Anna-Irene Spindler

Die Frau vom Schwarzen See


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Elbe und Moldau seine Fahrt erst begann, hatte der Schiffseigner noch keine Mannschaft angeheuert. Er brauchte somit nur einen erfahrenen Maschinisten, der das Befeuern überwachte. Die anderen Arbeiten würden seine Passagiere übernehmen. Der Eigner war mit dieser Vereinbarung sehr zufrieden, denn die aufkommende Kettenschifffahrt auf der Elbe machte den kleinen Frachtkähnen immer mehr zu schaffen. Sie bekamen kaum noch Ladung und mussten deshalb sehr billig transportieren. Die Einsparungen bei der Mannschaft kamen ihm daher sehr gelegen. Hedwig war fest davon überzeugt, dass sie sogar noch eine Entlohnung für die kleine Auswanderertruppe heraus gehandelt hätte, wäre ihr nur genügend Zeit geblieben.

      Auf dem Weg flussabwärts konnten die Männer im Maschinenraum des Frachtkahns wertvolle Erfahrungen sammeln. Als sie schließlich in Hamburg den Kahn verließen, bescheinigte ihnen der Schiffseigner, dass ganz ordentliche Heizer und Kohlentrimmer aus ihnen geworden waren. Die drei Frauen hätte er am liebsten ganz behalten. Besonders Marieles Kartoffelsuppe und Agnes‘ böhmische Knödel hatten es ihm angetan. Hedwig, die für die Wäsche verantwortlich gewesen war, versicherte er immer wieder, dass seine Hemden noch nie so sauber und so weich gewesen wären. Mit der Hoffnung, für die Überfahrt nach Amerika nun bestens gerüstet zu sein, verabschiedete sich die kleine Truppe schweren Herzens von dem wackeren Binnenschiffer. Er wünschte ihnen viel Glück für ihr großes Abenteuer. Dann machte er sich auf die Suche nach einer neuen Fracht Elbe aufwärts zurück nach Mĕlnik.

      Ursprünglich hatten sie vorgehabt, getrennt voneinander nach einem Schiff nach Amerika zu suchen. Aber angesichts des unglaublichen Gewirrs an Anlegestellen, Kais, Trockendocks und Lagerhäusern hatten sie Angst, niemals wieder zusammen zu finden, wenn sie sich einmal aus den Augen verloren hatten. Also zogen sie gemeinsam los. Etliche Male endete ihre Suche in Sackgassen vor riesigen Backsteinlagerhäusern oder an Brackwasserkanälen, die nach fauligem Fisch stanken. Immer wieder mussten sie nach dem Weg fragen, ehe sie schließlich zu den Landungsbrücken gelangten, an denen die großen Segelschiffe und Ozeandampfer lagen. Riesige Schiffsleiber, überragt von einem unübersehbaren Wald an Masten und gewaltigen Schornsteinen bauten sich vor den Augen der kleinen Schar auf.

      „Oh mein Gott!“, entfuhr es Agnes, als sie der unzähligen Schiffe ansichtig wurde. Ein unablässiges Kommen und Gehen herrschte an den Kais. Schauerleute, Matrosen, Passagiere, Händler – alle drängelten um das staunende Auswanderergrüppchen herum, schoben sie unter ärgerlichem Fluchen bald hier hin, bald dort hin.

      Angesichts der großen Schiffe und des unfassbaren Durcheinanders, das an den Landungsbrücken herrschte, presste Hedwig fassungslos ihr kleines Bündel fest an die Brust. Irgendwie hatte sie erwartet, dass das Schiff, das sie nach Amerika bringen sollte, die Größe des Frachtkahns auf der Elbe hätte. Als sie jetzt die gigantischen Schiffsleiber aus Holz und Eisen sah, die an den Kaimauern auf und ab schaukelten und immer wieder mit hässlich kratzenden Geräuschen an den dicken hölzernen Planken entlang geschoben wurden, griff die Angst mit eiskalter Hand nach ihr. Wenn die Schiffe hier im Hafen schon so schrecklich schaukelten, wie würde es dann erst draußen auf dem weiten Ozean sein?

      „Siehst du wie die schaukeln?“, flüsterte sie Agnes leise zu.

      Agnes nickte. „Natürlich schaukeln sie. Was hast du denn gedacht? Dass der Ozean so still da liegt wie der Schwarze See?“

      Auch sie war aufgeregt. Aber nicht weil sie eingeschüchtert war oder Angst hatte. Nein! Sie war aufgeregt, weil endlich ihr lang gehegter Traum zum Greifen nahe war.

      „Ich weiß nicht was ich gedacht hab‘. Aber das hier bestimmt nicht“, stammelte Hedwig. Beim Anblick der schaukelnden Schiffe war ihr der Schreck derartig in die Glieder gefahren, dass die Lust auf ein neues Leben jenseits des großen Ozeans dahin schmolz wie Schnee in der Frühjahrssonne.

      Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht.“

      „Was kannst du nicht?“, fragte Mariele, die bisher nicht auf Hedwig geachtet hatte und sich nun verwundert zu ihr umwandte.

      „Ich kann nicht in ein Schiff steigen.“

      „Unsinn! Du kommst doch gerade von einem Schiff“, sagte Mariele verständnislos.

      „Das ist nicht dasselbe“, gab Hedwig zu Bedenken. „Das war nur ein kleiner Kahn. Und außerdem fuhr er auf einem Fluss. Der hatte keine Wellen. Und wenn der Kahn untergegangen wäre, hätte ich ans Ufer schwimmen können.“

      „Hat man je so einen Unfug gehört! Du kannst überhaupt nicht schwimmen. Außerdem wärst du in dem eisigen Wasser der Elbe erfroren, bevor du bis zum Ufer hättest plantschen können.“ Mariele rollte mit den Augen.

      Sie hatte für Feiglinge nichts übrig und Dummheit war ihr verhasst.

      „Sei doch nicht dumm! Hast du schon vergessen, wie das Leben zuhause war? Mühsal und Plage von früh bis spät. Ohne jede Aussicht, dass jemals eine Änderung eintritt. In Amerika wird Alles anders sein“, redete Mariele auf die verängstigte Hedwig ein. Aber diese schüttelte wieder energisch den Kopf.

      „Nein! Nicht für alles Geld der Welt werde ich in eines dieser Schiffe steigen. Da will ich lieber bis ans Ende meiner Tage als Kleinmagd schuften. Ich geh‘ wieder zurück in den Böhmerwald.“

      Mariele zuckte mit den Schultern. „Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Aber du wirst es bis zum Ende deines Lebens bereuen.“

      Sie küsste Hedwig auf beiden Wangen. Dann drehte sie sich um und beobachtete weiter das bunte Treiben. Für sie war der Fall erledigt.

      Agnes hakte sich bei Hedwig ein und zog sie ein paar Schritte beiseite.

      „Willst du wirklich nicht mit uns mitkommen?“, fragte sie.

      „Nein“, sagte Hedwig. „Die große weite Welt ist nichts für mich.“

      „Und wie willst du wieder zurück kommen?“

      Hedwig zuckte mit den Schultern. „Ich weiß noch nicht. Ich werde schon einen Weg finden.“

      Agnes betrachtete die junge Frau neben sich. Ehe sie zu ihrer gemeinsamen Reise aufgebrochen waren, hatten sie sich nur flüchtig gekannt. Während der vergangenen Tage hatte sich jedoch eine stille Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Anders als Mariele war Hedwig still und zurückhaltend. Sie hatte nicht viel geredet. Aber durch ihre stete, freundliche Hilfsbereitschaft war sie Agnes sehr ans Herz gewachsen. Es tat ihr leid, dass Hedwig nun ganz alleine zurückbleiben würde.

      „Vielleicht nimmt dich der Frachtschiffer wieder mit zurück nach Mĕlnik.“

      „Natürlich! Das ist eine gute Idee. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.“ Ein schelmisches Grinsen huschte über Hedwigs Gesicht.

      „Er war doch so angetan von den weichen Hemden. Vielleicht stellt er mich ja als Wäscherin an. Ich mache mich besser gleich auf den Weg, bevor er seine Ladung beisammen hat und Elbe aufwärts davon dampft.“

      „Findest du allein zurück zu der Anlegestelle der Binnenkähne, oder soll ich mitkommen?“

      „Danke, Agnes! Das ist lieb von dir. Aber ich finde den Weg schon. Und wenn nicht, kann ich ja fragen. Anders als in Amerika verstehen mich hier die Leute.“ Herzlich umarmte sie Agnes. „Pass gut auf dich auf, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten!“

      „Und du gib acht, dass du beim Wäsche aufhängen nicht in die Elbe plumpst!“

      Ihr Bündel fest an sich gepresst, drehte sich Hedwig um. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und winkte Agnes zum Abschied noch einmal zu. Dann verschwand sie im Getümmel.

      April 1870

      Ganz allmählich konnten die beiden Frauen die Grenze zwischen Wasseroberfläche und Himmel erkennen. Das heller werdende Schwarz des Firmaments zeichnete sich immer deutlicher vom schwarz-grünen Wasser des Atlantiks ab. Seit nunmehr sechzehn Tagen standen sie jeden Morgen vor Sonnenaufgang am Bug des Dampfers und starrten in die Dunkelheit. Seit sechzehn Tagen warteten sie darauf, dass am Horizont die Umrisse der Stadt New York auftauchen würden. Der Kapitän der Atlantica