Gerrit Stanneveld

KAIROS


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waren 14 Tage in der Isolierzelle. Die Isolierzelle war ein ca. 3,5 x 2,5 Meter großer Raum, in einer Ecke hing festzementiert an der Wand eine Toilette aus rostfreiem Stahl, außerdem gab es zwei schmale, kugelsichere Fenster mit doppelter Isolation. Die Decke des Raums war eine Stahlplatte mit vielen kleinen Löchern, die, wenn ich auf dem Rücken lag, vor meinen Augen ineinander verschwammen. Dort herrschte absolute Stille; kein einziger Laut von außen drang hinein. Es dauerte nicht lange, bis die Strafzellen mein Zuhause wurden. Meine ganze Jugend sollte ich hier verbringen, mich selber verlieren in dieser Stille, und Jahre später würde ich mich auch genau in dieser Stille wiederfinden. Es dauerte nicht lange, und ich geriet mit den Wärtern aneinander. Noch nie in meinem Leben hatte mir jemand Vorschriften gemacht, und hier in dieser Anstalt wurde jede Minute von Regeln diktiert. Das gefiel mir natürlich gar nicht, und das wiederum führte zu ständigen Konflikten mit den Wärtern. Ich war ein 16-jähriger Rotzlöffel und hatte keinerlei Respekt vor Autorität, aber das würde man mir hier wohl oder übel schon beibringen. „Ihr hirnamputierten Volltrottel könnt mich doch allemal kreuzweise“, dachte ich. „Wir werden noch sehen, wer hier den längeren Atem hat.“ Der Ton war gesetzt und der Ärger vorprogrammiert. Es dauerte keine Woche, und ich bekam den ersten Rapport. Ich hatte unerlaubt auf dem Bett gelegen und das Personal beleidigt. Man brachte mich zum Direktor, was mich aber auch nicht beeindruckte.

      KAPITEL III

       Papillon

      Die ersten Disziplinarstrafen verbrachte ich im Pavillon 8, und von Strafe war eigentlich kaum die Rede. Es gab die gleichen Zellen wie unten im Pavillon 6, die Freizeitgestaltung wurde gestrichen, und der Hofgang fand alleine, in einem Käfig, statt. In den gleichen gesetzlichen Richtlinien, die besagen, dass das Überfallen von Postämtern verboten ist, steht auch, dass der Strafvollzug für einen nicht Volljährigen in einer Anstalt für Erwachsene verboten ist. Aber genau das passierte hier – und nicht nur das, der Gefängnisdirektor verhängte für mich, einen Jugendlichen, die härteste Disziplinarstrafe, die ihm zur Bestrafung eines Erwachsenen zur Verfügung stand. Zwar waren die ersten Strafen halb so wild, aber der Freiheitsentzug erzeugt natürlich einen gewissen Druck, den ich selbstverständlich spürte. Ich hatte meine Freiheit verloren und wurde ständig durch Regeln unterdrückt. Die Bösewichte waren diejenigen, die die Regeln handhabten: die Wärter. Ich habe nie verstanden, wie man solch einer Tätigkeit nachgehen kann. Welches Niveau des menschlichen Daseins hat man, wenn man den ganzen Tag im Affenkostüm und mit einem großen Schlüsselbund Menschen einschließt? Findet man als Wärter Befriedigung in seiner Arbeit und geht man nach Feierabend nach Hause mit dem Gefühl, etwas Besonderes geschafft zu haben? Ich stellte mir vor, wie sie abends nach Hause kamen und von ihren Frauen mit einem Kuss und der Frage: „Wie war denn dein Tag, Schatz?“ begrüßt wurden. Und dann ihre Antwort! Die Möglichkeiten, tagsüber der Einsamkeit der Zelle zu entfliehen, sind in der U-Haftanstalt nur sehr begrenzt. Es gab die Möglichkeit, zusammen mit den übrigen Insassen der Abteilung in die Werkstatt zu gehen, und fast jeder nutzte dieses Angebot, denn so kam man raus aus der Zelle, traf andere Insassen und hatte soziale Kontakte. Man hörte den neusten Klatsch, und ein reger Austausch von Informationen und Drogen fand statt. Die angebotenen Tätigkeiten boten wenig Abwechslung. Man konnte Wäscheklammern machen, Schokolade – die jeder bespuckte oder mit Rotz beschmierte – einpacken, Weihnachtskarten einpacken oder große Umschläge leimen. Von 8 Uhr bis 12 Uhr arbeiten, eine halbstündige Kaffeepause um 10.30 Uhr und von 12 Uhr bis 13 Uhr in der Zelle Mittagessen. Am Nachmittag durfte man im Hof eine Stunde lang frische Luft tanken und wie ein Hamster im Kreis laufen. Mit dem Häftling, der mir in der Werkstatt gegenüber saß, lieferte ich mir eine Art Wettkampf. Wer ist der Schnellere im Kleben der Umschläge? Hans, so hieß mein Gegenüber, war einfach unschlagbar. Er war um einiges älter, und ich empfand ihn als eine sehr angenehme Gesellschaft. Außerdem erzählte er mir, dass er ein passionierter Leser war und in der Literatur komplett aufging. Hans gehörte schon fast zum Inventar, er hatte schon etliche Jahre auf den Buckel, und wenn er seine Geschichten erzählte, war ich ganz gefesselt. Weil er so viel las, hatte Hans eine sehr gute Allgemeinbildung, von der ich gierig profitierte. Er wies mich in die Gefängnissitten ein und zeigte mir, wie der Alltag hier ablief. Immer wieder riet er mir, ich solle lesen, weil ich so wissbegierig war. „Wissen ist Macht, Gerrit.“ Ich erzählte ihm, dass ich noch nie ein Buch gelesen hatte, dass ich kaum Bildung hatte und nur das Leben auf der Straße kannte. Immer wieder pochte er darauf, dass ich anfing zu lesen, und wollte mich mittags mitnehmen in die Bibliothek, um mich dort zu beraten, welche Bücher für den Anfang in Frage kämen. Manchmal sagte er Sachen wie: „Nicht du suchst ein Buch aus, das Buch sucht dich aus!“ Viele Jahre und hunderte von Büchern später kann ich dieser Behauptung beipflichten… Und so ging ich eines Tages zusammen mit Hans in die Gefängnisbücherei und suchte mir mein erstes Buch aus. „Papillon“ von Henri Carriere. Es ist die Autobiografie eines französischen Kriminellen aus den dreißiger Jahren und spielt in Paris. Henri, Erzähler und Hauptrolle des Buches, erlebt so manches. Er wird, wie er selber behauptet, unschuldig für den Mord an einem Zuhälter verurteilt. Henri wird zu einer lebenslangen Haft in der Strafkolonie auf Französisch-Guayana verurteilt. Zu der Zeit schob Frankreich alle Kriminellen und was dafür gehalten wurde, in die Kolonien ab. Die Lebensumstände waren so schlecht, dass viele schon auf der langen Seereise starben oder aber später in den Baracken an Unterernährung, den Folgen der schweren körperlichen Arbeit oder einer Tropenkrankheit. Einen Namen machte sich Henri durch seine ständigen Fluchtversuche und die extrem schweren Disziplinarstrafen, die er unter unmenschlichen Umständen erduldete. Sein letzter Fluchtversuch war ihm gelungen, und er lebte einige Jahre bei einem Indianerstamm irgendwo in Südamerika. Während des Lesens fragte ich mich, warum er diese Idylle wieder verließ, um in die zivilisierte Welt zurückzukehren. Ich sah nur die romantische Seite der Geschichte. Auch lange, nachdem um 24 Uhr das Licht gelöscht werden musste, las ich weiter. Ich setzte mich auf die Toilette und tat so, als hätte ich Bauchschmerzen, um weiterlesen zu können. Ich bin Hans sehr dankbar, denn so entdeckte ich die Bücher. Die Literatur mit all dem Wissen bot mir die Möglichkeit, der Realität zu entkommen, und so lernte ich – theoretisch – die Welt kennen.

      Doch auch die Liebe fürs Lesen konnte mich nicht vor meinem eigenen aufbrausenden und zerstörerischen Temperament beschützen. Weil Hans und ich uns so gut verstanden, redeten wir ununterbrochen und machten viel Unsinn, und das wirkte ansteckend auf die restlichen Häftlinge. An unserem Tisch wurde es immer gemütlicher und voller, so voll, dass der Werkmeister dachte, er müsse eingreifen und uns auseinander setzen. Sofort bekam ich Krach mit ihm und der Wortwechsel eskalierte. Ich hielt das Ganze für Haarspalterei, und seine Argumente hatten in meinen Augen weder Hand noch Fuß. Der Mann regte mich dermaßen auf, dass ich sagte: „Jetzt hör mal zu, du Arschkriecher, ich werde dir einen Grund geben, um mich zu bestrafen.“ Ich stand auf und trat den Kaffeetisch mit allem, was darauf stand, um. Der Mann schaute mich ganz entgeistert an. Als Nächstes schnappte ich mir seinen großen Bürostuhl und schmiss ihn durch das Fenster zu dem Raum, in dem wir unsere Kaffeepause machten. „Und jetzt bist du dran“ rief ich. Er flüchtete in sein Büro und schlug sofort Alarm. Innerhalb weniger Sekunden war der Stoßtrupp da, und ich wurde von sechs Wärtern zu Pavillon 9 abgeführt. Im Aufzug stand ich in ihrer Mitte, und ich konnte spüren, dass sie wahnsinnig viel Lust verspürten, mir gewaltig aufs Maul zu hauen. Ich hielt mich bedeckt, denn bis dahin war noch nichts passiert. Angekommen im Pavillon 9, musste ich mich vor allen Wärtern komplett ausziehen. Wenn ich mich weigerte, würde man mir ein wenig helfen! Nachdem ich mich ausgezogen hatte, wurden alle Körperöffnungen auf Schmuggelware kontrolliert. Ich musste mich sogar vornüberbeugen und meine Arschbacken auseinanderziehen, sodass man mit vereinten Kräften in meinen Anus schauen konnte. Ich glaube nicht, dass sie wussten, welches Privileg das war! Die Demütigung ist kaum zu beschreiben, wenn man diese Prozedur das erste Mal über sich ergehen lassen muss. Scham und Hass wechselten sich ab. Die Scham sollte schnell vergehen, aber der Hass wuchs ins Unermessliche. Ein Wärter schmiss mir Gefängnisunterwäsche vor die Füße. Sehr elegant war sie nicht, saß aber recht komfortabel. Dann, klatsch… wieder vor meinen Füßen, ein Gefängnisoverall ohne Knöpfe, den ich anziehen sollte, und ein paar Plastik-Latschen, bei denen ich mich weigerte, sie zu tragen, weil sie einen bestialischen Gestank verbreiteten. Des Weiteren hatte ich ein Anrecht auf ein Sitzelement, das ich aber nie bekam, und eine Bibel. „Viel Spaß“, sagte einer der Wärter, und die schwere Stahltür