Eric Scherer

Der dicke Mann und das Meer


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Abenteuer, jedenfalls nicht ausschließlich. Über den 80. Breitengrad zu segeln – je länger er darüber nachdachte, desto reizvoller, verwegener schien ihm dieser Gedanke: Zum 80. Breitengrad waren in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Seefahrer aufgebrochen, um die legendäre Nordwest-Passage zu finden, von der damals niemand genau wusste, ob es sie überhaupt gab. Das war doch genau die richtige Reise für ihn, der sich heute Morgen entschlossen hatte, künftig anders zu leben. Entschiedener. Wagemutiger.

      Aber, es war wirklich zum Heulen: Er mochte Corinna Uhl einfach nicht fragen. Es erschien ihm schlichtweg als zu durchsichtiges Manöver. Die Gefahr, dass er aufdringlich wirkte, war zu groß. Er musste es eleganter, geistreicher anstellen, irgendwie, aber es wollte ihm einfach nichts einfallen. Vielleicht war ja genau dies sein Problem: Dass er mit seinen 43 Jahren meinte, er müsse alles reifer, ausgefeilter, geschliffener machen als vor zehn Jahren. Und eben dies bekam er nicht hin.

      Also schwärmte er Corinna Uhl noch ein wenig von den Seefahrerfilmen und Romanen vor, die er so liebte, in der vagen Hoffnung, dass vielleicht von ihr der Anstoß käme, wenn ihm so sehr der Sinn nach Abenteuern auf hoher See stünde, solle er sich doch anschließen. Aber natürlich geschah nichts dergleichen. Bald hatte sie ihren Espresso ausgetrunken und erklärt, gehen zu müssen, es warte noch Arbeit auf sie.

      „Haben Sie eigentlich noch mal was von Jockel gehört?“, fragte sie ihn, als sie schon in der Tür stand.

      Er lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, sagte er, anscheinend hält er sich bei den Damen nun etwas zurück. Jedenfalls braucht er keinen Anwalt mehr.“

      „Nun ja, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste“, zwinkerte sie Charlie zu und ließ ihn versonnen lächelnd zurück.

      Die Zeitung lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Charlie hatte sie sich besorgt, um sich über die Leserreise zu informieren, von der Corinna Uhl ihm erzählt hatte. Sie fand zu Ehren eines Herren namens Jean Gutswiller statt, der sich um 1860 herum aufgemacht hatte, um in Holland eine Schiffsexpedition auf die Beine zu stellen, die den Nordpol ansteuern, diesen kreuzen und auf der anderen Seite der Erdkugel in den Pazifischen Ozean schippern sollte.

      Der Plan mochte aus heutiger Sicht unsinnig anmuten, tatsächlich aber waren noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Gelehrte davon überzeugt gewesen, dass ein solcher Wasserweg zwischen den Eismassen hindurch existierte: Dies, glaubten sie, bewirke der warme Golfstrom, von dem damals bereits bekannt war, dass er bis weit in den Norden floss. Natürlich kehrte Gutswiller von dieser Reise nicht zurück, womit er das Schicksal vieler Arktisreisender seiner Zeit teilte. Anlass, an ihn zu erinnern, war sein nun anstehender 200. Geburtstag. Einer seiner Nachfahren, der Verleger Horst Hallgarten, wollte Gutswiller im Rahmen einer Leserreise gedenken. Dazu war das holländische Segelschiff „Snooper“ gechartert worden. Insgesamt waren 20 Plätze zu vergeben.

      „Da bin ich auch dabei!“

      Bernd Primm pollerte mit dem wurstigen Zeigefinger seiner Rechten auf dem aufgeschlagenen Zeitungsartikel herum, noch bevor er sich gesetzt hatte. „Gerade vorhin habe ich meine Reservierungsbestätigung abgeholt.“

      Charlie hatte gar nicht bemerkt, dass Primm sein Büro betreten hatte. Er erschrak kurz, dann seufzte er leicht. Er hatte gerade davon geträumt, an Deck der „Snooper“ zu stehen, die hart am Wind dem 80. Breitengrad entgegenjagte; sein Blick war gegen den Horizont gerichtet und sein rechter Arm umschloss die Schultern Corinna Uhls. Doch nun hatte ihn der Alltag wieder eingeholt.

      „Ich wusste gar nicht, dass du so ein Abenteurer bist“, lächelte Charlie mit verhaltener Distanz.

      „Ich bin noch viel mehr als das“, kläffte Primm heiter. Er war Busfahrer bei den Stadtwerken und darüber hinaus während der Fastnachtszeit als Wanderredner aktiv, als solcher allerdings eher berüchtigt als berühmt.

      „Und dein Gazellchen kommt auch mit?“, fragte Charlie. „Gazellchen“ nannte Primm seine etwa drei Zentner schwere Geliebte.

      „Bist du verrückt? Mein Gazellschen bleibt schön daheim. Was meinst du, was da für Weiber auf diesem Kahn herumlaufen – ich bin doch nicht blöd.“

      Ganz schön selbstbewusst, dachte Charlie. Primm war ein untersetztes, zusammengetrunkenes Kerlchen von Anfang fünfzig. Doch mit seinem aufgequollenen Gesicht und seinen tränensackbeschwerten Augen ging er glatt als Siebzigjähriger durch. Auch sonst war er nicht gerade die Sorte Begleiter, die sich alleinreisende Damen auf Kreuzfahrten herbeisehnten.

      Charlie zog die Akte heran, die er sich zu seiner Rechten bereitgelegt hatte.

      „Also, was liegt an, Maitre?“, fragte Primm.

      „Nichts Gutes, Bernd, nichts Gutes.“ Charlie zog eine Grimasse.

      „Ja, wie?“

      „Nach Ansicht des Gerichts hast du gegen das Urheberrecht verstoßen. Du darfst diese Büttenrede nicht mehr öffentlich halten, bei Zuwiderhandlung droht dir ein Ordnungsgeld in Höhe von 150 000 Euro. Außerdem musst du angeben, wann und wo du den Vortrag in den vergangenen Jahren gehalten hast, und eventuell empfangene Honorare herausgeben. Und du musst die Kosten des Verfahrens tragen.“

      „Aber das ist eine Frechheit, Maitre“, echauffierte sich Primm, dessen Heiterkeit schlagartig einer tiefen Leidensmiene gewichen war. „Mein Vortrag ist doch ganz anderes als der vom Metz, viel besser vor allem, das muss man doch sehen …“

      Natürlich hatte Primm unrecht. Sein Vortrag stimmte zu achtzig Prozent mit dem eines anderen Büttenredners überein, der diesen schon vor Jahren gehalten hatte. Charlie erklärte dies Primm so gelassen er konnte, wohl wissend, dass Primm es nicht verstand, beziehungsweise: dass Primm aus Prinzip beharrlich leugnen würde, dies zu verstehen.

      „Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte Primm irgendwann.

      „Was wohl? Du wirst bezahlen müssen.“ Charlie sah die wachsende Sorge in Primms Gesicht.

      „Aber, was ist denn mit Berufung und so …“

      „Bernd, das macht doch alles nur noch teurer. Was willst du eigentlich bestreiten? Eine Berufung verursacht doch nur weitere Kosten. Mein Honorar solltest du übrigens auch nicht vergessen.“

      „Aber wir sind doch Freunde …“

      „Unsere Kanzlei ist sozusagen von alters her mit deinem Verein eng verbunden“, dozierte Charlie. „Natürlich vertreten wir gerne dessen Mitglieder. Das heißt aber nicht, dass wir dies auf ewig und umsonst tun. Und bei dir hat sich schon einiges angehäuft. Erst vergangenes Jahr haben wir uns um deine Führerschein-Angelegenheit gekümmert …“

      „Und was hat es gebracht? Meinen Lappen bin ich trotzdem los …“

      „… weil man als Anwalt nun mal nicht viel vor Gericht vorzubringen hat, wenn dem Mandanten 1,84 Promille Alkohol im Blut nachgewiesen worden sind. Jedenfalls stehen seither bereits über 2000 Euro an Honorar offen. Wir hätten schon längst ein Mahnverfahren gegen dich einleiten können, und demnächst werden wir dies wohl auch tun.“

      „Wenn ich von Dr. Kayser vertreten worden wäre, wäre bestimmt alles anders ausgegangen“, murmelte Primm wie ein motziges Kind.

      Damit hatte er es sich bei Charlie endgültig verscherzt. Bislang hatte er noch ein wenig Mitleid empfunden für diese laute, aber doch trotz ihrer fünfzig Jahre noch kindliche Kreatur, der man irgendwie nicht böse sein konnte. Diese letzte Äußerung aber war unverzeihlich. Dr. Kayser war Charlies Sozius und der eigentliche Grund dafür, dass er sich überhaupt mit versoffenen, zahlungsunfähigen Mandanten abgeben musste. Denn Dr. Kayser war ein hoher Funktionär in Primms Karnevalsverein, daher nahm sich die Kanzlei generöserweise auch dessen Fußvolk an, wenn dieses nach einem Rechtsbeistand verlangte. Allerdings bearbeitete Dr. Kayser diese Fälle nicht selbst, sondern delegierte sie an Charlie, während Dr. Kayser nur die Angelegenheiten der gesellschaftlich höher stehenden Vereinskameraden betreute. Charlie nahm dies klaglos hin, schließlich empfand er sich gerne als so etwas wie der „Anwalt des kleines Mannes“.

      Zumindest hatte er sich dies lange Jahre eingeredet. Doch