Peter Graf

Das Vermächtnis von Holnis


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die der Fabrikant ihm voller Stolz als Bessemeranlage aus England vorstellte. Dieser Ofen hatte nichts mehr gemein mit dem Schmiedefeuer, an dem Christian noch vor wenigen Wochen gearbeitet hatte. An zwei Seiten standen aus hitzefesten Ziegeln gemauerte, scheunenhohe Hochöfen, zu deren Öffnungen oben Rampen führten. Über diese wurden auf Schienen mit Koks und Holzkohle beladene Loren über ein Seilsystem nach oben gezogen. Zwischen den beiden Hochöfen stand ein drei Mann hohes birnenförmiges Gebilde mit einem schrägen, offenen Hals aus schwarzem genietetem Stahlblech. Dieser Konverter, so teilte ihm der Fabrikbesitzer mit, diente dazu, das flüssige Roheisen direkt aus den Hochöfen aufzunehmen und durch Luftzufuhr in hochwertigen Stahl zu verwandeln. Und Christian erfuhr, wozu der Stahl benötigt wurde: Hier wurden Feuerwaffen auf dem neuesten Stand der Technik gegossen.

      Christian war von den Eindrücken überwältigt: der Lärm, die Hitze, die Geschäftigkeit der Arbeiter. Aber zwei Dinge überzeugten ihn, hier am richtigen Ort zu sein. Hier würde er Kenntnisse erwerben, von denen er in Flensburg nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Zudem war sein zukünftiger Dienstherr ein Mensch, der sich offensichtlich nicht in seiner Villa einschloss, sondern der sich in der Werkshalle zurechtfand und sogar mit den Arbeitern wie mit Seinesgleichen sprach. Hier würde er ein freier Mensch sein, dessen Fähigkeiten ungeachtet seiner Herkunft und Vorgeschichte gewürdigt werden würden.

      Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Zwar wurden dem jungen Mann aus Flensburg schwere Tätigkeiten aufgebürdet, wie die Bestückung der Hochöfen mit Eisenerz und Holzkohle, aber Christian hatte sich nie vor mühsamer Arbeit gescheut. Es gab ihm Kraft und erfüllte ihn mit Freude, dass er in dieser Gießerei ganz neue Erkenntnisse über Eisen und seine Verarbeitung gewinnen würde. Ihm wurde erst jetzt bewusst, wie klein und unbedeutend seine Lehrstelle gewesen war, wie unzureichend sein Wissen war und welche Chance ihm diese Arbeitsstelle bot.

      Sein Lohn war eher gering. Dafür war ihm zusammen mit drei anderen jungen Männern, darunter einer mit schwarzer Haut, eine gemütliche Unterkunft in einer Holzhütte am Gelände zur freien Verfügung zugewiesen worden. Die Arbeiter wurden mit gutem und nahrhaftem Essen versorgt und Christian war mit einem Satz an Arbeitskleidung aus festem Leder ausgestattet worden. Christian war zufrieden. Sein Heimweh, das er schlimmer als Hunger oder körperliche Schmerzen empfunden hatte, schien durch sein neues Leben geheilt zu sein.

      Nicht nur sein unermüdlicher Arbeitseifer, sondern auch seine Neugierde und Wissbegier lenkten die Aufmerksamkeit des Vorarbeiters auf ihn. Dieser junge Deutsche brauchte nicht angetrieben werden. Seine Aufgaben erledigte er zuverlässig und schnell. Und der Junge machte einen intelligenten Eindruck.

      Im Bessemerofen musste die Eisenschmelze aus dem Hochofen von 1200 auf 1500 Grad durch Sauerstoffzufuhr erhitzt werden, sodass dem Roheisen Kohlenstoff entzogen wurde und hochwertiger Stahl entstand. Dazu waren um den Boden dieses riesigen Eisenkessels ringförmig Luftkanäle angeordnet. Mit Hilfe handgeführter Klappen wurde die Luftmenge sorgsam reguliert, um einen gleichmäßigen Temperaturanstieg zu gewährleisten. An jeder Klappe hatte ein Mann zu stehen, der mehrmals am Tag auf Zuruf gleichzeitig mit den anderen die Luftklappe anzuheben hatte. Schon beim ersten Mal hatte Christian sich gefragt, warum man nicht durch eine einfache Mechanik aus Eisenstangen und Gelenken, die er in ähnlicher Funktion aus Flensburg als Viergelenkkette kannte, die sechs Blechklappen verband und damit fünf Arbeiter von dieser überflüssigen Aufgabe entlastete.

      Er traute sich kaum, seine abends angefertigte Zeichnung dem Vorarbeiter zu zeigen, so banal erschien ihm die Lösung. Jetzt erkannte der Werksleiter, dass ihn sein Eindruck nicht getäuscht hatte: Dieser junge Mann war viel zu schade, um Loren zu füllen oder Kisten zu schleppen.

      Er sollte die Gelegenheit bekommen, seine Fertigkeiten im Umgang mit Metallen unter Beweis zu stellen. Dazu wurde ihm ein neuer Arbeitsplatz in einer zweiten kleineren Halle zugewiesen, wo die in Form gegossenen Stähle weiterverarbeitet wurden. Und nicht nur das: Christian wurde einem Ingenieur namens Gatling an die Seite gestellt, der Deutsch sprach und den jungen Deutschen unterweisen sollte.

      Schon bei seiner Ankunft in Philadelphia hatte Christian zunächst mit Erschrecken, dann mit Verwunderung festgestellt, dass Waffen zum Alltagsbild in Amerika gehörten. Hier war es anscheinend völlig normal, dass sogar einfache Bürger Pistolen oder Gewehre bei sich trugen, was in Flensburg sofort mit Festungshaft geahndet worden wäre. Auch eine Waffenfabrik, wie die in Mills Creek, in privaten Händen ohne Kontrolle durch den Staat, wäre in Dänemark oder wohl in ganz Europa undenkbar. Das Tragen von Waffen war in Amerika jedermann erlaubt, was zu einer großen Nachfrage geführt hatte, so dass viel Geld durch ihre Produktion verdient wurde. Und es hatte sich die Erkenntnis bei den Fabrikanten durchgesetzt, dass nur eine konsequente Weiterentwicklung der Waffen die Fabriken konkurrenzfähig machte. Gatlings Aufgabe war dabei, wirksamere Gewehre zu entwickeln.

      Christian konnte sein Glück kaum fassen. Er, der in der Vergangenheit überwiegend grobe Schiffsnägel geschmiedet hatte, bekam hier in Amerika schon nach wenigen Wochen die Gelegenheit, an technisch anspruchsvollen Aufgaben mitzuarbeiten, wobei er sich schnell auszeichnete. Er entwickelte einen Eifer und eine Geschicklichkeit, die ihm einen deutlich höheren Lohn und Anerkennung einbrachten. Gatling sah in ihm seinen Zögling, für dessen technische Ausbildung er viel Zeit bereitstellte und dessen Fortschritte ihn erfreuten und immer wieder erstaunten.

      Im drauffolgenden Frühjahr bot sich Christian die Möglichkeit, einem Verwandten des Fabrikbesitzers, der eine Reise nach Hamburg vorhatte, einen Brief für seine Eltern und für seinen Meister mitzugeben, in dem er seine Begeisterung über Amerika zum Ausdruck brachte und über seine Arbeit in der Waffenschmiede berichtete.

      Fritz, der Gildemeister und der Ratsherr hatten wie gebannt den Worten von Fritz Bruder zugehört. Doch jetzt unterbrach ihn der Gildemeister: „Auch ich habe deinen Brief zu lesen bekommen. Wir alle waren hocherfreut zu hören, dass du nicht nur sicher entkommen konntest, sondern dass es dir auch so gut in Amerika ergangen ist. Hast du dein Gesellenwissen bei deiner Arbeit nutzen können?“ Fritz ärgerte sich, dass die Erzählung seines Bruders unterbrochen wurde. Aber ihm stand es wohl kaum zu, um Ruhe zu bitten.

      5

      

      Erik Feddersen war erleichtert, dass der Fall so schnell abgeschlossen werden konnte. Ihm war bewusst, dass er als Inspektor bei der dänischen Polizei keinen schwerwiegenden Fehler machen durfte. Es war schon ungewöhnlich genug, dass er als Sohn einer deutschstämmigen Familie ein derart hohes Amt bei einer dänischen Behörde bekleiden durfte. Das hatte er sich mühsam erarbeitet. Und ihm war dabei zu Hilfe gekommen, dass er ein sehr sorgsamer Polizist war und er ein Gespür dafür hatte, ob er mit seinen Ermittlungen auf dem richtigen Weg war oder diese in die Irre führten. Es gab genug Neider auf dem Amt, die nur darauf warteten, dass ihn ein Fehler zu Fall brachte und der Posten des Inspektors frei wurde.

      Und der letzte Mordfall hatte Brisanz.

      In einer Hafenstadt wie Flensburg kam es immer wieder zu Morden oder Totschlägen. Aber in der Regel fanden diese im Hafenmilieu statt, wenn sich betrunkene Matrosen an die Gurgel gingen. Diese Morde waren schnell aufgeklärt, und es war dabei einerlei, ob der Täter wenig später am Galgen hing oder ob er es noch geschafft hatte, sich auf ein auslaufendes Schiff zu flüchten.

      Jetzt aber war ein dänischer Amtsmann ermordet worden, den Erik Feddersen sogar persönlich gekannt hatte. Der Amtsarzt Nis Nilsen war keineswegs beliebt gewesen. Er war nur selten im Rathaus anzutreffen gewesen, gesellschaftlichen Ereignissen war er ferngeblieben und wenn eine Begegnung unvermeidbar gewesen war, so zeigte sich der alte Mann sehr zurückhaltend und mürrisch. Nie war er Einladungen gefolgt, geschweige denn, dass er selbst eingeladen hätte. Man wusste wenig über ihn, nur dass er alleine bei der Marienhölzung wohnen sollte.

      Trotzdem, als amtlich bestellter Arzt war er ein Würdenträger, dessen Ermordung schnellstmöglich aufgeklärt werden musste, sodass der Täter hingerichtet werden konnte und der dänische Staat nicht an Autorität verlor. Gerade in dieser Zeit des Aufruhrs und der Revolte war es besonders wichtig, dass sich der Staat entschlossen und handlungsfähig zeigte und keine Schwäche offenbarte.

      Der Mord war eher zufällig aufgedeckt worden. Einem am Hafen patrouillierenden