eine war der soziale, einfühlsam Typ, der förmlich triefte vor Empathie. Ein zweiter übernahm die Rolle des aggressiven Polizisten, verbal sehr einschüchternd, und es hatte den Anschein, dass sein netter Kollege ihn nur mit Mühe zurückhalten konnte. Schnell durchschaute ich das Spiel, denn schließlich hatte man mich jahrelang darauf vorbereitet. „Ihr könnt mich mal“, dachte ich mir im Stillen. Außerdem hatte meine Mutter gedroht, mein Geländemoped zu verkaufen, wenn ich redete. Dass ich bei dem Raub dabei gewesen war, stand durch die Aussage des Juweliers hundertprozentig fest, und die Polizisten ließen wirklich nichts unversucht, um mich zu einer Aussage zu bewegen. Einige Male kam „der Nette“ in meine Zelle, setzte sich zu mir und redete in väterlichem Ton mit mir. „Junge, wir wissen doch schon alles, erzähl uns den genauen Ablauf. Komm schon, du verbaust dir so deine ganze Zukunft.“ – „Schau“, sagte er und wies auf die Wand. „Siehst du die Klingel da? Wenn du es mir erzählen möchtest, dann drücke den Knopf, und ich komme zu dir. Du machst eine Aussage, und anschließend darfst du sofort nach Hause!“ Am nächsten Tag kam er wieder. „Na“, sagte er, „ich dachte, du würdest klingeln?!“ – „Ich habe aber nicht zu sagen!“, entgegnete ich. Jetzt drehte „der Böse“ wieder komplett durch und versuchte es mit Beschimpfungen. „Fuck you“, dachte ich. Hier und jetzt konnte ich beweisen, dass ich meine Lektionen gelernt hatte. Nach fünf Tagen durfte ich wieder nach Hause. Ich hatte keine Aussage gemacht, aber es war eine wichtige Lektion fürs Leben gewesen, und stolz wie ein Pfau verließ ich das Polizeirevier. Einer der Polizisten machte meiner Mutter ein Kompliment. „So Mia“, sagte er, „der hat seine Lektion ja schon mit der Muttermilch bekommen!“ Auch den Beamten der Wache war klar, dass es kein gutes Omen für die Zukunft ist, wenn jemand dieses Spiel im Alter von zwölf Jahren schon so gut beherrscht. Für mich war das alles normal. Ich hatte kein Vergleichsmaterial und dachte, alles sei so, wie es sein sollte. Wenn ich nicht mit meiner Mutter unterwegs war, lag ich die ganze Nacht vor dem Fernseher und schaute mir in Schwarzweiß die alten französischen Gangsterfilme auf den deutschen Kanälen an. Alain Delon, Jean Paul Belmondo, Lino Ventura etc. waren meine großen Idole. Ich wollte später ein Gangster sein, das war für mich ganz klar. Ich wollte auch in Nachtclubschlägereien verwickelt werden, wilde Verfolgungsjagden und Schießereien erleben, Champagnerkorken knallen lassen, die Nächte mit ein paar schönen Nutten im Arm durchfeiern und lässig mit einer Zigarette im Mundwinkel die Bühne für mein eigenes psychologisches Drama schaffen. Wieso Maurer oder Autoschlosser? Das überließ ich den anderen Blödmännern. Kriminalität war meine Zukunft, und ich würde es weit bringen, noch vor meinem dreißigsten Geburtstag wollte ich es geschafft haben und ‚drin‘ sein. (Drin war ich… im Gefängnis) Ich würde ein paar Millionen rauben, mich damit in Südfrankreich niederlassen, einen tollen Nachtclub öffnen und wäre ‚the man‘. Tagsüber würde ich mit meinem 1957er Mercedes 300 SL Roadster – für mich der schönste Wagen, der je gebaut wurde – an der Küste entlangfahren, und die Frauen würden sich um einen Platz an meiner Seite reißen.
Meine Mutter wechselte in dieser Zeit die Männer schneller, als ich blinzeln konnte. Jeden Morgen, bevor ich die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, fragte ich mich, welche Visage heute wohl wieder unter der Decke hervorkroch. Bei einer Gelegenheit beobachtete sie von unserem Küchenfenster aus ein vorbeigehendes Pärchen, als sie voller Entrüstung rief: „Guck dir das fiese Flittchen an!“ Ich fragte: „Warum, Mam?“ – „Die hat jede Woche einen neuen Kerl!“, sagte sie. Daraufhin ich wieder: „Ja, aber du doch auch!!“ Wie eine Furie griff sie mir an die Gurgel, drückte, so fest sie konnte, zu und schleifte mich durchs Haus. Wie eine Lappenpuppe hing ich in ihren Klauen, bis sie wieder zu sich kam und mich losließ. Ohne ein Wort oder eine Miene zu verziehen, starrte ich sie an und versuchte, diese ungeheure Ungerechtigkeit zu verstehen.
KAPITEL II
Stille, die transformiert
Eine Zeit des Streunens brach an, in der wir schnell und viel umzogen. Sogar in einem Wohnwagen, der aussah, als gehöre er zu einem Wanderzirkus, habe ich eine Weile gewohnt. Von Weert aus musste ich jeden Tag mit dem Zug nach Heerlen zur Schule. In Brunssum hatte ich es nicht länger als ein Jahr ausgehalten, deswegen besuchte ich zurzeit die ITO (Individuelles Technisches Bildungswesen) Heerlen. Hier sollte ich die nächsten zwei Jahre zur Schule gehen, aber kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag wurde ich wegen Fehlverhaltens der Schule verwiesen. Auf der ITO waren auch einige Jungs vom Wohnwagencamp, die innerhalb der Schule eine feste Gruppe formten und gegen die Bauern rivalisierten. Alle, die nicht vom Wohnwagencamp kamen, waren in ihren Augen Bauern, wobei das Wort „Bauer“ eine stigmatisierende Funktion erfüllte. Für die Bauern, die Bürger also, waren alle Reisenden Zigeuner, denen man nicht trauen konnte und die man besser mied. Sie brachten entweder Ärger oder wollten einem irgendetwas verkaufen, was man gar nicht haben wollte. In meinem Fall war die Sache nicht so klar. Ich war ein Bauer, der im Wohnwagencamp aufgewachsen war. Mein Bruder Janus hatte ein Mädchen vom Camp geheiratet, und mit ihr hatte er zwei Kinder, Jantje und Jowie. Als ich während der Schulpause auf einer Mauer meine Butterbrote aß, geriet ich ins Visier einer Gruppe Reisender. „He, Junge, isst du brav deine Brote!?“, rief der Anführer mir zu. Bevor ich reagieren konnte, hatte er mich am Hals und versuchte mich rückwärts von der Mauer zu werfen. In einem Reflex griff ich nach seiner Kleidung und schleuderte ihn über mich drüber. Er hatte mich nicht losgelassen, und so fielen wir zusammen von der ungefähr anderthalb Meter hohen Mauer und landeten zwischen den Pflanzen im Dreck. Der Reisende schaute mich an, und kurz dachte ich: „Jetzt geht’s los“, aber dann fingen wir beide an zu lachen, denn es war ein wirklich spektakulärer Fall. So wurden wir Freunde, und als er hörte, dass ich oft im Camp war, wurde ich als einer von ihnen akzeptiert. Auf die geplante Klassenfahrt nach London begleitete mich mein neuer Freund nicht, also musste ich alles alleine verderben. Organisiert wurde die Fahrt von unserem Englischlehrer, einem negroiden Mann namens Mister Mathew, a real sophisticated man. Ich musste immer lachen, wenn er mit seinem starken Akzent Niederländisch sprach. Es machte mir einen Heidenspaß, ihn zu imitieren, what a character! Meneer Willems, der stellvertretende Direktor, ein kleiner, korpulenter Fettsack, fuhr auch mit. Zuerst mit dem Bus nach Calais und von dort mit der Fähre rüber nach Dover, England. Schon im Bus spielte ich den Clown, holte mir das Mikrofon und imitierte Mister Mathew: „Wenn wir jetzt bitte alle nach links schauen, dann sehen wir nicht, was rechts passiert.“ Alle Kinder lachten, und ich hatte wieder die volle Aufmerksamkeit. Es war uns ausdrücklich verboten, an Bord der Fähre zu trinken, aber die Leinen war noch nicht los, da hatten Ruud und ich schon die erste Flasche Bier am Mund. Seinem Vater gehörte ein großes Transportunternehmen in Beek oder Spaubeek. Eine Stunde später waren wir krank vom Seegang und dem Bier und hingen kotzend über der Reling. Für unseren Londonaufenthalt hatte Mister Mathew einen straffen Zeitplan aufgestellt. Wir sollten so viel wie möglich von der Stadt sehen, und am gleichen Abend ging es ins Theater, wo ich Chancen bei einem wunderschönen Mädchen hatte; blonde Haare, braune Augen, genau wie Catherine Deneuve. Am nächsten Tag sightseeing, die berühmte Tower Bridge und die Kronjuwelen. Bei der Gelegenheit habe ich an den Big Ben gepinkelt, nur damit ich dann zu Hause erzählen konnte: „He, ich hab an den Big Ben gepinkelt… lustig, oder?“ Danach Buckingham Palace, wo die Guards stehen, die sich nicht bewegen und nicht reden dürfen. Aber ich schaffte es, dass einer von ihnen mich leise anzischte: „Fuck off, you little bastard.“ Ich nahm Ruud beiseite und sagte: „He, Ruud, ich habe keine Lust, den ganzen Tag mit Mister Mathews von einem Museum zum nächsten zu laufen. Komm, wir verlieren die Gruppe und verirren uns!“ Ruud war direkt mit von der Partie. Wir sorgten dafür, dass wir den Anschluss an die Gruppe verloren, und rissen aus. Draußen angekommen, wollte ich wissen, ob das mit den Taxen so funktioniert wie im Film. Ich stellte mich auf die Straße, pfiff laut und rief: „TAXI.“ Tatsächlich stoppte sofort ein Wagen, und ich sagte: „Driver, to the best pub in town!“ Am Ziel angekommen, gab ich dem Fahrer ein gutes Trinkgeld, und wir stiegen im Zentrum von London vor einem gut besuchten Pub aus. Die Engländer fangen schon früh an zu saufen! Ruud und ich hatten extrem viel Spaß und waren blau wie die Haubitzen. Was wir aber nicht wussten, war, dass der Direktor die Polizei eingeschaltet hatte. Alle waren in heller Aufregung und befürchteten das Schlimmste. Wer weiß, vielleicht waren wir ja Jack the Ripper in die Hände gefallen. Abends um elf schließen die Lokale, und wir fuhren mit dem Taxi zurück ins Hotel. Von dem, was danach kam, weiß ich nicht