Peter Graf

Das Vermächtnis von Holnis


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oder warum die englische Flotte sich um das Skagerak herumgeschlichen hatte, unbemerkt den großen Belt heruntergesegelt war und nun vor Kopenhagen lag.

      Ihm war aber augenblicklich klar, dass das Donnergrollen, das sich von Sekunde zu Sekunde zu einem Höllengewitter aus berstenden Explosionen, schrillem Pfeifen und fassungslosen Schreien steigerte, keine Geschützübungen waren, sondern dass sie unter schwerem Beschuss standen. Jesper und Nis hatten keine Zeit zu reagieren und sie hätten auch nicht gewusst, wie sie diesem Überfall aus Eisen, Blei und Feuer hätten entkommen können.

      Jespers Sinne nahmen nicht mehr wahr, wie eine Kanonenkugel die halbfußdicke Bordwand durchschlug und die Kammer mit Glut, Metallsplittern und zerfetztem Holzbalken zu einem Käfig aus brennenden Nägeln machte.

      Als er die Augen wieder Aufschlug, hatte er einen beißenden Geruch in der Nase, seine Augen tränten vor Rauch, aber er stellte mit Erstaunen fest, dass er kaum verletzt sein konnte.

      Trotz des Rauches war es ungewöhnlich hell in der Kajüte. Durch ein körpergroßes Loch aus zerrissenen Planken kam Licht herein, das den in mehrere Teile zerlegten Körper des Schiffsarztes beleuchtete. Jespers Herz setzte aus. Der Arzt war nicht sein Freund gewesen, nicht sein Vater oder Bruder. Der Arzt war für ihn Schutz gewesen, Orientierung und Vertrauen, ohne die das Leben die Hölle gewesen war. Sein erster Reflex war, sich in einen der beindicken Holzsplitter zu werfen, den Säbel des Arztes zu greifen und sich in den Leib zu rammen, diesem dreckigen Leben, das ihn nun wieder erwartete, ein Ende zu setzen.

      Der Überlebensinstinkt eines 17-Jährigen hielt ihn zurück. Das zunehmend krängende Schiff ließ ihm keine Zeit, sich in Trauer von seinem Herrn zu verabschieden, und er hätte auch nicht gewusst wie. Er hätte auch nicht zu erklären gewusst, warum er die Ledertasche des Arztes vom Gürtel über dessen zerquetschter Hüfte an sich riss - vielleicht um irgendein Andenken zu haben. Er musste nur raus hier, raus.

      Jesper konnte hinterher nicht mehr erinnern, wie er es geschafft hatte, sich aus diesem Chaos zerfetzten Holzes, verbogenen Eisens und zerrissener Leibe zu entwinden. Völlig leer, ohne Schmerz und Gefühle, ohne Hoffnungen und ohne Zukunft fand er sich am Abend an einem Abschnitt des Strandes wieder, der von den Kämpfen verschont geblieben war. In der Ledertasche fand er einige Geldstücke und säuberlich gefaltet und durch ein Tuch geschützt die Urkunde, die Nis Nilsen als Arzt auswies.

      Die nächsten Jahre streunte Jesper durchs Land, ohne Plan und ohne Ziel. Er übernachtete in abseits stehenden Scheunen oder baute sich Unterstände im Wald, hielt sich mit kleinen Diebstählen am Leben oder verdiente sich als Tagelöhner einen Teller Suppe oder einen Laib Brot. Manchmal wurde ihm erlaubt, für einige Tage im Stall zu schlafen, wenn er Gelegenheit gehabt hatte, seine Kenntnisse als Mediziner anzuwenden, indem er immer noch mit großem Geschick Sensenschnitte zunähte, Eiterbeulen öffnete oder sogar Zähne zog. Aber er mied die Menschen und blieb nie länger an einem Ort. Vor allen Dingen dann wurde es für ihn höchste Zeit zur Abreise, wenn im Dorf gemunkelt wurde, dass ein Mädchen vergewaltigt worden sein sollte, ein Kind misshandelt oder ein Tier brutal gequält.

      Ein fürchterlicher Herbststurm setzte diesem unsteten Treiben ein Ende.

      Jesper suchte Schutz vor dem Unwetter in einem Gasthaus, das gut gefüllt war, sodass er sich nicht allein an einen Tisch setzen konnte, um von seinen wenigen Geldstücken ein Bier zu bestellen. Sein versoffener Tischnachbar, ein dreckiger, kleinwüchsiger Kerl, jammerte unaufhörlich darüber, dass er der Gehilfe des Amtsarztes in Flensburg gewesen wäre, der unerwartet verstorben war. Und weil kein neuer Arzt gekommen war, hätten sie ihn davongejagt. In diesem Moment keimte in Jesper eine Idee, die seinem Leben wieder eine Richtung geben sollte. Er besaß medizinische Fähigkeiten, er hatte Lesen und Schreiben gelernt - und er war im Besitz einer Urkunde mit Siegeln und Unterschriften, deren Wert er erst jetzt begriff. Er wollte den Posten des Amtsarztes.

      Mit einer für ihn unbekannten Zielstrebigkeit machte er sich daran, seinen Plan umzusetzen. Seine Kenntnisse und Papiere wiesen ihn als Arzt aus, aber sein Äußeres, darüber machte er sich keine Illusionen, würde ihn verraten. Die nächsten Tage verbrachte er Stunden damit, mit Wasser und groben Steinen seine Hände von ihrer dicken verräterischen Hornhaut zu befreien und seine verwachsenen Nägel in eine gepflegtere Form zu bringen. Er schaffte es, mit einer Klinge und unglaublicher Geduld, seinen Haaren und seinem Bart einen Schnitt zu verpassen, der ihm für einen Arzt angemessen erschien.

      Das größte Problem war seine Kleidung: Seine Hose und seine Jacke waren nicht nur unendlich verschmutzt, was ihn nie gestört hatte, sondern in einem Zustand, der ihn niemals als honorige Person hätte durchgehen lassen. Aber er erinnerte sich, welche Wirkung Uniformen auf Menschen hatte.

      Er wusste, wo es Uniformen gab. So beschloss er, nach Tondern zu ziehen, wo er die Kaserne kannte. Er versteckte sich in dem Wald, mit dem ihn schlimmste Erinnerungen verbanden, um auf eine Gelegenheit zu warten.

      Nach drei Tagen voller Hunger, Ängste und Zweifel ergab sich eine solche Gelegenheit.

      Ein Uniformierter, der aus welchen Gründen auch immer allein und nicht zu Pferd unterwegs war, verließ den Waldweg, um einem natürlichen Bedürfnis nachzugehen. Jesper hatte es sich früh angeeignet, sich fast lautlos zu bewegen, um ja nicht aufzufallen. Es fiel ihm leicht, sich dem im Unterholz hockenden Mann von hinten anzuschleichen. Der Schnitt durch die Kehle des Mannes mit der Klinge kam so entschlossen und schnell, dass der Soldat keinen Laut mehr ausstoßen konnte. Den Strick, den er sich auf dem Weg nach Tondern gestohlen hatte, sowie einen schweren Stein nutzte er dazu, den Leichnam in dem Waldsee verschwinden zu lassen.

       Jesper brauchte Tage, um seine neue Kleidung vom Blut zu reinigen und um nach Flensburg zu ziehen. Immer wieder beschlichen ihn Ängste, wenn er daran dachte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Ihm war klar, dass sein erstes Auftreten entscheidend war, und deswegen legte er sich wieder und immer wieder die Worte zurecht, mit denen er im Rathaus seine Ankunft ankündigen wollte. In Flensburg angekommen, war er von der Lebhaftigkeit der Stadt verwirrt. Es war schon Jahre her, dass er sich in eine Stadt solcher Größe gewagt hatte.

      Die Stadt brodelte vor Geschäftigkeit und wimmelte voller Menschen. Hier konnte er den Menschen nicht aus dem Weg gehen und er hatte den Eindruck, dass jedermann ihn anstarrte. Er zwang sich dazu, nicht ständig hinter sich zu gucken, ob er verfolgt wurde. Er vermied es, den Leuten in die Augen zu schauen, und ergab sich ein zufälliger Blickkontakt, so flatterten seine Augenlider und sein Herz begann zu rasen. Es konnte doch niemand wirklich glauben, dass er Soldat war, dass die Uniform seine eigene war. Die Unruhe der Stadt, von der er wusste, dass sie neben Kopenhagen der größte Handelsplatz im gesamten Norden war, übertrug sich auf ihn. Das Klappern der zahlreichen Fuhrwerke, das Geschrei der Leute ließen ihn zusammenzucken. Der Lärm von der Straße und aus den zahlreichen Hinterhöfen drückte auf seinen Kopf, sodass er immer wieder versucht war, wegzurennen, seiner wahnsinnigen Idee zu entfliehen. Aber dann erkannte er, dass die Leute Ehrfurcht oder sogar Angst vor seiner Uniform spürten, was ihm wieder etwas Sicherheit gab.

      Er suchte sich bewusst einen Mann aus, bei dessen schäbiger Kleidung er sich sicher sein konnte, Respekt zu erwarten und den er mit grober Stimme ansprach: „Der Weg zum Rathaus?“

      Die Untertänigkeit, die ihm entgegenschlug, steigerte sein Selbstbewusstsein, das sich aber wieder auflöste, als er vor dem prächtigen Gebäude stand, zu dem ihm der Mann den Weg gewiesen hatte. Erst jetzt nahm er wahr, dass er von Macht und Reichtum ausströmenden Gebäuden umgeben war. Das Rathaus selbst war ein Sinnbild für den Aufstieg Flensburgs als Handelsmetropole. Die Bürger der Stadt, zumindest diejenigen, die hier zu Reichtum und Einfluss gekommen waren, hatten ihre Dankbarkeit dafür in Stein hauen lassen. Das Rathaus war ein mehrstöckiges neugotisches Gebäude aus rotem Backstein mit zahlreichen Türmen und Erkern. Das Dach aus roten Ziegeln ragte steil nach oben, als wolle es wie ein nach oben gereckter Finger zeigen, wohin die Stadt strebte. Die vielfältigen schmalen Fenster waren bunt verglast, ohne dem Haus die Würde zu nehmen.

      Hier, an diesem Ort sollte sich entscheiden, ob Jesper am Galgen hängen würde oder ihn ein Leben in Amt und Würde erwartete. Ohne noch lange zu überlegen und wieder in Zweifel zu verfallen, schritt er energisch die Granitstufen hoch und befahl einem Rathausdiener, ihn zum Bürgermeister zu führen, der bei dem selbstbewussten