wieder trennen. Mehr oder weniger ist es dann auch so gelaufen. Im Heerlener Stadtteil Nieuw-Einde hatten die beiden ein Haus gemietet. Es waren große Betonklötze, die wie ein Kuchen in sechs Einfamilienhäuser geteilt waren. Es war Anfang der 70er, als wir dort einzogen, der Vietnamkrieg war in vollem Gange, was ich durch die täglichen Nachrichten mitbekam und nie vergessen habe. Genau wie Flower Power, der Aufbruch in eine Zeit, in der alles erlaubt war. Diese Veränderung war spürbar und hing fast tastbar in der Luft.
Als wir das erste Mal im neuen Haus ankamen, waren wir überwältigt vom Luxus, ein eigenes Haus zu haben. Alles war wunderschön, und voller Bewunderung strichen wir über die Schränke und die Arbeitsflächen in der Küche. Unserem kindlichen Staunen verliehen wir Ausdruck, indem wir ständig „oooh“ und „aaah“ riefen. In welcher Familiensituation ich gelandet war, realisierte ich in diesem Moment nicht. Erst Jahre später als ich, sechzehn Jahre jung, nach einem Raubüberfall auf eine Poststelle in der Isolierzelle eines Gefängnisses saß, fing ich an, mein bisheriges Leben zu inventarisieren.
Es ist nicht einfach, diese ersten Jahre zusammenzufassen, denn im Gegensatz zu unserem Leben im Kinderheim geschah so viel. Es war ein großes Chaos. Meine Mutter und Graad gingen viel aus, und oft nahmen sie mich mit auf Kneipentour. So kam ich schon in ganz jungen Jahren in Kontakt mit dem Nachtleben, Alkohol, Gewalt und Amoralität. Sehr oft war ich Zeuge, wenn Erwachsen sich mit Wagenhebern, Barhockern und Biergläsern die Köpfe einschlugen. In der Kneipe wurden regelmäßig zwei Stühle zusammengeschoben, ein paar Mäntel und Jacken obendrauf, und fertig war mein Bett für die Nacht. Dort lag ich dann und schlief mit vom Zigarettenrauch brennenden Augen. Nach Lokalschluss merkte ich, wie man mich hochhob und ins Auto legte. Sturzbetrunken fuhren die Erwachsenen dann nach Hause oder manchmal in eine noch offene Nachtbar. Im Unterricht konnte ich einfach nicht mitkommen, denn tagsüber war ich völlig k.o. und lag schlafend auf meiner Schulbank. In der Grundschule wurde ich jedes Jahr versetzt, obwohl ich nie ein Zeugnis bekommen habe. Nach einem Zeugnis, den Hausaufgaben oder der Schule wurde zu Hause nie gefragt. Es war, als ob ich nicht existierte, ich konnte tun und lassen, was ich wollte, keiner nahm Notiz davon. Jahre später, bei einer Untersuchung im Pieter-Bann-Zentrum, wurde diese Periode als „ernste affektive Vernachlässigung“ klassifiziert. Das stimmte wohl auch, denn die einzige Zuneigung, die ich in dieser Zeit bekam, erhielt ich von meinem Bruder Janus, dem ich im Alter von neun oder zehn Jahren regelmäßig einen runterholen musste. Janus hatte sich zu einem richtigen Sadisten und Psychopathen entwickelt, und oft machte er mir Angst, indem er mir im Dunkeln blutdurstige Geschichten erzählte, von Mördern, die mit riesigen Messern unter dem Bett lauerten. Mit ihren riesigen Messer würden sie durch die Matratze stechen und mich so komplett aufschlitzen. Gelähmt und in Angstschweiß gebadet lag ich dort und wartete, bis sie zuschlagen würden. Ich traute mich kaum noch zu atmen. Alles, was Janus mir und meiner Schwester antat, gebrauchte er als Druckmittel wieder gegen mich. Konstant hörte ich: „Wenn du nicht dieses oder jenes machst, dann sage ich Mam, dass du und Annemiek fiese Dinge tun.“ Es grenzte schon fast an Wahnsinn. Er hatte uns in der Hand, und so manipulierte er mich und Annemiek. Und doch verlangte ich nach seiner Aufmerksamkeit, seiner Bestätigung und seinem Lob. Ich wollte so gerne einen Vater haben, einen großen Bruder, jemanden, auf den ich stolz sein konnte, ich wollte irgendwo dazugehören, mich beschützt und geborgen fühlen, aber leider war das nicht möglich. Für Außenstehende war Janus ein verrückter Kerl mit einem flotten Mundwerk, der keine Probleme hatte, soziale Kontakte zu knüpfen. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren hatte er einen großen Kreis von Freunden, von denen nicht einer etwas taugte. Wo er diese Menschen traf, weiß ich nicht. Oft kam er nachts nach Hause und veranstaltete einen riesigen Krach und Lärm, jeder wurde aus dem Bett geholt, und die halbe Nachbarschaft konnte das Spektakel mitgenießen. Dann liefen locker zehn bis fünfzehn sturzbetrunkene Leute durch unser Haus, die sich untereinander oder mit den Nachbarn prügelten. In einer dieser Nächte wurde ich wach vom Lärm und stand auf, um zu sehen, was los ist. Janus und ein paar seiner Freunde waren mit einem großen Messer hinter einer Katze her. Während alle den größten Spaß hatten, lief das arme Tier um sein Leben. In ihrem Todeskampf sprang die Katze die Treppe hinauf, und Janus stach zu. Er erwischte sie im Sprung und stach sie mit dem Messer an der hölzernen Treppe fest, das Blut tropfte von den Stufen herab, während das arme Tier ein letztes Mal zuckte. Weinend rannte ich zurück in mein Zimmer. Ein anderes Mal hatte er sich einen jungen Schäferhund gekauft, der schnüffelnd durch den Garten lief, um sein Geschäft zu verrichten, als er mit einem Luftgewehr auf ihn schoss. Anschließend fuhr er dann zum Tierarzt und ließ den Hund für viel Geld operieren. Manchmal dachte ich wirklich, dass er es gut mit mir meinte. „Komm“, sagte er dann, „lass uns zusammen spielen.“ Er nahm dann eine Streichholzschachtel, holte zwei Streichhölzer heraus, die ich so festhalten sollte, dass die Köpfe unter meinem Daumen und Zeigefinger auf der Streichfläche lagen. Ich war dann eine Brücke, und er tat so, als ob er ein Flugzeug in seiner Hand hatte. „Schau“, sagte er, „ich komm angeflogen und versuche, unter deiner Brücke durchzufliegen…“ „Vrmm, vrmm“ und dann „oooh, oooh, pruttt, pruttt, kein Benzin mehr, mayday, mayday, wir stürzen ab.“ Er schlug mit der Hand auf die Streichholzschachtel, die Köpfe der Zündhölzer strichen über die Streichfläche, entzündeten sich und brannten sich in meinen Zeigefinger und Daumen. Laut lachend ließ er mich zurück! In der Nachbarschaft wurde ein altes Wohnviertel abgerissen, und Janus und seine Freunde gingen dort Altmetalle wie Zink, Kupfer und Blei stehlen. Ich wollte mitmachen und folgte ihm in einigem Abstand, damit er mich nicht nach Hause schicken konnte. Ich machte es ihnen nach und kletterte auf ein Dach. Janus stand am anderen Ende des Daches und schrie mich an: „Verdammt noch mal, geh nach Hause.“ „Nein, ich gehe mit“, schrie ich zurück. Janus hob einen Ziegelstein auf und warf ihn in meine Richtung, bang – mitten ins Gesicht. Meine Nase platzte auf, und ich stürzte rückwärts vom Dach. Die nächsten Tage lag ich mit einer Gehirnerschütterung im Bett. „Unsinn“, meinte Janus „was man nicht hat, kann man auch nicht erschüttern.“
Sein Freundeskreis war ein wilder Haufen, aber gerne hörte ich voller Spannung ihre Geschichten, wenn sie bis spät in die Nacht Pläne schmiedeten für eine anstehende Europatour. Der harte Kern reiste quer durch Europa, ohne Geld, alles, was man benötigte, wurde unterwegs geklaut. Autos, Benzin, Kleidung, Essen, einfach alles wurde gestohlen. Niemand durfte etwas mitnehmen, das war die Bedingung. So zogen sie dann wochenlang durch alle Länder, Italien, Spanien, überall waren sie gewesen. Oft sah ich monatelang niemanden, manchmal auch deshalb, weil sie wieder einmal irgendwo im Gefängnis gelandet waren. Selbst spielte ich gerne mit Nico, dem Nachbarsjungen, in der, wie wir es nannten, „Heide“. Die Heide war ein brachliegendes Gelände, ungefähr 1 km2 groß, auf dem wir unterirdische Hütten bauten und spektakuläre Lagerfeuer entzündeten, die manchmal komplett außer Kontrolle gerieten und fast die ganze Heide abfackelten. Toll fanden wir es auch, von einem Baum zum anderen zu gelangen, ohne den Boden zu berühren. Ich war richtig gut darin, und weil wir es so oft spielten, hatte ich eine sehr gute Koordination. Nicos Bruder wollte auch mitspielen und fiel aus dem Baum, direkt auf sein Gesicht. „Ja, du hast den Boden berührt“, rief ich, „du bist raus!“ Auf der weiterführenden Schule verschaffte mir das eine Zwei in Sport. Auf dem Bewegungsparcours war ich unschlagbar; der Sportlehrer hatte sogar den örtlichen Turnverein eingeladen, um ihnen mein Können zu demonstrieren. Mein Talent wurde sofort erkannt, aber Disziplin hatte ich nicht, und auch der Anreiz fehlte. Der Sportlehrer machte mir das Angebot, mich zu Hause abzuholen und mich nach Trainingsende wieder nach Hause zu fahren, aber sein Vorschlag traf bei mir auf taube Ohren. Die Zeit der unschuldigen Spiele mit Nico ging schnell vorbei, und schon bald war ich Mitglied einer sechsköpfigen ‚Gang‘. Pierro und ich waren mit zehn, elf Jahren die Jüngsten, Rob und Rob, die Ältesten, waren siebzehn Jahre alt. Jetzt fing alles an, richtig schiefzulaufen. Ladendiebstähle waren unser Tagesgeschäft, teure Lederjacken, Markenkleidung, alles passend und auf Bestellung. Rob und Rob übernahmen den Verkauf. Nach Sonnenuntergang setzten wir unsere Diebestour fort, indem wir in Häuser, Geschäfte und Firmen einbrachen. Nichts war sicher oder heilig, Fahrräder, Mopeds, alles nahmen wir mit. Viel Geld bekam ich nicht vom Verkauf. Ab und zu steckte Rob mir einen Zehner zu, damit ging ich in die nächste Pommesbude und aß Snacks und fettige Pommes, bis mir übel wurde. Wenn danach noch Geld übrig war, kaufte ich mir vom Rest Wassereis, die doppelten mit den beiden Holzstöckchen, die man in der Mitte brechen kann. Am allerliebsten aß ich die gelben mit Zitronengeschmack. Tja, eine Kinderhand