die man irgendwelche Bretter aus zusammengestürzten Häusern oder abgewrackten Booten gelegt hatte. An solchen Stegen, die selbst bei den wagemutigsten Jugendlichen kein Vertrauen genossen, lagen an beiden Seiten oft vier, fünf Kähne aus schmutzig-grauen, flüchtig übergeteerten Planken, die einen nicht minder trostlosen Eindruck machten. Zwischen diesen hölzernen Bootsstellen lagen Abschnitte matschigen Lehms, manchmal von Schilf oder kleinen Büschen bewachsen, auf die man kleine, rotte Kähne oder Ruderboote gezogen hatte, um sie vorm Sinken zu schützen. In den Booten, die vermutlich nie wieder ins Wasser gelassen werden konnten, lag der ganze Müll, den der Hafenbetrieb verursachte, rostiges Eisen, zersplitterte Bretter oder grünspakiges, zerrissenes Segeltuch. Auf der Seite der Förde, wo Fritz stand, sahen die Brücken solider aus. Sie waren größer und stabiler gebaut, denn da legten die Schiffe aus Westindien an oder die Schiffe aus Schweden und Russland, und da wurde das Geld verdient. Und es wurde hier viel Geld verdient, was die rückseitigen Kontorhäuser, Speicher und Kaufmannshäuser zum Ausdruck brachten. Die waren nicht aus Holz zusammengezimmert, sondern mehrgeschossig aus gelbem und rotem Backstein mit steilen Giebeln gebaut. Wenn sie auch sehr schmal waren, so konnte man so manche Schiffsladung in ihnen verstauen. Durch die vielen Maueröffnungen, über denen Kragbalken zum Hochziehen der Waren angebracht waren, ließen sich vor allem die Tausende von Säcken mit Zuckerrohr einlagern, der zu Rum veredelt nicht wenige Kaufleute reich gemacht hatte.
Fritz hob den Kopf und warf noch einmal einen Blick über das gesamte Hafenbecken. Das
Wirrwarr aus den vielen Dutzend Schiffen, vor Anker oder an Brücken, mit ihren Masten,
ihren Stengen und Spieren, den Rahen, Gaffel- und Briggbäumen war so unüberschaubar, dass eine Zuordnung von Rigg und Schiff kaum möglich war. Früher als kleiner Junge hatte Fritz hier am Hafen immer mal die Augen so weit zugekniffen, dass die Kulisse verschwamm. Dann hatte er sich vorstellen können, am Rande einer der Buchenwälder zu stehen, die Flensburg umgaben. Die Masten entsprachen in seiner Vorstellung den schlanken Buchenstämmen, die im Winter ohne ihr Laub ebenso grau und schlank in den Himmel ragten und die einem bei Gefahr Schutz boten.
„Schade“, flüsterte er in sich hinein, als er keinen seiner Freunde entdecken konnte, „hätte heute gut gepasst.“
„Was stehst du hier so dumm rum“, hörte er eine Stimme keuchen und konnte gerade noch
einem Mann ausweichen, der weit nach vorne gebeugt einen schweren, einachsigen Karren
mit Säcken hinter sich her zog. Fritz ging einen Schritt zur Seite und schob sich durch das Menschengewirr in Richtung seines eigentlichen Zieles, der Überseebrücke mit der Brigg. Hier war noch jede Menge Betrieb und er musste ein ums andere Mal Leuten ausweichen, die ihm entgegenkamen. Je näher er an die Ladepier herankam, desto weniger Menschen störten ihn auf seinem Weg. Zwar standen überall Karren und kleine Fuhrwerke, Kisten und Fässer herum, die darauf hindeuteten, dass hier Schiffe be- und entladen worden waren. Er hatte aber erwartet, dass das Gedränge eher mehr werden würde. Im Gegenteil, es wurde ruhiger um ihn herum, was ungewöhnlich war. Normalerweise versammelten sich nach Ankunft der größeren Schiffe eine Vielzahl an verschiedensten Menschen in der Nähe der Kaianlagen: Huren, die sich vermeintlich im Hintergrund hielten und es doch schafften, die ausgehungerten Seeleute auf sich aufmerksam zu machen. Die zahlreichen Schauerleute, die man auch ohne ihre Lasten an ihrer typischen, nach vorn gekrümmten Körperhaltung und ihrem verwachsenem Körperbau erkennen konnte, die vielen Handwerker, die nach Aufträgen lungerten, und natürlich junge Männer wie Fritz, die auf einen Zuverdienst hofften. Zu ihnen gesellten sich die Matrosen, die in der Erkenntnis, dass ihre Freiheit von kurzer Dauer war, voller Übermut und ohne Rücksicht auf die vielen Leute, ihre Stimmung herausbrüllten. Ja, jeder schien mit seiner Lautstärke auf seine Wichtigkeit hinzuweisen.
Heute war es anders und Fritz spürte förmlich die bedrückte Stimmung.
Das konnte nicht an den Polizisten liegen, die sich demonstrativ an die Mauer eines der Kontorhäuser gelehnt hatten- scheinbar gelassen, doch für jedermann sichtbar und jederzeit bereit einzuschreiten. Schon vor zwei Jahren, lange bevor der dänische König Christian VIII im Januar diesen Jahres gestorben war, hatte die ohnehin schon angespannte Stimmung unter den Deutschen in Flensburg und Südschleswig zu Ausschreitungen geführt. Die Deutschen fühlten sich benachteiligt und ausgegrenzt in einem Land, das ihrer Überzeugung nach ein Teil Deutschlands war, das aber von Dänemark regiert wurde. Die Einführung des Dänischen als Amtssprache war als Provokation empfunden worden und als ein weiterer Schritt betrachtet, Südschleswig dem dänischen Reich vollständig einzuverleiben. Aber das Herzogtum Schleswig gehörte wie das Herzogtum Holstein zum Deutschen Bund. Auch wenn der dänische König Herzog von Schleswig und Holstein war, so verlangten viele Schleswiger nicht nur nach einer eigenen Verfassung, sondern auch nach einer Loslösung von Dänemark. Fritz konnte sich noch gut an die Diskussionen zu Hause erinnern, welche Auswirkungen es für die Deutschen hätte, wenn die Dänen mit ihren Vorstellungen zum Ziel kämen. Schon damals hatte sein Bruder Christian voller Wut und Empörung geschrien: „Wenn das kommt, habe ich meine Heimat verloren.“
Die Forderung der Dänischgesinnten, den Landesteil Schleswig bis zum Fluss Eider dem Dänischen Königreich einzuverleiben, war als Affront verstanden worden, und so war es vor allem in Rendsburg, an der Eider gelegen, zu Aufständen gekommen, die in den ganzen Landesteil abstrahlten. König Christian VIII hatte zumindest noch versprochen, eine Gesamtverfassung sowohl für Dänemark als auch für die Herzogtümer Schleswig und
Holstein einzuführen und damit die Hoffnung genährt, dass die Interessen der Deutschen auch Berücksichtigung fanden. Aber der König war tot, und sein Sohn Friedrich VII hatte schnell seine Absichten offen gelegt, indem er Minister in sein Kabinett aufgenommen hatte, die eindeutig eiderdänisch waren und den Deutschen nicht wohlgesonnen waren.
Obwohl Fritz bekannt war, weswegen in den letzten Jahren die Polizeipräsenz so zugenommen hatte, konnte er sich die Anspannung nicht erklären. In Flensburg an der Grenze zwischen Nord- und Südschleswig hatte es bislang kaum Ausschreitungen gegeben. Die vereinzelten Flugschriften mit den Symbolen der Bewegung - die Doppeleiche und die blau, weiß, rote Trikolore - die hin und wieder an Bäumen oder Wänden auftauchten, waren immer schnell wieder beseitigt worden. Bei den berüchtigten Sänger- oder Turnerfesten, die als Zellen der Aufruhr galten, waren immer Vertreter der staatlichen Organisationen anwesend. So sorgten sie für Zurückhaltung. Fritz Bruder hatte am eigenen Leib erleben müssen, was mit den Leuten geschah, die sich mit ihrer Forderung nach einer eigenen Verfassung hervortaten.
Heimliche Zusammenkünfte waren bei der Enge der Stadt und bei dem großen Anteil dänischgesinnter Bürger kaum möglich. Bei so viel Wachsamkeit war es bisher gelungen, die Aufstände von Flensburg fernzuhalten.
Die Deutschen hatten sich ebenso an diesen Zustand gewöhnt oder darauf eingestellt und versuchten sich nicht von der Polizei beeindrucken zu lassen oder sich in ihrem Handeln einschränken zu lassen.
So hatte auch Fritz gelernt, die Polizisten, so weit es ging, zu ignorieren, und den staatlichen Organisationen aus dem Weg zu gehen. Von den Polizisten, die vom Kompagnietor her eher gelangweilt zu ihm herüberschauten, ging keine Gefahr aus. Aber etwas stimmte hier am Hafen nicht. Das spürte Fritz. So viele Leute ließen sich doch kein Geschäft entgehen.
Die Brigg war in einem erbärmlichen Zustand. Wenn die Schiffe von ihren Atlantikfahrten zurückkamen, die häufig von schweren Stürmen begleitet waren, dann sah man immer auch dem Material die Strapazen an. Aus den kalfaterten Planken quoll an vielen Stellen das Hanf hervor, das zum Abdichten der Bretter diente, Farbe war abgeblättert und auch mal eine Spiere gebrochen. Das war nicht ungewöhnlich. Aber jeder Schiffsführer sorgte dafür, dass das Schiff zumindest einen aufgeräumten Eindruck machte: die Tampen aufgeschossen und über die Belegnägel gelegt, das Deck sauber geschrubbt, die Segel sorgsam aufgegeit. Denn der Zustand des Schiffes gab auch immer Aufschluss darüber, wie mit der Fracht umgegangen worden war. Und ein guter Eindruck des Schiffes schlug sich immer im Verkaufspreis der Waren nieder. Bei dieser Brigg hatte ein solcher Schiffsführer gefehlt oder aber eine Besatzung, die den Befehlen ihres Kapitäns Folge leisten konnte oder wollte. Und beides ließ nichts Gutes erwarten.
An der mit Kopfsteinen gepflasterten Kaianlage standen mit mürrischem Gesicht