Anna-Irene Spindler

Die Frau vom Schwarzen See


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den klaren Befehlen des Kapitäns war das Anlegen ein Kinderspiel. Alle Hilfsmatrosen aus dem Böhmerwald legten mit Hand an. Als sie die Atlantica fest vertäut hatten, verließ der Kapitän das Schiff um das Hafenbüro aufzusuchen und seine Fracht anzumelden. Die Auswanderer würden noch beim Löschen der kostbaren Ladung behilflich sein. Sollten sie es tatsächlich schaffen, die Kisten unbeschädigt in das angegebene Lagerhaus zu bringen, würde es noch eine kleine Prämie geben.

      Auch das erledigten sie zur Zufriedenheit des Kapitäns. Als sie sich von ihm verabschiedeten, drückte er jedem von ihnen ein paar Scheine der unbekannten, neuen Währung in die Hand und erklärte ihnen den Weg zum Castle Clinton, der Anlaufstelle für alle Einwanderungswillige. Dort mussten sich alle Neuankömmlinge registrieren. Nur mit einer Registrierungsbescheinigung würde es ihnen möglich sein, eine legale Arbeit auszuüben. Ein kurzes Winken zum Abschied. Dann machten sich die acht Böhmerwäldler auf, den unbekannten Kontinent für sich zu erobern.

      20. Januar 1871

      Das wollene Kopftuch tief ins Gesicht gezogen eilte Agnes die vereiste Mulberry Street entlang. Ein schneidend kalter Wind pfiff durch die Häuserschluchten. Die Hand, die das Tuch unter dem Kinn zusammenhielt, war rot vor Kälte. Aber so spürte sie wenigstens nicht mehr die brennenden Schmerzen. Vom stundenlangen Schrubben in der scharfen Waschlauge, war die Haut ihrer Finger aufgesprungen und rissig. Die Fingerknöchel waren seit Monaten so wund, dass sie überhaupt nicht mehr heilten. Der Rücken schmerzte unerträglich. Täglich stand sie zwölf Stunden über Tröge mit fast kochend heißer, beißender Lauge gebeugt und rubbelte Hemden und Laken aus grobem Leinen und Arbeitshosen aus derber Baumwolle auf metallenen Waschbrettern sauber.

      Jetzt war sie auf dem Weg von der Wäscherei in Chinatown nach Little Italy. Im größten Bordell des italienischen Viertels arbeitete sie zusätzlich noch von sieben Uhr abends bis nach Mitternacht als Kellnerin. So sah Agnes‘ Alltag aus, seit sie vor über neun Monaten in New York angekommen war.

      Nichts, wirklich gar nichts, war so geworden, wie sie und Mariele es sich erträumt hatten. Schmerzlich hatten sie erfahren müssen, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten arme Leute genauso ausgebeutet wurden wie in der alten Heimat jenseits des großen Ozeans. Der Arbeitsmarkt wurde von einigen wenigen mächtigen Banden beherrscht. Iren, Italiener und Chinesen hatten Manhattan unter sich aufgeteilt. Grundsätzlich bedeutete die Registrierung durch die Einwanderungsbehörde, dass man die Erlaubnis hatte in den Vereinigten Staaten zu leben und zu arbeiten. Aber nur auf dem Papier. Nahezu alle Arbeitsplätze, die in New York zur Verfügung standen, wurden über kriminelle Gangs vergeben. Die irischen Whyos und die italienische Five Points Gang hielten die arbeitsuchenden Einwanderer in ihren unbarmherzigen Klauen. An jede noch so unbedeutende Aushilfsarbeit kam man nur über eine der beiden Banden. Sie bestimmten wer bei wem arbeiten durfte und wie hoch der Lohn war.

      Für die Arbeit in der Wäscherei bekam Agnes vom chinesischen Besitzer einen Dollar am Tag. Gab sie nicht acht und beschädigte ein Wäschestück, musste sie es umgehend flicken. Zusätzlich wurde noch der Lohn für drei Tage gestrichen. Die Chinesen kannten keinen Sonntag. Bei ihnen wurde sieben Tage in der Woche gearbeitet. Morgens um sechs Uhr ertönte ein Gong. Wer dann nicht an seinem Platz stand, wurde umgehend ersetzt. Die Schlange der Arbeitssuchenden, die draußen vor der Tür warteten, wurde nie kürzer. Freie Tage gab es nicht. Wenn alles gut lief, und Agnes kein Kleidungsstück zerriss, konnte sie so dreißig Dollar pro Monat verdienen. Die schäbige, wanzenverseuchte Kammer, die sie sich mit Mariele teilte, lag im Zentrum der Five Points. Sie kostete vierzig Dollar im Monat. Für jede von ihnen zwanzig. Einen Dollar extra in der Woche wollte die Hauswirtin noch von jeder Bewohnerin als Schutzgeld haben, um aufdringliche Männer fern zu halten. Dafür gab es aber auch jeden zweiten Tag einen Eimer sauberes Wasser. Selbstverständlich nicht für Beide, sondern nur pro Zimmer. Zum Leben blieben Agnes also bestenfalls sechs Dollar im Monat.

      Mariele hatte im italienischen Viertel eine Putzstelle in einem Hotel ergattert. Bereits am ersten Abend wurde ihr klar, dass es sich beim Hotel Rosaria um ein Bordell handelte. Vier Wochen putzte Mariele Fenster, wischte Böden, lehrte Spucknäpfe und Nachttöpfe aus. Dann wurde eine der Bardamen im Verlauf einer wilden Schlägerei von einer Flasche getroffen. Eine fünfzehn Zentimeter lange wulstige Narbe verunzierte von nun an ihr Gesicht. Sie taugt nicht mehr dafür, hinter der Bar zu stehen und Gäste zum Trinken zu animieren. Also tauschte sie die Bordellmutter kurzerhand gegen Mariele aus. Von da an stand Mariele hinter der Bar im Salon im Erdgeschoss des Freudenhauses. Anstatt um sechs Uhr morgens begann ihr Arbeitstag um sechs Uhr abends. In der Regel kam sie am Morgen erst nach Hause, wenn Agnes schon wieder in der Wäscherei war.

      Sie war es auch, die Agnes die Stelle als Kellnerin verschafft hatte. Eines der Serviermädchen hatte einem zudringlichen Gast eine Ohrfeige verpasst und war umgehend von der Puffmutter hinaus geworfen worden. Die Hintertür hatte sich noch nicht richtig hinter der unglücklichen Frau geschlossen, da stand Mariele schon parat und sagte, sie hätte eine bestens geeignete Ersatzkraft bei der Hand. Als Agnes am nächsten Abend bei der Bordellwirtin vorsprach, wurde sie vom Fleck weg als Kellnerin eingestellt. Fortan servierte sie jeden Abend ab sieben Uhr Getränke an den Tischen im Salon und ebenso in den Séparées. Diese befanden sich auf der Galerie, die sich oberhalb des Salons an allen vier Seiten entlang zog. Rote Samtvorhänge hielten dort neugierige Blicke fern. Genau wie Mariele trug Agnes zum Arbeiten ein blutrotes Korsett mit schwarzen Spitzen, das ihre schlanke Taille bestens zur Geltung brachte und ihren Busen nur notdürftig bedeckte. Unter dem schwarzen, knielangen Tellerrock lugte der Spitzenvolant des roten Taftunterrocks hervor. Schwarze Netzstrümpfe und knöchelhohe Schnürstiefel komplettierten ihre Arbeitskleidung. Zum Glück hatte sie die Kleidung nicht selbst besorgen müssen. Sie wurde von der Bordellmutter zur Verfügung gestellt. Pro Abend erhielt sie fünfzig Cent. Und sie durfte die Hälfte des Trinkgeldes behalten, das ihr von den Gästen zugesteckt wurde. Mariele hatte sie gewarnt, keinesfalls zu versuchen, Trinkgelder vor der Bordellmutter zu verstecken. Die zwei Türsteher, die für Ordnung sorgten, betrunkene Gäste hinaus beförderten oder ungebetene Gäste schon am Eingang abwimmelten, hatten ihre Augen überall. Ihnen entging Nichts. Sobald einer der Gäste Agnes Geld zusteckte, signalisierten sie es der Bordellmutter. Sie trat augenblicklich auf den Plan und knöpfte ihr das Geld wieder ab. Wenn ab Mitternacht nur noch an der Bar ausgeschenkt wurde, um die Gäste endlich von den Tischen weg in die Betten der Freudenmädchen zu bringen, war Agnes‘ Arbeit zu Ende. In einer winzigen Kammer zog sie wieder ihre normalen Kleider an. Danach bekam sie im Büro der Bordellwirtin den kargen Lohn und ihren Anteil am Trinkgeld ausbezahlt. Im italienischen Viertel wurde am Sonntag nicht gearbeitet. Das bedeutete sechs Arbeitstage pro Woche. In guten Wochen verdiente sie so sechs Dollar. Aber sehr oft blieben ihr für dreißig Stunden Arbeit als Kellnerin am Ende der Woche gerade einmal drei Dollar. Aber ohne dieses zusätzliche Geld wäre sie schon längst verhungert.

      Bei Mariele verhielt es sich ein wenig anders. Sie bekam zwar pro Nacht, also in der Regel für zwölf Stunden Arbeit, auch nur einen Dollar Lohn. Aber sie war am Umsatz beteiligt. Je mehr Schnaps sie verkaufte, desto mehr verdiente sie. Trotzdem blieben auch ihr nicht mehr als fünfzehn Dollar im Monat zum Leben. Immerhin konnte sie hin und wieder Essensreste aus der Küche des Bordells mit nach Hause nehmen. An solchen Tagen konnten die beiden Frauen ihren Ersparnissen wieder ein paar Cent hinzu fügen. Unter Marieles eisernem Bettgestell hatten sie um einen Ziegelstein herum den Mörtel aus der Wand gekratzt. Hinter dem losen Stein steckte ein Leinenbeutel. Sie hüteten ihn wie ihren Augapfel. Er enthielt ihr so mühsam zusammen gekratztes Geld. In den neun Monaten war es ihnen gelungen durch eiserne Sparsamkeit fünf Dollar zur Seite zu legen. Am Sonntagabend, wenn Agnes aus der Wäscherei heimkam, setzten sie sich nebeneinander auf Marieles Bett, zählten die Münzen aus dem Beutel immer und immer wieder und machten Pläne, was sie mit dem Geld tun würden, wenn sie genügend gespart hätten.

      Endlich hatte Agnes das Hotel Rosaria erreicht. Sie war vollkommen durchgefroren und ihre Zähne klapperten vor Kälte. Wie stets war sie froh das in der feuchten Hitze der Wäscherei völlig durchgeschwitzte Arbeitskleid ausziehen zu können. Zum Glück war es im Bordell immer schön mollig warm. Je wärmer es den Männern war, desto durstiger wurden sie. Und die Mädchen konnten in ihrer dünnen durchsichtigen Unterwäsche umherlaufen und die Männer