er von seinem Meister solche Aufträge bekam. Zwar machte ihm die Arbeit in der Schmiede nichts mehr aus, aber ein solcher Auftrag war eine willkommene Abwechslung zu den unendlich ermüdenden Tätigkeiten, die er immer wieder Stunde um Stunde ausführen musste. Oft stand er den ganzen Tag am Blasebalg, während der Meister mit dem glühenden Eisen die Arbeiten verrichtete, die sich Fritz zu lernen erhofft hatte. Es hatte sich für ihn nie die Frage gestellt, ob die Lehre beim Schmied das Richtige war. Sein Vater war Schmied und hatte, seit Fritz ein kleiner Junge gewesen war, keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass seine Söhne auch dieses Handwerk erlernen sollten. Schon im frühsten Kindesalter hatte er seine Söhne, wie er immer sagte, an das heiße Handwerk gewöhnen wollen. Fritz würde den Moment sein Leben lang nicht vergessen, wie ihn sein Vater aufgefordert hatte, seine Hände an den gusseisernen Ofen in der Küche zu legen. Sein Vater hatte es ihm vorgemacht, aber bei dessen vernarbten, schwieligen Händen hatte der vermutlich keinen Schmerz gespürt. Fritz dagegen musste unwillkürlich heute noch die Hände zusammenballen, bei der Erinnerung, welcher Schmerz von seinen Händen aus durch seinen ganzen Körper gerast war. Sein Vater hatte dabei nur gelacht und behauptet, dass er nun die Hände eines Schmiedes hätte.
Der Meister ließ sich ungern selbst am Hafen blicken, um nach Aufträgen Ausschau zu halten. Auf den Schiffen war nach den langen Reisen immer viel zu tun. Manchmal benötigte der Schiffszimmermann nur eine Handvoll der bis zu einem halben Fuß langen Plankennägeln, manchmal mussten alle Takelhaken und Rüsteisen an Rumpf , Masten und Spieren ersetzt werden, die durch das salzige Wasser vom Rost fast aufgelöst worden waren. Auf jeden Fall war jeder Auftrag willkommen. Bei den Werften wurde es fast wie Diebstahl betrachtet, wenn Arbeiten an Schiffen nicht auch dort versehen wurden. Der Meister hatte deswegen vor Jahren mal eine prächtige Tracht Prügel am Hafen bezogen. Die Werftarbeiter kannten da keine Zurückhaltung.
Fritz dagegen war es recht, losgeschickt zu werden, und er verzichtete darauf, den Meister daran zu erinnern, ihn doch Fritz zu nennen. Wenn ein Schiff aus Übersee ankam, wurde viel Geld in die Stadt gespült und wenn man sich geschickt anstellte, so konnte auch ein junger Geselle den einen oder anderen Schilling dazu verdienen.
Die Matrosen waren nach Monaten härtester Arbeit und Entbehrungen, nach ständigen
Demütigungen und zum Teil auch brutalen Misshandlungen für einige Tage Herr über sich selbst. Und ihre Heuer, die im Vergleich zu den erlittenen Strapazen unsäglich gering war, verschaffte ihnen die Möglichkeit, zumindest für ein paar Stunden einen Teil der oft qualvollen Zeit auf See vergessen zu machen. Das Geld reichte in der Regel nur für zwei, drei Tage, aber die wurden praktisch ohne Unterbrechung in Wirtshäusern und bei Huren verbracht. Die einfachen Männer ließen sich für das Gefühl, auch einmal Herr zu sein, das Geld aus der Tasche ziehen.
Fritz hatte für einfache Botendienste schon mehrfach von der Verschwendungssucht der Seeleute profitiert und auch der eine oder andere Wirt ließ es sich ein Bier kosten, wenn man ihm Kundschaft zuführte.
„Trödel bloß nicht rum“, knurrte der Meister, „und nun sieh zu, dass du loskommst.“
Die Werkstatt lag nicht weit entfernt vom Nordertor in einem der zahlreichen Hinterhöfe und befand sich damit noch innerhalb der Altstadt Flensburgs. Die über hundert Jahre alten Fachwerkhäuser standen so dicht beieinander, dass die Gassen zwischen ihnen selbst für die kleinsten Fuhrwerke zu eng waren. Da die schmalen, zweistöckigen Häuser mit ihren spitzen Dächern fast in das steil ansteigende Gelände hineingebaut worden waren und das Grundwasser aus den Hängen nicht nur bei Regen kaum abfließen konnte, war es hier ständig feucht, und selbst im Hochsommer erreichten die Sonnenstrahlen nicht die kleinen Hinterhöfe, geschweige denn die Gassen. Der Geruch nach Moder gehörte so selbstverständlich hierher, wie der Geruch von Salz zum Meer gehörte. In den letzten Jahren waren viele Flensburger vor der Armut und Enge der Altstadt geflohen und vor die Stadtmauern in die Neustadt gezogen, die unmittelbar hinter dem Nordertor begann.
Für Fritz war es unvorstellbar, aus der Altstadt wegzuziehen, von der es nur einen Katzensprung zum Hafen war. Ihm war seine Stadt so vertraut, dass er sich manchmal eingestand, Flensburg regelrecht zu lieben. Wenn er mit Freunden darüber sprach, guckten sie ihn entweder skeptisch an, als hätte er ein wenig den Verstand verloren, oder sie machten sich über ihn lustig. Für sie war eine Stadt nicht mehr als der Platz, wo man seine Arbeit verrichten musste, wo die Familie war oder wo selten genug Vergnügungen auf einen warteten. Deshalb wurde darüber auch nicht gesprochen, und wenn, dann wurde über die elenden Verhältnisse geflucht und dass man hier nicht verrecken wollte. Für Fritz war Flensburg mehr. Er genoss es, durch die engen, düsteren Gänge hinauszutreten in das offene Licht des Hafens und der Innenförde. Er mochte es, wenn der modrige Gestank der Altstadt überging in einen Geruch aus Salzwasser, vertrocknenden Algen, Teer und Fisch, je näher man an die Hafenmeile kam. Auf ihn wirkte der oft scheppernde und durchdringende Lärm aus den vielen Werkstätten um ihn herum anregend. Und wenn er an den seltenen windstillen Tagen zum Hafen kam und eine der vielen Silbermöwen sah, die auf den unzähligen Dalben saßen und ihren anklagenden Schrei ausstießen, dann überkam ihn häufig eine innere Ruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte, die ihm aber gut tat.
„Ich muss hier weg. Ich halte es hier in diesem Dreck aus Unfreiheit und Gestank nicht mehr aus.“ Mit diesen Worten hatte sich vor drei Jahren sein vier Jahre älterer Bruder verabschiedet. Fritz hatte das nicht verstehen können, verstand es heute noch nicht. Er war entsetzt gewesen, er war fassungslos gewesen. Er hatte den Bruder immer wieder gebeten, nicht wegzugehen, ihn nicht zu verlassen. Er konnte verstehen, dass Christian in einer üblen Verfassung war. Tage zuvor war Christian von einem der Sängerfeste zurückgekehrt. Er war kaum mehr in der Lage gewesen, auf seinen eigenen Beinen zu stehen, sein Gesicht war blutüberströmt gewesen, sein linkes Auge komplett zugeschwollen. Vater hatte ihn immer wieder gewarnt: „Du bist ein Idiot, wenn du dahingehst. Das gibt irgendwann noch einmal richtig Ärger.“ Vater hatte ihm gedroht und für ihn völlig ungewöhnlich sogar gebeten, von dem Besuch abzusehen, aber mit seinen 20 Jahren ließ sich Christian nicht mehr viel von
seinem Vater vorschreiben. Fritz wusste nicht viel über die Sängerfeste. Christian hatte seine
Fragen stets mit den Worten zurückgewiesen, das hätte noch Zeit und er solle darüber nicht so viel reden. Einmal hatte Fritz nachts im Kerzenlicht, als er und sein Bruder im Bett lagen, eine Tätowierung auf der Innenseite seines Oberarmes gesehen, einen zweistämmigen Baum. Als er Christian darauf angesprochen hatte, war er angeraunzt worden: „Du hast nichts gesehen, halt die Klappe.“ Seine Stimme war so eindringlich gewesen, dass Fritz mit niemanden je darüber gesprochen hatte. Zwei Tage später war der Bruder weg, der, der ihn immer in Schutz genommen hatte, ihm zugehört hatte und ihm alles beigebracht hatte, was ihm wirklich von Nutzen war. Es hieß, er sei auf ein Schiff gegangen. Während die Eltern sogar erleichtert schienen, war für Fritz eine Welt untergegangen. Aber obwohl in der Vergangenheit alles, was der große Bruder gemacht hatte, für Fritz der einzig richtige Weg war, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, seine Heimatstadt zu verlassen.
Fritz hatte keineswegs die Absicht, sich zu beeilen, so wie der Meister es verlangt hatte. Als er an der Hafenmeile am Ballastkai ankam, verlangsamte er seinen Gang, und schaute aufmerksam von Steg zu Steg über das Hafenbecken. Er tat das nicht, um das Schiff ausfindig zu machen. Die Brigg war mit ihren gut 30 Metern Länge und stolzen acht Metern Breite eines der größten Schiffe im Hafen und auch wegen der zwei hohen Masten nicht zu übersehen. Er hielt Ausschau nach seinen Freunden, von denen einige auf den unzähligen Arbeitsschiffen arbeiteten, auf offenen Fischerbooten, auf Lastkähnen oder den unterschiedlichsten kleinen Frachtseglern, die sich selten weit auf die Ostsee wagten. Er hatte sich schon oft gefragt, wie es den Bootsführern immer wieder gelang, durch dieses Gewirr an Booten und Brückenanlagen hindurchzumanövrieren.
Fritz hatte mal aufgeschnappt, dass Flensburg nach Kopenhagen den zweitgrößten Hafen in Nordeuropa besaß, und das hatte ihn stolz gemacht.
Bei der Vielzahl an Schiffen kam es immer wieder zu kleinen Havarien und es wurde auf dem Wasser ständig laut gebrüllt, wenn sich die Boote zu nahe kamen.
Die Innenförde war eng, keine tausend Fuß breit, und zum Mühlenbach hin, der in das Hafenbecken mündete, noch viel schmaler. Von allen Seiten des Ufers aus ragten