José Luis de la Cuadra

Eine Faust-Sinfonie


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in Bayreuth, an der Wahnfriedstrasse 9, unweit des Festspielhauses meines Schwiegersohnes Wagner. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit, weggesperrt, ein Gefangener meiner selbst. Allein vor dem Gericht Gottes. Allein in den Armen des Teufels. Mitten im Ringen der übermenschlichen Kräfte. Schutzlos und nackt den Mächten ausgeliefert, die den Tod verlangen. Wer soll über mich richten, wenn nicht ich selbst? Wo bleibt die letzte Ölung, die mich von den Sünden des Lebens befreit und die man mir vorenthält? Wer spielt mir die Musik, die mich erlösen wird?

      Nur das Schluchzen der Weiblichkeit begleitet mich auf meinem letzten Weg. Das Verlangen ist groß, der Schmerz unerträglich. Ich spüre die sanfte Berührung, die kühle Haut, höre die zarten Worte. Die Himmelskönigin spricht zu mir: Wohin gehst du? Ich will zu ihr. Nur sie, nur ihre Vollkommenheit kann meine Seele retten. Nur sie wird mich über den Tod hinaus begleiten.

      Herr, ich begebe mich in deine Hände.

      Ferenc Liszt starb am 31. Juli, 1886, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, im Beisein seiner Tochter Cosima.

      

      

      2

      Du wirst, mein Freund, für deine Sinnen in dieser Stunde mehr gewinnen als in des Jahres Einerlei.

      (MEPHISTOPHELES, Faust: Der Tragödie erster Teil)

       Rom

      

      

       2015, Eine Taverne in Trastevere

      

      

      Die Dunkelheit der Nacht schlich wie eine Katze durch die enge Türe des rauchgeschwängerten Raumes. Einzelne mit Kerzen bestückte Kandelaber reflektierten feine Muster an die Steinwände. Lichtfetzen entwichen den Flammen und tanzten über den Tischen und Stühlen der Schenke. Auf dem Tresen stapelten sich Flaschen, Gläser und rauchende Glimmstängel. Der korpulente Barkeeper mit Schnauzbart und knolliger Nase ließ das Bier aus der Zapfsäule sprudeln. In seinem Mundwinkel hing eine längst erloschene Zigarette. Von draußen drang Gassenlärm herein. Ein fast beängstigendes Zeugnis fröhlichen Treibens.

      Ich saß zuhinterst in der Weinschenke an einem kleinen Tisch. Meine Hand umfasste krampfhaft ein Glas rubinroten Liutprando 2007 aus dem Latium. Seine volle und saftige Note entfachte ein sanftes Begehren in mir und trübte meine Sinne. Die Gedanken in meinem Kopf kreisten wild und ließen mich schwindlig werden. Ängste, die in mir tobten, trieben mir kalten Schweiß aus den Poren. Die abgründige Stimmung in diesem finsteren Gewölbekeller Roms verstärkte das Unbehagen, welches meine Entscheidungen in mir hervorgerufen hatte. Die Trunkenheit, eine Folge des schweren Weines, konnte der Furcht, die seit der Ankunft in der heiligen Stadt in mir steckte, nicht Herr werden.

      Am 27. Mai 2015 hatte ich beschlossen, mein Leben als anerkannter Wissenschaftler zu verlassen. Ein unbefriedigendes und unergiebiges Dasein, vollgepackt mit Zwängen und Verpflichtungen, eine unaufhörliche Suche nach dem Sinn meiner Ziele. Gefesselt durch die Stränge des gutbürgerlichen Lebens, erstickt in gesellschaftlichen Normen und abgestumpft durch die Monotonie des Alltags, wollte ich ausbrechen und die verborgene Seite meiner Existenz an neuem Ort entdecken.

      Warum Rom? Ich kannte die Stadt von früheren Reisen. Für mich war sie eine Drehscheibe menschlicher Rastlosigkeit, eine Schnittstelle der Begegnungen, Kulturen und Künste. Sie strahlte Begehrlichkeit und sinnliche Befriedigung aus. Zudem stand sie im Spannungsfeld der kirchlichen Macht, des Vatikans. Sie schwankte zwischen Erhabenheit und tiefster Verderbtheit. Ein idealer Ort, um die eigenen Widersprüche zu erkennen, sich von Verstrickungen und Abhängigkeiten zu lösen.

      Die Zweifel an der Richtigkeit meines Ausbruchs aus dem Käfig, den ich mir selbst gebaut hatte, führten mich jedoch immer tiefer in eine neue, mir bisher unbekannte Abhängigkeit, diejenige der Trunksucht. Sie war ein Zeichen meiner ungeahnten Schwäche und bedeutete nichts anderes als die Unfähigkeit, mich außerhalb schützender Gesellschaftsnormen zu behaupten. Gequält von fremdartigen Visionen griff ich immer häufiger zur Flasche. Welcher Teufel hatte mich dazu gebracht, mein bisheriges Leben zu verlassen?

       Hast du mich gerufen?

       Wen soll ich gerufen haben?

       Mich.

       Den Teufel?

       Nenn mich, wie du willst.

       Bist du der wahrhaftige Teufel?

       Wenn du es zulässt.

      Wie gelähmt blickte ich mich um. Woher die Stimme?

      Ein älterer Herr in schwarzer Soutane und weißem Kollar hatte sich zu mir an den Tisch gesetzt. Er blickte mich an.

      „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche. Sind Sie fremd hier?“

      „So könnte man es nennen. Nicht nur fremd in dieser Stadt, sondern fremd vor mir selbst.“

      Ich sah die Umrisse des Geistlichen verschwommen, seltsam verzerrt. Wer sprach die Worte? Halluzinierte ich unter Alkoholeinfluss?

       Bist du das, Teufel, versteckt in einer Soutane?

       Was glaubst du denn?

       Es könnte ein Geistlicher sein.

       Na und? Schließt das den Teufel aus?

       „Wer sind Sie, Monsignore?“

      „Ich bin ein Priester der Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu, ich bin Jesuit und Kardinal am Apostolischen Stuhl.“

      „Soll ich das glauben? Ein Pater in dieser Spelunke? Es scheint mir mehr als seltsam, einen katholischen Priester an einem so profanen Ort anzutreffen.“

      „Das Unheilige, die Orte der Finsternis sind Teil meiner Welt. Aber ich muss mich entschuldigen. Komme ich ungelegen? Ich dachte nur ..., nun, Sie machen einen verzweifelten Eindruck. Ich würde wetten, dass Sie in einer Krise stecken. Könnte es sein, dass Sie sich hier in Rom nicht zurechtfinden?“

      „ Mischen Sie sich immer in die persönlichen Angelegenheiten von Leuten ein, die Sie nicht kennen?“

      „Nun, ich bin Priester. Die Hingabe zu meiner Berufung leitet mein Tun. Auch wenn ich als Vertreter der kirchlichen Institution nicht immer fehlerfrei handle, so bin ich doch für Vieles nützlich. Ich kann Ihnen helfen.“

       Ich traue diesem Herrn nicht.

       Du solltest dich mit ihm anfreunden.

       Ich kenne ihn nicht.

       Das ist es ja. Du musst ihn kennenlernen.

       Habe ich nicht schon genügend Probleme?

      Ich brauche Ruhe, Monsignore. Bitte lassen Sie mich allein. Ich komme selbst zurecht.“

      „Das ist Ihre Sicht der Dinge. Menschen neigen dazu, sich zu überschätzen. Dabei entgleitet ihnen oft die Kontrolle.“

      Der Priester ging mir allmählich auf die Nerven. Was wollte er von mir? Ich hatte mich entschlossen, ein anderes Leben zu beginnen und wollte das durchstehen.

      In diesem Augenblick brach die Welt über mir zusammen. Erinnerungen prasselten auf mich herunter wie Peitschenhiebe: Wie ich zu Hause mit dem Revolver in der Hand dasaß. Der Blick meiner Frau, die mich ertappt hatte. Der Wutanfall. Der Kontrollverlust. Das Wort Trennung. Die Tränen in den Augen meiner Partnerin. Der Entschluss, alles hinter mir zu lassen, zu zerstören, was ich mir aufgebaut hatte, Beruf, gesellschaftliche Stellung, Familie.

      Hatte ich den richtigen Weg gewählt? War das Ungewisse wünschbar? Wo war das Tor der Erkenntnis? Auf der anderen Seite der Welt? Konnte ich das Unvorstellbare finden? Welche Kraft