Peter Graf

Das Vermächtnis von Holnis


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ein? Bei seinem Leben schwören! Ihm war plötzlich mulmig zumute und er verstand nicht, was sein Bruder, gerade nach so langer Zeit wieder zurückgekommen, von ihm verlangte. Was würde ihn in seinem Zuhause, an dem Ort, wo er sich Zeit seines Lebens sicher gefühlt hatte, erwarten?

      „Was ist los hier, Christian, was soll diese Heimlichtuerei?“

      „Schwöre es oder bleib draußen!“ `

      Diesmal schwang in Christians Stimme wieder eine Ungeduld mit, die Fritz von früher kannte. Fritz fühlte sich von dieser unvermittelten Forderung überfallen, traute sich aber nicht, seinen Bruder mit weiteren Fragen oder mit Misstrauen zu verärgern. Also versprach er ihm feierlich sein Schweigen.

      Verunsichert betrat er mit zögerlichen Schritten die Wohnküche, dicht gefolgt von seinem Bruder, der die Tür hinter sich sorgsam verschloss. Die Wohnung bestand aus drei Räumen. Unmittelbar hinter der Haustür öffnete sich die Küche, deren kleines Fenster zum Hof hin ging. Der Raum war spärlich möbliert mit einem alten Tisch, um den sechs Stühle herumstanden, denen man ansehen konnte, dass sie schon oft instand gesetzt worden waren. An der Wand stand der Küchenofen, die Feuerhexe, auf dem immer ein Topf für heißes Wasser stand und wo um diese Zeit herum üblicherweise die Mutter beim Zubereiten des Abendessens war. An den Wänden waren allerhand grobe Bretter befestigt, die alle Utensilien aufnahmen, die für die Versorgung einer Familie nötig waren. Hinter dem Eingang direkt neben dem Ofen ging eine schmale, ausgetretene Treppe hoch zum Schlafboden, der nur durch ein winziges Giebelfenster etwas Licht bekam. Eine Tür aus alten Bootsplanken führte von der Küche aus in einen weiteren Raum, die Wohnstube, deren Fenster allerdings zum Hang hinzeigte, sodass es hier stets dunkel war und die Familie hier sich nur bei Kerzenlicht aufhalten konnte. Es gab noch eine vierte Kammer, die sogar größer war als die anderen Räume, die aber fensterlos war. Deren Wände führten in den Hang hinein und hier war es sogar im Sommer feucht und stockdunkel.

      In dieser Höhle wurden nur Dinge aufbewahrt oder Vorräte gelagert, denen die Feuchtigkeit nichts anhaben konnte. Alle Wohnräume waren menschenleer, aber aus dem letzten Raum hörte Fritz gedämpfte Geräusche oder Stimmen.

      Christian sprach noch einmal seinen Bruder an: „Denk an dein Versprechen, Fritz. Ich vertraue auf dich.“

      Fritz folgte mit gemischten Gefühlen, teils Neugierde, teils Furcht, seinem Bruder, der die Kammertür geöffnet hatte und wortlos den Raum betrat. Drinnen erblickte Fritz die Konturen von drei Personen, die bei schwachem Kerzenlicht um den Tisch herum saßen, der aus dem Wohnzimmer hier hereingetragen worden sein musste. Ihr Gespräch war in dem Moment verstummt, als sich die Tür öffnete, und sie blickten mit misstrauischem Blick auf Fritz. Vorne saß ein Mann, den Fritz im Schein der geöffneten Tür am besten erkennen konnte.

      Vor Schreck vergaß er zu grüßen. Der Gildemeister guckte ihn mit ausdrucklosen Augen an.

      Der Gildemeister, der der Zunft der Schmiede vorstand, war noch nie bei ihnen zu Hause gewesen. Fritz hatte ihn zwar schon mehrfach gesehen, wenn der Mann auf Hochzeiten oder Beerdigungen von Handwerkern seiner Zunft eingeladen war. Da war er dieser hoch geachteten Person schon begegnet, ohne je mit ihr gesprochen zu haben. Aber er wusste eines: Der Gildemeister suchte dann die Zunfthandwerker zu Hause auf, wenn ein Mitglied der Familie gestorben war.

      Ruckartig drehte er sich zu seinem Bruder um.

      „Christian, was ist passiert?“, keuchte es aus ihm heraus.

      „Beruhige dich, es ist nicht das, was du denkst.“ Christians Stimme war fest und glaubwürdig.

      „Setz dich auf den freien Stuhl.“

      Als Fritz immer noch beunruhigt an den Tisch herantrat, um den freien Platz einzunehmen, traute er seinen Augen kaum. Er war wie benommen. An seiner Seite saß schweigend ein Mann, der hier überhaupt nicht hergehörte. Wie ein Bauer in einem Thronsaal fehl am Platze war, so unpassend war die Anwesenheit dieses Herrn in einer Hinterkammer eines Handwerkerhauses. Er musste sich irren. Das markante Gesicht dieses Mannes ließ jedoch selbst im Halbdunkel keinen Zweifel zu. Seine Wichtigkeit brauchte nicht durch den feinen Gehrock oder Zylinder unterstrichen zu werden. Die ganze Gestalt strahlte eine Autorität aus, die keiner teuren Ausstattung bedurfte, so dass Fritz wie erstarrt und völlig verschüchtert neben dem Stuhl stehen blieb. Er kannte den Herrn.

      Flensburg war zwar eine bedeutende Stadt, aber nicht groß genug, als dass man die einflussreichsten und mächtigsten Männer nie zu Gesicht bekam. Er hatte ihn schon mehrfach in einer Kutsche oder auf einem seiner prächtigen Pferde vorbeireiten sehen. Als kleiner Junge hatte er staunend und voller Bewunderung hinter ihm hergeschaut, später aber bei den seltenen Gelegenheiten kaum noch Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet, weil solche Männer für ihn aus einer Welt kamen, die so unerreichbar war, dass es nicht lohnte, darüber nachzudenken und seine Gedanken zu verschwenden. Neben ihm saß ohne jeden Zweifel Folke Dethleffsen.

      Dieser Mann verfügte nicht nur über einen unvorstellbaren Reichtum in Form von mehreren Kaufmannshöfen, diversen Speichern und einer Reihe von Großseglern; dieser Mann hatte einen Einfluss in der Stadt - nicht nur als Ratsmitglied - der sich mit dem des dänischen Königs messen konnte.

      Mit einer knappen Handbewegung forderte der Kaufmann Fritz auf sich niederzulassen.

      Fritz war erneut für einen Moment fassungslos, als sein Bruder in dieser Runde als erster das Wort ergriff, um Aufmerksamkeit bat und ankündigte, von seinen Erlebnissen zu berichten:

      Bevor Christian vor drei Jahren Flensburg fast fluchtartig den Rücken zugekehrt hatte, konnte er eigentlich mit seinem Leben zufrieden sein. Er hatte wie sein Vater das Schmiedehandwerk erlernt und sich als außerordentlich talentiert erwiesen. Er wusste nicht nur, dass das Eisen kirschrot glühend sein musste, um es wie eine Weidenrute biegen zu können, sondern er hatte offensichtlich die Gabe und das Gespür, feinste Farbunterschiede des Metalls in der roten Glut wahrzunehmen, damit das Eisen geschmeidig wie Ton war und unter seinen Hammerschlägen jede Form annahm, die er ihr geben wollte. Natürlich war dem Meister sein Talent nicht verborgen geblieben und hatte dessen Ehrgeiz geweckt, seinem Lehrjungen alles beizubringen, was er sich selbst in vielen Jahren Erfahrung angeeignet hatte.

      So erlernte Christian nicht nur das bloße Schmiedehandwerk. Der Meister führte ihn in die Kunst ein, dem flüssigen Eisen Substanzen in Form von Pulvern oder Metallkörnern zuzuführen, deren Namen so ungewöhnlich waren, dass Christian sie kaum aussprechen oder behalten konnte. Aber er erkannte sofort an der Farbe, am Gewicht, sogar am Geruch, welchen Zusatz er vor sich hatte. Und ihm wurde beigebracht, dass diese Zusätze die Eigenschaften des Eisens stark verändern konnten, je nachdem ob man besonders harte oder nachgiebige, federnde oder starre Werkstücke herstellen wollte.

      Für Christian war seine Lehre keine Mühe oder Arbeit. Er genoss es jeden Tag, wie ein Magier dem Metall Rätsel zu entreißen oder nach seinen Rezepten Geheimnisse zuzufügen.

      Kurz nach seiner Freisprechung zum Gesellen geriet er jedoch an eine Gruppe junger Männer, von denen er schon gehört hatte, deren Ideen ihn aber bislang nicht interessiert hatten: den Jungen Deutschen. Das Geheimnisvolle an deren Versammlungen reizte ihn. Als eine von mehreren Gruppierungen, die Südschleswig von Dänemark lösen wollte und eine eigene Verfassung verlangte, waren deren Versammlungen natürlich verboten. Aber die heimlichen Treffen waren kaum zu unterbinden und Christian ließ sich schnell für ihre Ideale begeistern. Ein freies Schleswig, ein freies Holstein als Teil des Bundes Deutscher Länder. Kein dänischer König, keine dänischen Minister und auch keine von diesen eingesetzten Räten sollten über Flensburg oder Südschleswig entscheiden. Es war an der Zeit, dass man dieses alte, starre und obrigkeitshörige System auflöste und das Volk selbst für sich entscheiden ließ.

      Für Christian war es mehr Abenteuer als Überzeugung, wenn sie handbeschriftete Plakate aufhängten, den dänischen Danebrog von Fahnenmasten rissen oder nachts in Amtsstuben eindrangen und diese verwüsteten, wobei er sich dabei schnell Respekt verdiente, weil er mit seinen Kenntnissen auch die schwersten Schlösser überwand.

      Ein Ereignis riss ihn dann aus seiner jugendlichen Abenteuerlust. Bei einem Sängerfest wurde nicht nur er von Polizisten brutal zusammengeschlagen. Einer seiner Brüder, so nannten sich die Jungen Deutschen