Peter Graf

Das Vermächtnis von Holnis


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Schauerleute sein mussten, herrschte eine angespannte Ruhe. Fritz war es sofort klar, dass er keinen Auftrag ergattern würde. Aber was hier vorging, das wollte er sich nicht entgehen lassen. Er hielt sich etwas im Hintergrund, denn zu offenkundige Neugierde konnte schnell zu einer schmerzhaften Ohrfeige führen, aber er dachte nicht daran, dem Auftrag des Meisters Folge zu leisten und gleich zurückzulaufen. Gerade als er sich entschlossen hatte, sich doch auf den Rückweg zu machen, erweckte ein Poltern im Rumpf seine Aufmerksamkeit und einen Moment später sah er, wie eine Kiste von einem Matrosen aus dem Laderaum des Schiffes geschoben wurde. Nicht nur die Form der Kiste, sondern vor allem der widerlich süßliche Geruch, der sich auf dem Vorplatz ausbreitete und sich wie Pelz in Fritz Nase festsetzte, ließ keine Zweifel über deren Inhalt zu. „Armer Teufel“, murmelte Fritz in sich hinein. Er musste unwillkürlich an seinen Bruder denken, von dem er so lange nichts mehr gehört hatte. Aber immerhin hatte der Kerl, der in der Kiste vor sich hinstank, das Glück gehabt, in der Nähe des Hafens gestorben zu sein. So konnte er in geweihter Erde begraben werden und musste seinen Weg in den Himmel nicht so antreten wie viele Seeleute vor ihm: eingenäht in ein Tuch und dem Meer übergeben.

      Den vier Matrosen, die mittlerweile an Deck standen und einen weiteren Sarg aus dem Bauch der Brigg gezogen hatten, konnte man verständlicherweise keine Freude ansehen, endlich in Flensburg angekommen zu sein. Als sie wortlos die Kisten über die Reling wuchteten und auf einen bereitstehenden Karren hievten, wendeten sich die Zöllner nur angewidert ab und machten mit einer feindseligen Gestik deutlich, dass die Männer schleunigst verschwinden sollten. Für Fritz nun ebenfalls ein Zeichen, sich auf den Rückweg zu machen.

      3

      Jesper Olsen ließ sich wie an jedem Abend eines erfolgreichen Tages behäbig in seinem Ledersessel nieder, vor sich ein Glas voller Portwein, nicht billiger Branntwein oder Rumverschnitt, sondern ein Portwein, für dessen Preis ein Handwerker einen Monat schuften musste. Für ihn der allabendliche Beweis, dass er es geschafft hatte. Er hätte sich mittlerweile viel Luxus leisten können, ein Wohlstand, der ihn vielleicht sogar in die Kreise wohlhabender Kaufleute hätte bringen können. Aber er verzichtete auf ein ansehnliches Haus, auf Dienstboten; selbst den Besitz von Pferd und Kutsche untersagte er sich. Hin und wieder leistete er sich eine Hure, für die er als Amtsarzt sicher nichts hätte bezahlen müssen. Aber er belohnte sie immer großzügig, womit er sich deren Schweigen erkaufte, mit niemandem über seine Vorlieben zu sprechen. Und er war froh darüber, dass sicherlich keines der Mädchen auch nur darüber nachdachte, sich ihm ein zweites Mal anzudienen, trotz des stolzen Betrages, den er bezahlte.

      Er war vorsichtig, und Wohlstand musste erklärt sein. Seine Silbertaler und Reichsbanknoten wusste er sicher unter den Dielenbrettern auf dem Schlafboden verwahrt und waren ihm Beweis genug, dass er es zu etwas gebracht hatte. Dieser Tag war erfolgreich gewesen, unerwartet erfolgreich. Die Visitation der Brigg, die vor Holnis vor Anker gelegen und dort auf die Erlaubnis auf Einreise gewartet hatte, hatte ihm einen Geldbeutel eingebracht, der ungewöhnlich schwer war. Er und nur er hatte die Macht darüber zu entscheiden, ob ein Schiff den Hafen anlaufen durfte oder ob das Schiff für Tage oder sogar Wochen unter Quarantäne gestellt wurde und die Schiffseigener dadurch viel Geld verlieren konnten. Und es stand in seiner Macht dafür zu sorgen, dass die Matrosen noch lange in ihrem hölzernen Gefängnis schmoren mussten, den ersehnten Hafen in unmittelbarer Reichweite. Und diese von der langen Reise ausgezerrten Männer konnten in einer solchen Situation für jeden Kapitän zur Gefahr werden. Diese Möglichkeiten sorgten dafür, dass er einen ständigen Zufluss an Reichstalern hatte. Am heutigen Tag hatte es ihm gereicht, nur einen flüchtigen Blick in den Laderaum zu werfen und auf Fragen zu verzichten, um seiner Altersabsicherung ein gutes Stück näher zu kommen. So genoss er das abendliche Ritual, sich immer wieder in Erinnerung zu bringen, wie er dahin gekommen war, wo er jetzt war.

      Sein Leben hatte keineswegs vielversprechend begonnen. Das Leben auf einem kleinen Geesthof nicht weit entfernt von Tondern war von Armut geprägt. Aber nicht den Hunger, dem er und seine vier kleineren Geschwister so oft ausgesetzt waren, hatte er als Leid empfunden. Hunger gehörte zum Leben genauso wie der Sturm im Herbst, und alle hatten doch Hunger. Auch die harte Arbeit, die seinen kleinen Körper oft voller Schmerzen gefüllt hatte, war ein so selbstverständlicher Teil seines Lebens gewesen, dass er als Kind nie darüber nachgedacht hatte. Im Gegenteil: Es gab Pflichten, die ihn weniger erschöpften, und Jesper konnte sich noch an ein Gefühl der Freude erinnern, wenn er den Stall ausmisten durfte und nicht auf dem Feld Steine sammeln musste, die ihm die Arme auszureißen schienen. Was ihn aber auch jetzt noch, so viele Jahre später, erschauern ließ, war der Gedanke, nein, das Bild der Peitschen, das sich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Dass Schläge zum Alltag gehörten, darüber gab es keine Zweifel. Aber sein Vater war von so brutaler Gewalt gewesen, dass Angst wie eine bleierne Decke über dem ganzen Hof gelegen hatte, und auch mit seinen mittlerweile 58 Jahren spürte Jesper immer mal wieder diese Last, die ihn auch heute noch manchmal zu erdrücken schien. Jede Minute, in der der Vater nicht in der Nähe gewesen war, war ihm vorgekommen wie ein Moment, in dem er mühsam durch seine Kehle Luft einatmen konnte. Wenn der Vater in der Nähe war, erfüllte ihn sofort das Gefühl, erstickt zu werden. Der Vater hatte nicht nur eine Peitsche, ein daumendicker Stock mit Rindslederstreifen am Ende. Überall auf dem Hof hingen die Peitschen, jederzeit sichtbar als unmissverständliche Warnung an den Wänden. Und es brauchte keinen Vorwand, dass der Vater sich eine griff und zuschlug, zuschlug, zuschlug. Nicht einmal oder zweimal. Er schlug sich jedes Mal in einen Rausch, der durch Schreie - zum Weinen war man gar nicht mehr in der Lage gewesen - eher bestärkt wurde. Nur wenn genug Blut den Rücken oder Po heruntergeflossen war, wandte sich der Vater ab, nicht ohne vorher noch schlimmste Drohungen ausgestoßen zu haben. Jesper erinnerte sich an seine verzweifelten Gedanken, warum die Mutter ihm und auch seinen Geschwistern nie zu Hilfe gekommen war, sondern eher davongewichen war, unsichtbar blieb. Als er etwas älter geworden war, war er fast jede Nacht davon wach geworden, dass aus der Nebenkammer, dort wo seine Eltern schliefen, wimmernde, unterdrückte Schreie von seiner Mutter zu hören waren, und ein Grunzen und Keuchen seines Vaters, wie das der Schweine, wenn sie sich um das Futter rauften. An den drauffolgenden Morgen war es ihm dann so vorgekommen, als ob die Mutter noch gebeugter ihren Kindern begegnete und noch weniger Worte für ihre Kinder zu haben schien. Und geborstene Lippen und geschwollene Augen ließen erahnen, dass es der Mutter nicht besser erging als ihren Kindern. Mit 14 Jahren wusste Jesper längst, was in der Nebenkammer nachts geschah, und er spürte bei dem Gedanken, was sein Vater unmittelbar hinter der Wand trieb, ein Gefühl, eine tiefe Erregung, die er genoss. Der Gedanke, wie sein Vater seine Mutter aufspießte, wie er sie mit seinem Bajonett aufschlitzte, immer wieder in sie hineinstach, ließ ihn eine Lust verspüren, für die er sich anfangs schämte, die er dann aber Nacht für Nacht herbeisehnte.

       Jesper griff nach seinem Glas Portwein und genehmigte sich einen großen Schluck. Jesper hasste seinen Vater, der schon so viele Jahre tot war, verrottet und begraben im Dreck. Aber

      das, was der Vater mit der Mutter gemacht hatte, bereitete ihm eine ebensolche Lust, wenn er bei den Huren war, und die Gedanken dabei verschafften ihm tiefe Befriedigung.

      Der Vater hatte ihn einmal im Stall dabei erwischt, wie er immer wieder den Versuch unternommen hatte, einen angespitzten Ast in das Hinterteil einer Sau zu stechen und vor Lust dabei gestöhnt hatte. Wie diese gebrüllt hatte und zu fliehen versuchte. Die Prügel, die er dafür bezogen hatte, würde er seinen Lebtag nicht vergessen. Nicht dass er halbtot dafür geschlagen worden war und seine Wunden ihn wochenlang schmerzten, war für ihn so grausam gewesen, sondern dass der Vater ihn doch hätte verstehen müssen. Gerade er musste das doch verstehen. So richtig begriff das Jesper auch heute noch nicht.

      Doch bald sollte sich sein Leben grundlegend ändern. Dänemark hatte an der Seite von Russland im Krieg gegen die Schweden schwere Verluste an Material und Menschen erlitten. Und wie nach jeder Schlacht zogen Werber der Armee von Dorf zu Dorf, um für eine Handvoll Taler junge Männer zu rekrutieren. Sein Vater sah die Chance, nicht nur ein hungriges Maul loszuwerden, sondern auch noch Geld dabei zu verdienen. Für Jesper war der Gedanke wegzumüssen entsetzlich. Das Leben auf dem Hof war die Hölle, aber das war immerhin das Leben, das er kannte.

      Jegliche Form von Widerspruch kannte er jedoch nicht, und selbst wenn: Er wäre nur dem Hunger der Peitsche ausgesetzt