Thomas Hölscher

Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg


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Leben in der Siedlung eigentlich während der Nazi-Zeit? Ging da die Solidarität unter den Bergleuten nicht verloren?

      Das ist wirklich ein ganz interessantes Thema. Wir hatten damals als einer der ersten Haushalte in Horst-Süd ein Radio, das hatte mein Vater noch selbst zusammengebastelt. Bei zwei Ereignissen kam dann jeweils die ganze Nachbarschaft zu uns: wenn ein Fußballspiel übertragen wurde, und wenn Hitler redete. Und da waren die Reaktionen doch sehr verschieden. Mein Vater war von Anfang an gegen den Nationalsozialismus; aber dadurch hatte er schon in der engsten Verwandtschaft andauernd Streit. Ein Onkel kam z.B. plötzlich mit SA-Uniform an, und auch der Nachbar marschierte eines Tages stolz mit Stiefeln und SA-Uniform über die Straße. Der Riss ging wirklich quer durch die gesamte Bergarbeiterschaft. Die einen waren Sozialdemokraten - Kommunisten gab es eigentlich nur wenige -, die anderen waren Sympathisanten des Nationalsozialismus. Aber wie bereits gesagt, diese Trennung verlief sogar durch einzelne Familien. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass meine Tante einmal an einer Informationsveranstaltung der Nazis teilgenommen hat, und von dem Zeitpunkt an war sie total begeistert von diesen Ideen. Wenn sie dann zu uns kam, hat sie oft von Hitler und dessen Ideen geschwärmt, und mein Vater hat ihr natürlich immer Kontra gegeben. Die schlimmsten Familienstreitereien waren dadurch eigentlich vorprogrammiert. Und doch kann man auch im nachhinein nicht so einfach trennen in gut und böse. Meine Tante z.B. besaß einen kleinen Lebensmittelladen, in dem ich auch während meines Pflichtjahres gearbeitet habe. Während des Krieges kamen nun oft polnische Zwangsarbeiter vorbei. Meist schauten die erst ängstlich in den Laden hinein, und wenn keine Kundschaft da war, dann kamen sie herein und bettelten um Brot. Und da hat meine Tante, die doch so überzeugt war von den Nazis, immer zu mir gesagt: Gib du den Leuten Brot, du bist erst 15, dir können sie noch nichts, wenn sie dich erwischen. Sie selber hat sich dann aus Angst immer verdrückt, weil sie natürlich streng bestraft worden wäre. Einerseits war sie also sehr wohl für die Ideen des Nationalsozialismus; aber andererseits ist sie doch auch immer menschlich geblieben. Ich glaube, die wirkliche Gefahr des Nationalsozialismus hat sie überhaupt nicht erkannt. Aber das kam ja leider bei allen erst viel später.

      Diese politische Spaltung hat aber - jedenfalls so weit ich das beurteilen kann - nie zu Denunziationen oder ähnlichen Gemeinheiten unter den Leuten geführt. Es war doch einfach so, dass sich die Leute in der Siedlung von Kindheit an kannten und somit sehr stark miteinander verbunden waren. Ich habe nie gehört, dass da einer den anderen etwa bei der Polizei angeschwärzt hätte. Trotz sehr unterschiedlicher politischer Meinungen hat man sich auch weiterhin akzeptiert. Das lief eher so ab: die einen haben gesagt, ihr Nazis seid alle verrückt, ihr habt doch gar keine Ahnung, und dann haben die anderen ihre Argumente vorgebracht: Guck doch mal, was der Hitler schon alles für die Arbeiter getan hat, und wenn dieser Krieg erst einmal vorbei ist, dann geht es uns allen viel besser. So ungefähr muss man sich das vorstellen. Aber dass da die Kameraden, die tagsüber zusammen gearbeitet haben, sich gegenseitig denunziert hätten, das habe ich jedenfalls nie erlebt. In anderen Kreisen ist so etwas sicherlich vorgekommen; unter den Bergleuten nicht.

      Es war allerdings auch so, dass man zunächst einmal ja auch gar nicht erfuhr, was wirklich los war. Wir Kinder ohnehin nicht. Wir hatten doch kaum etwas anzuziehen, und plötzlich bekamen wir alle eine tolle Uniform verpasst. Natürlich waren wir schon deshalb begeistert. Und von all dem, was wirklich dahintersteckte, hatten wir gar keine Ahnung. Das wurde einem erst im nachhinein klar, aber da war es bereits viel zu spät, und man konnte es selber kaum glauben. Mein Vater hat allerdings im Laufe der Zeit die ganze Sache doch immer mehr durchschaut. Und dann ist es wohl schon so gewesen, dass er vorsichtiger wurde und auch schon mal den Mund hielt; denn trotz allem war es natürlich jedem klar, was zumindest passieren konnte, wenn man sich mit seinen Bemerkungen zu weit aus dem Fenster lehnte.

      - Dieses Ruhrgebiets-Milieu, über das wir schon die ganze Zeit sprechen und das sie z.B. in dem Gedicht „Meine Stadt“ beschreiben, gibt es das eigentlich noch? Oder ist das nicht schon zum verklärten Klischee geworden?

      Dieser Text ist mittlerweile rund 17 Jahre alt, und natürlich hat sich in der Zwischenzeit einiges verändert im Ruhrgebiet. Gelsenkirchen ist z.B. viel grüner geworden, im Text wird die Stadt doch sehr grau geschildert. Wenn ich dieses Gedicht heutzutage z.B. in Schulen vorlese, dann sagen die Kinder immer: Das stimmt doch gar nicht! Unsere Stadt ist in Wirklichkeit viel schöner! Manchmal werden sie sogar richtig böse und sagen: Schreiben Sie doch auch mal ein Gedicht, in dem all das Schöne unserer Stadt vorkommt! Das habe ich natürlich auch getan, es gibt schließlich auch Texte von mir, in denen ich Gelsenkirchen oder das ganze Ruhrgebiet viel positiver dargestellt habe. Ich denke da z.B. an das Gedicht „Heimatbeschreibung“. Mit diesem Text sind übrigens auch die Kinder immer einverstanden, wenn ich in Schulen lese. Das gefällt uns schon besser, sagen die dann, da erkennt man unsere Stadt schon eher.

      - Das Gedicht „Meine Stadt“ beschreibt Gelsenkirchen auf eine Art und Weise, dass auch ich z.B. sagen kann: Ja, das ist meine Stadt. Auf der anderen Seite sehe ich aber, dass vieles von dem, was sie beschreiben, verloren geht bzw. schon verlorengegangen ist. Und diese Veränderungen sehe ich keineswegs nur positiv. In dem Text sagen Sie selber doch auch, dass eben dieses Bild der Stadt das Leben sei, dessen Pulsschlag Sie durchströmt.

      Sicherlich ist da schon eine ganze Menge verlorengegangen, und es hat sich eben nicht alles zum Positiven gewandt. Ein ganz bestimmtes Lebensgefühl ist z.B. verlorengegangen, das sich nur schwer beschreiben lässt. Die Menschen sind viel einsamer geworden, man schließt heute die Tür zu und sieht oft selbst den nächsten Nachbarn wochenlang nicht. Die Menschen sind heute beruflich viel mehr eingespannt, und zwar Männer und Frauen, sogar schon die Kinder in der Schule. Trotz kürzerer Arbeitszeit - früher haben die Männer viel länger arbeiten müssen - haben die Menschen heute keine Zeit mehr. Für sich selber nicht, und für andere noch weniger. Die Menschen teilen heute ihr Leben nicht mehr miteinander, die Freuden nicht und die Leiden schon gar nicht. Um es einmal so auszudrücken: wenn ich heute von einem anderen Menschen etwas will, dann muss ich dafür bezahlen. Heutzutage regiert das Geld.

      Ich frage mich selber oft, woher diese Entwicklung eigentlich kommt. Zum einen kann man es sicher dadurch erklären, dass die Menschen nicht mehr so dicht beieinander und schon dadurch auch nicht mehr miteinander wohnen. Man stellt eben heute nicht mehr den Stuhl abends vor das Haus, setzt sich dort hin, strickt oder liest, der nächste kommt dazu, erzählt etwas, der dritte kommt, und schließlich hat man einen ganzen Kreis von Menschen, die sich noch etwas zu erzählen haben und gemeinsam etwas unternehmen. So war es früher. Heute würde mich doch jeder dumm angucken, wenn ich mich hier mit dem Stuhl vors Haus setzte, mal abgesehen davon, dass es ja auch gar nicht möglich ist wegen des Verkehrs auf der Straße.

      Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Fernsehen. Man muss doch heute schon fast Angst haben, jemanden abends anzurufen, weil man ihn nämlich höchstwahrscheinlich beim Fernsehen stört. Eine Bekannte rief mich neulich an und fragte als erstes: Sitzt du gerade vor dem Fernseher? Dann lege ich wieder auf. Mittlerweile muss man erst einmal klarstellen, dass einem der andere Mensch wichtiger ist als jedes Fernsehprogramm. Die Massenmedien isolieren die Menschen immer mehr. Heutzutage kann man sich zwar jedes Fußballspiel im Fernsehen anschauen, aber früher hat man auf der Straße selber Fußball gespielt. Und dort, auf der Straße, haben die großen Ruhrgebietsvereine wie Schalke die Talente entdeckt. Das war doch sogar noch bei Olaf Thon so. Dessen Großeltern haben übrigens auch nebenan in unserer Siedlung gewohnt, und der Olaf ist wirklich noch als Straßenfußballer entdeckt worden. Und ob man das nun wahrhaben will oder nicht: auch bei einem ursprünglichen Arbeiterverein wie Schalke 04 geht es heute ausschließlich ums Geld, um diese scheußliche Form von Menschenhandel.

      - Sie haben eine ganze Reihe von Texten zum Thema Bergbau geschrieben, und in jedem dieser Texte spürt man, dass sie eine starke emotionale Bindung zu diesem Milieu haben. Können Sie sich das Ruhrgebiet eigentlich gänzlich ohne Bergbau vorstellen?

      Muss man sich denn da noch viel vorstellen? Der Bergbau ist doch schon weitgehend aus dieser Region verschwunden. Ich bin zwar nicht mehr unmittelbar davon betroffen, da niemand aus meiner Familie im Bergbau arbeitet; aber es macht mich eben doch betroffen, wenn ich aus meinem Fenster auf den Förderturm der Zeche „Nordstern“ sehe und weiß, das dieses Gelände, auf dem früher jedes Jahr hunderte von jungen Leuten ausgebildet wurden, nun völlig tot da liegt. Die Identifikation