finden, kleine Probleme zu provozieren, diese eventuell an die Behörden zu melden, kurz gesagt - es sich als unerkannter Störfaktor, gleich einem Kuckuck, im fremden Nest gemütlich zu machen. Was Franco in wenigen Sätzen umriss und in einem Memorandum schriftlich festgelegt hatte, fiel Daniele jedoch unheimlich schwer. Er war ein grundlegend korrekter Mensch, geradlinig und vertrauenswürdig, eben der typische Naturmensch, der komplexen Strategien das In-die-Augen-Sehen und mit Handschlag besiegelte Abmachungen vorzog. Und so hatte er die letzten Tage seit seiner Ankunft damit verbracht, der perfekt möblierten, aber sterilen Wohnung seinen persönlichen Touch aufzudrücken. Er hatte die Kartons mit seinen Sachen ausgeräumt, die aus Bologna angeliefert worden waren, den Kühlschrank gefüllt, die nähere und weitere Umgebung der Unterkunft zu Fuß und mit dem Auto erkundet und den gestrigen Tag endlich auf den Hügeln bei Sant’Ambrogio di Valpolicella verbracht. Nach vier Stunden auf dem Fahrrad hatte er dieses wieder auf den Jeep gepackt und war in einem Weingut eingekehrt. Auf der Terrasse sitzend hatte er den Blick über die darunterliegende Stadt schweifen lassen, in der er so rasch wie möglich seine Mission abschließen sollte. Das Fitness- und Wellnesscenter Oasi di Giulia, das seinen Namen sicherlich dem unweit vom Standort gelegenen Haus von Shakespeares Giulia verdankte, war eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung und drei Teilhabern. Eine davon, eine Ausländerin mit einem unaussprechlichen Namen, war als Geschäftsführerin eingetragen. Das vor sechzehn Jahren gegründete Unternehmen war solide und steigerte den Umsatz sowie den damit einhergehenden Gewinn jedes Jahr. Sonst wusste er nichts, doch allein die Vorstellung, jemandem willentlich zu schaden, um ihm dann, wenn er auf der Erde lag, ein unwiderstehliches Kaufangebot zu machen, bereitete ihm schlaflose Nächte.

      Und so hatte er gestern am Abend, als er mit einer Flasche Valpolicella unter dem Arm heimkehrte, diese geköpft, zwei Gläser lang gegrübelt und gehadert und schließlich beschlossen, Franco heute mitzuteilen, dass er diese Sache nicht machen würde. Danach wollte er sich auf den Weg in die Stadtverwaltung begeben und mit diesem Beamten reden, der für die Vergabe der Lizenzen zuständig war. Nach der sicherlich negativen Antwort seinen Wunsch betreffend, würde er sich logischerweise an den Politiker wenden, der ihm helfen konnte, und dessen Preis in Erfahrung bringen. In Italien funktionierte vieles auf diese Art. Die meisten Menschen in öffentlichen Ämtern waren käuflich, und sein Bruder war es gewohnt, mit diesen zu verhandeln. Sollte Franco sich aus dem Fenster lehnen, wenn er unbedingt in Verona Fuß fassen wollte. Er würde es nicht tun!

      Das war am gestrigen Abend gewesen, bevor er zu Bett ging, vom Müllwagen geweckt wurde und seinen Morgenlauf zwischen stinkenden Abgasen auf Asphalt absolvierte. Am Kiosk hatte er eine Zeitung gekauft, war hinaufgelaufen