ändern, das ist zweifelsohne so“, meinte der katholische Geistliche. „Aber natürlich leben wir im Augenblick in einer Luft, die ein solches Denken absolut nicht befördert. Ganz im Gegenteil: wir leben in einer immer egoistischer werdenden Gesellschaft, die auch noch offiziell gefördert wird, wenn ich nur an das Gerede über Leistungsprinzip und Leistungsgesellschaft gerade von konservativer Seite denke.“
Wer Visionen hat, soll zum Psychiater gehen?
Liegt es wirklich nur am Geld? (Den Städten des Ruhrgebiets fehlt natürlich das Geld für einen tiefgreifenden Strukturwandel. Ansonsten fehlt das Geld aber nicht. Nur scheint sich jeder mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass dieses Geld immer ungerechter verteilt ist, als sei das eine Art Naturgesetz.) Es fehlen vor allem Sozialstrukturen so wie die, die über Jahrzehnte Menschen aus vielen Ländern zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt haben, in der man sich trotz – oder auch gerade wegen - aller Unzulänglichkeiten solidarisch miteinander und wohl gefühlt hat. In einigen Stadtteilen fühlen Menschen sich mittlerweile abgehängt, allein gelassen, verängstigt, es entstehen gefährliche und zum Teil kriminelle Parallelgesellschaften. Das Wort no-go-areas taucht immer häufiger auf. Fakten, die bei vielen Menschen zu „Visionen“ führen, die kein Psychiater heilen kann, die aber rechten Rattenfängern Tür und Tor öffnen.
Bereits im Jahr 2018 maßt eine ZDF-Studie sich an, herausgefunden zu haben, dass es sich von allen deutschen Städten in Gelsenkirchen am schlechtesten leben lasse. Platz 401. Fast alle Ruhrgebietsstädte schneiden übrigens nur wenig besser ab. Der empörte Aufschrei darüber ist letztlich bourgeoises Affentheater, um das man im Ruhrgebiet noch nie viel gegeben hat. Die Schriftstellerin Ilse Kibgis hat in einem ihrer Texte schon vor langer Zeit zum Ausdruck gebracht, was diese Stadt für sie einst lebenswert machte: meine Stadt ist keine Konkurrenz für touristische Sonderangebote, aber sie ist der Kreis, der mich einschließt, die Mauer, die mich schützt.
Daran fehlt es heute.
Der 1997 verstorbene Künstler Alfred hat es auf den Punkt gebracht:„Es ist ein usurpatorischer Akt, die ganze Gesellschaft nach den Bedürfnissen der Wirtschaft auszurichten. Eine derart zugerichtete Gesellschaft kann nur eine zutiefst inhumane sein. Eine Gemeinschaft zur Erfüllung des Lebens kommender Zeitgenossen in ständigem Austausch über ihre Angelegenheiten ist eine derart zugerichtete Gesellschaft jedenfalls nicht. Und damit auch keine demokratische.“
2. Dann kommt es mir immer noch so vor, als wenn ich dort unter lauter Verwandten gewohnt hätte
Ilse Kibgis, 65 Jahre, Schriftstellerin (verstorben 2015)
die Menschen meiner Stadt
sind Kumpel
die am schwarzen Roulette
ihre Knochen verspielten
ihre Sprache ist der
Bergmannsjargon
Worte aus Erde und Stein
meine Stadt ist keine Konkurrenz
für touristische Sonderangebote
aber sie ist der Kreis
der mich einschließt
die Mauer die mich schützt
das Leben dessen Pulsschlag
mich durchströmt
(aus: Ilse Kibgis: Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen)
Ich stamme selber aus einer Bergmannsfamilie. Mein Vater ist damals, das heißt Anfang der 20er Jahre, aus Posen zugewandert. Alle seine Geschwister sind übrigens in den damals so genannten „Goldenen Westen“ gekommen, da hat einer den anderen nachgezogen. Denen ist ja auch alles mögliche versprochen worden: Geld, eine Wohnung, womöglich ein halbes Häuschen in einer Bergarbeitersiedlung. Die meisten dieser Versprechungen wurden auch gehalten, vor allem der Arbeitsplatz auf der Zeche. Ende der 20er Jahre kam dann allerdings ein wirtschaftlicher Wandel, und die meisten der Bergleute wurden arbeitslos. Mein Vater war sieben Jahre lang arbeitslos; erst in der Nazi-Zeit hat er wieder eine Arbeitsstelle gefunden. Aber zu welchem Preis! Denn es war doch bei den Nazis alles von Beginn an nur auf Aufrüstung angelegt. Ich glaube, viele Menschen ahnten aber damals nicht einmal, wo das noch hinführte, und als sie es bemerkten, da war es auch schon zu spät.
Die sieben Jahre, die mein Vater arbeitslos war, waren natürlich zunächst einmal eine sehr schlimme Zeit, da wir total verarmten. Mein Mutter ist zu der Zeit für zehn Mark im Monat putzen gegangen, was selbst für damalige Verhältnisse doch sehr wenig Geld war; mein Vater hatte zudem keinerlei Perspektiven, irgendwo anders eine Arbeitsstelle zu finden. Und doch muss ich mich immer wieder wundern, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke: heute wird viel zuviel über Geld geredet, über Verdienstmöglichkeiten, über Konsumwünsche, die die Menschen haben. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass meine Eltern in der schlimmen Zeit jemals über Geld geredet hätten. Wahrscheinlich hatten sie so wenig davon, dass es sich gar nicht lohnte, darüber zu reden.
Trotz unserer Armut hatte ich damals aber nie das Gefühl von Armut. Wir wohnten übrigens in einer Bergarbeitersiedlung in Horst-Süd, und ich muss hinzufügen, dass zu der Zeit alle Bergleute arm waren. Man kann es auch so sagen: Alle Menschen dort hatten gleich wenig Geld zur Verfügung. Man hatte also schon deshalb nie das Gefühl der Armut, weil niemand in der Siedlung mehr besaß. Und für das Lebensnotwendigste reichte es immer. Jeder hatte schließlich einen kleinen Garten hinter dem Haus, ein Schwein, manche hatten eine Ziege, Hühner, und auf diese Weise hat man sich irgendwie über Wasser halten können. Nur gab es eben keine finanziellen Mittel, sich darüber hinaus noch etwas anzuschaffen.
Die Siedlung war ohnehin eine Welt für sich, aus der man auch nur selten herauskam. Es hatte doch damals noch kein Mensch ein Auto. Wir haben zwar oft Ausflüge gemacht mit den Hausbewohnern, mit den Nachbarn; aber natürlich ging es immer zu Fuß, und man blieb unter sich. Die kleinen Kinder wurden in eine Karre gesetzt, und dann zogen wir los, bis nach Essen, nach Gelsenkirchen, nach Buer, irgendwohin, wo es halt schöner und grüner war. Damals spielte das gemeinsame Leben überhaupt noch eine große Rolle. Ob es nun eine Geburt war, eine Beerdigung oder eines jener Schützenfeste, bei denen die Kinder morgens und die Erwachsenen abends feierten: die Menschen machten viel mehr gemeinsam als heute. Unsere Kinderschützenfeste wurden zum Beispiel immer schon Wochen vorher vorbereitet: Kostüme wurden geschneidert, Pfeil und Bogen besorgt, König, Königin und Prinzessin wurden bestimmt.
- Sie sprachen gerade davon, dass die Bergarbeitersiedlung eine Welt für sich war. Wie war damals eigentlich das Ansehen der Bergleute?
Es war in der Tat so, dass die gesamte Arbeiterschaft und somit auch die Bergleute im Horster Süden wohnte, während zum Beispiel Kaufleute oder Akademiker fast alle im Horster Norden wohnten. Auf solche Unterschiede wurde damals also ganz offensichtlich schon Wert gelegt. Es war doch zum Beispiel auch so, dass schon die Steiger eine eigene Straße für sich hatten, eine Straße mit schönen Häuser, die man schon fast als Villen bezeichnen kann. Die Bergleute gehörten eigentlich zu den kleinsten Leuten in der gesamten Hierarchie. Die Menschen in unserer Siedlung kamen zudem fast durchweg aus dem Osten, waren also entweder selber Zugezogene, oder sie lebten hier in der zweiten Generation, und man erkannte sie zumeist schon an ihrer Sprache; denn in aller Regel sprachen sie ein sehr schlechtes Deutsch. Dieses typische Ruhrgebietskauderwelsch eben. Und auch wenn ich heute in alten Bergmannsliedern oder -gedichten lese, dass die Bergleute doch immer einen besonderen Stolz auf ihren Berufsstand empfunden hätten, dann kann ich das aus meiner eigenen Erfahrung jedenfalls nicht nachvollziehen.
Ich erinnere mich vor allem an den Kampf um das tägliche Brot. Und daran, dass die Arbeit unter Tage wohl sehr hart war. Mein Vater war nicht der große, starke Arbeiter, den man vielleicht vor Augen hat, wenn man an den typischen Bergarbeiter denkt. Mein Vater war eher schmächtig und sehr interessiert an Literatur und Musik, ein Mensch also, der nicht gerade dem üblichen Klischee des Arbeiters entspricht. Besonders schlimm war der Wechsel der Schichten; denn dadurch war natürlich die gesamte Familie in Mitleidenschaft gezogen. Wenn mein Vater von der Schicht nach Hause kam, dann musste er sich zunächst einmal zwei oder drei Stunden hinlegen und