Eric Scherer

Der dicke Mann und das Meer


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gezeigt hätte, hätte er mit ihr einen gemeinsamen Besuch verabredet.

      Jetzt aber war er über vierzig. Sie gefiel ihm, und er hatte das Gefühl, dass er ihr auch sympathisch war, und sie machte einen irgendwie ungebundenen oder zumindest nicht fest gebundenen Eindruck. Sodass eigentlich nichts dagegensprach, nach der Methode von vor zehn, fünfzehn Jahren zu verfahren, doch seine Eingeweide sträubten sich und er hatte keine Ahnung, weshalb. Einer dieser Küchenpsychologen, mit denen er auf den Wohnzimmerparties, bei denen auf dem Balkon geraucht werden musste, gelegentlich ins Gespräch kam, hätte ihm vermutlich erklärt, dass sein Übergewicht ihm das Selbstvertrauen raube, Frauen anzusprechen, respektive – das Wort wurde in seinem Jahrgang noch rege benutzt – „anzubaggern“. Doch das war Unsinn. Er hatte die Schüchternheit seiner Jugendjahre schon lange abgelegt, ja sogar von Berufs wegen ablegen müssen, er hatte sich sogar akademisch, wenn auch nur am Rande, mit Rhetorik und Körpersprache befassen müssen. Er verstand sich also darauf, ein Gespräch zu beginnen und weiterzuführen, und er verstand sich ebenso aufs geistreiche Erzählen und Scherzen, einigermaßen jedenfalls. Und an Mut fehlte es ihm schon gar nicht, nicht nach heute Morgen, wo er sich entschlossen hatte, dass es nun endgültig reichte, dass das Fass übergelaufen war. Er wollte, endlich, mit der Faust auf den Tisch hauen. Aufstehen, sich erheben. Jawohl.

      Corinna Uhl hatte er schon vor ein paar Monaten kennengelernt, am Rande des Jockel-Prozesses. Jockel war ein Schäferhund, der der Vergewaltigung angeklagt war, und er, Charlie Diekmann, hatte ihn verteidigt.

      Das heißt: Juristisch betrachtet, war es natürlich keine Vergewaltigung, da sämtliche handelnden Personen Vierbeiner waren. Jockel hatte sich eines Nachmittags von zu Hause weggestohlen und in der Nachbarschaft eine Golden-Retriever-Dame bestiegen. Eine Abtreibung wurde notwendig, und danach verlangte der Nachbar von Jockels Herrchen, die Tierarztrechnung zu begleichen. Dieser wandte sich an Charlie, und so kam es zu einem Aufsehen erregenden Zivilprozess, dem auch die lokale Presse in Person von Corinna Uhl beiwohnte. Charlie Diekmann überzeugte das Gericht, dass es alleinige Pflicht des Halters einer läufigen Hündin wäre, diese vor Schändern zu schützen. Denn Rüden seien im Prinzip unzurechnungsfähig, wenn sie die Duftstoffe von läufigen Hundedamen rochen, da diese biochemische Reaktionen auslösten, die selbst bestens erzogenene Männchen die Kontrolle verlieren ließen. Jockel wurde freigesprochen.

      Danach hatte Corinna Uhl ihn angesprochen und sie waren ins Plaudern gekommen. Am Ende hatte sie ihm ihre Visitenkarte gereicht, mit der Bitte, sie doch künftig zu verständigen, wenn er derart merkwürdige Fälle behandelte. Leider hatten sich keine ergeben. Bis zu diesem Morgen.

      „Ich bin ja eigentlich ein gutmütiger Mensch“, erklärte Charlie der Zeitungsredakteurin, „aber was zu viel ist, ist zu viel.“

      „Das kann ich verstehen“, nickte Corinna Uhl. Sie standen in seiner Wohnung, betrachteten sich den großen Wasserflecken in der Küche, die jetzt aufgeräumt aussah. Den Berg aus schmutzigen Tellern, Gläsern und Besteck, der sich in der Spüle aufgetürmt hatte, hatte er kurz vor ihrem Eintreffen noch schnell in der Geschirrspülmaschine verstaut.

      „Und woher kommt das Wasser?“, fragte Corinna Uhl.

      „Vom Dach“, erklärte Charlie. „Und das seit Jahren. Immer wieder.“

      „Ja, aber weshalb? Ist das Dach nicht richtig abgedichtet oder was?“

      „Fehlkonstruktion“, analysierte Charlie in scharfem Ton, als kenne er sich mit der Materie aus. „Handwerkerpfusch, schon beim Bau. Beziehungsweise: Schlimmer Konstruktionsfehler des Architekten. Hat ein Flachdach draufsetzen lassen, auf dem das Wasser nicht richtig abfließt. Ungeheuerlich.“

      „Und warum verklagt die RheinHeim das Architekturbüro nicht auf Schadenersatz?“

      „Weil die RheinHeim sich schon vor Jahren mit dem Architekten verglichen hat. Das ist doch der Witz. Für die rund hundert Mieter in dem Gebäudekomplex mag das ja in Ordnung gewesen sein, aber die etwa zwanzig Wohnungseigentümer, zu denen ich auch gehöre, hat natürlich niemand gefragt. Dafür können wir jetzt immer mitblechen, wenn es was zu reparieren gibt – und das ist in schöner Regelmäßigkeit der Fall.”

      Corinna Uhl schüttelte den Kopf und lächelte dieses schiefe Journalistenlächeln, halb amüsiert über die Geschichte und halb triumphierend, weil sie Beute gemacht hatte. Die geschäftsführenden Herrschaften stadtnaher Wohnungsbaugesellschaften als unfähig hinzustellen, machte sich immer gut im Lokalteil ihrer Zeitung.

      Und er, Charlie Diekmann, hatte ihr die Beute in die Fänge getrieben. Darauf musste sich doch aufbauen lassen. Irgendwie musste er einen Dreh finden, weg von diesem für sie beruflichen Thema zu einem privaten zu kommen, und sich anschließend vorarbeiten zu einer abendlichen Verabredung. Aber wie? Er konnte doch nicht im Ernst das Gespräch auf einen neu angelaufenen Film bringen, er wusste doch gar nicht, was gespielt wurde, er ging doch schon seit Jahren nicht mehr ins Kino, und er hatte auch keine Ahnung, was es im Kabarett oder im Theater gab. Nicht einmal ein Lokal, das gerade neu eröffnet hatte und für das er sie hätte interessieren können, fiel ihm ein.

      Also erzählte er weiter von den Wasserflecken und deren Hintergründen: Dass diese in den zwölf Jahren, die er inzwischen in dem Gebäudekomplex wohnte, nun schon das dritte Mal aufgetreten waren. Auch die Tiefgaragen unter der Wohnung standen immer wieder unter Wasser, an manchen Tagen könne er „zu seinem Auto paddeln“, witzelte er. Er sah, dass Corinna Uhl diese Formulierung gefiel und freute sich darauf, sie morgen in ihrem Zeitungsartikel zu lesen.

      Im Wehklagen über seine Auseinandersetzung mit der RheinHeim bot er ihr einen Espresso an, und tatsächlich, sie mochte einen, was ihm Gelegenheit gab, ihr seinen teuren Kaffee-Vollautomaten vorzuführen und ihr einen kleinen Vortrag zu halten, weshalb er an einem guten Kaffee, respektive Espresso, niemals sparen wollte. Und siehe da, auch Corinna Uhl mochte keinen Billigkaffee, sie besaß ebenfalls einen Vollautomaten, das war doch schon einmal eine Gemeinsamkeit, immerhin, jubelte er innerlich – doch wie ließ sich dieser Faden weiterspinnen? Sollte er ein Kaffee-Vergleichstrinken anregen?

      „Zu schade nur, dass ich auf meiner nächsten Reise auf frisch gebrühten Kaffee verzichten muss“, erzählte Corinna Uhl dann. „An Bord wird es nur eine ganz dünne, massenkompatible Miege geben, vielleicht sogar nur Muckefuck.“

      „An Bord? Sie gehen auf eine Kreuzfahrt?“, hakte der dicke Mann nach. Urlaub, das war doch immer ein gutes Thema.

      „Nein, keine Kreuzfahrt, jedenfalls nicht auf so einem Kreuzfahrtsschiff, wie man es vom Fernsehen kennt“, klärte ihn die Journalistin auf. „Ich werde auf einem Segelschiff die Westküste Spitzbergens hinauffahren. Nach Norden, über den 80. Breitengrad.“

      „Spitzbergen? Mein Gott, das muss doch fürchterlich kalt sein …“

      „Gar nicht mal so. Wir segeln ja mitten im Sommer. Da ist es allenfalls kühl, aber nie richtig kalt. Vor allem wird während dieser zehn Tage die Sonne niemals untergehen. Ich bin mal gespannt, wie ich das vertrage …“

      „Was für ein Abenteuer“, murmelte Charlie Diekmann mit großen Augen, und dies war nicht einmal gespielt. Auf einem Segelschiff Richtung Norden zu fahren, überhaupt, einmal übers offene Meer zu segeln, das weckte Erinnerungen an die Bücher und Filme, die er in seinen schlanken Jahren verschlungen hatte. An den verzweifelten Kampf mit und um den großen Schwertfisch, an die Suche nach dem weißen Wal, an die Meuterei auf der Bounty.

      „Und wie kommt man auf eine solche Urlaubsidee?“, fragte er.

      „Eigentlich ist es gar kein richtiger Urlaub“, antwortete Corinna Uhl. „Ich begleite eine Leserreise unserer Zeitung. Wir begeben uns auf die Spuren eines großen Sohnes unserer Stadt, eines Seefahrers aus dem 19. Jahrhundert. Er verschwand vor 150 Jahren spurlos am 80. Breitengrad. Er war ein Vorfahre unseres Verlegers, der diese Reise initiiert hat. Daher wird auch er mit an Bord sein. Womit ich unter ständiger Beobachtung meines Brötchengebers stehe. Urlaub kann man das also wirklich nicht nennen.”

      „Auf jeden Fall aber ist es ein Erlebnis“, fand Charlie. „Ich beneide Sie.“

      In seinem Kopf rumorte es. Natürlich kam ihm spontan