Gerrit Stanneveld

KAIROS


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ich vor Wut. Das war die härteste Strafe, die dem Direktor zur Bestrafung eines Erwachsenen zur Verfügung stand, und anfangs erkannte ich noch nicht, was die besondere Härte ausmachte. Du stehst da, und eine Weile schaust du nach draußen, verfolgst die Aktivitäten im Industriegebiet, ich nahm die Bilder am Horizont auf und entdeckte jedes Mal etwas Neues. Dann lief ich auf und ab in meiner Zelle… dabei dachte ich an einen dummen Witz. Es ist erstaunlich, wie der menschliche Geist auf die soziale Deprivation reagiert. Wie ich schon erwähnt habe, herrschte in der Isolierzelle absolute Stille; kein einziges Geräusch von außen drang hinein – nichts. Durch die Stille und das Fehlen äußerer Reize hat der Geist freie Bahn, wodurch eine introspektive Selbstanalyse in Gang gesetzt wird. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass man diesen Prozess so nennt. Ich stellte fest, dass mein Geist sich öffnete und anfing, sich selber zu untersuchen. Erinnerungen, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass es sie gab, traten wieder an die Oberfläche wie die sprichwörtliche Büchse der Pandora. Vieles hatte ich verdrängt, und nun standen die Erinnerungen glasklar vor meinem geistigen Auge. Das Kinderheim, die darauffolgenden Jahre in Vrieheide, die Gewalt, die Familiensituation und meine abweichende Erziehung sowie die Inzesterfahrungen durch meinen Halbbruder Janus. 24 Stunden täglich, 14 Tage lang, hatte mein Geist freie Bahn und untersuchte sich selber. Ich hatte das Gefühl, keinerlei Einfluss darauf zu haben und meinen Gehirnaktivitäten wehrlos ausgeliefert zu sein. Wer war ich eigentlich? Aufgewachsen war ich in einem Kinderheim, danach die Grundschule in Nieuw-Einde, meine abweichende Erziehung oder besser gesagt das Fehlen einer Erziehung, die Gewalttätigkeiten, die ich gesehen hatte, die Belästigungen durch Janus. Die Freundinnen, die ich bis dato gehabt hatte, die Freunde, mit denen ich umgegangen war, kurz gesagt alles, was ich bis dahin in meinem kurzen Leben erlebt hatte, waren die persönlichen Ausgangspunkte, die meine Identität geformt hatten. Und das sah nicht gut aus! Vielleicht war das mit Janus meine eigene Schuld? War ich homosexuell und hatte es provoziert? Vielleicht hatte ich es nicht besser verdient; einen Vater hatte ich auch nie gehabt, er fand mich wohl auch nicht der Mühe wert? Und meine Mutter hatte mich auch nie umarmt und mir gesagt, dass sie mich liebt. Nie! Auch nicht, als ich noch klein war! Zuhause in Nieuw-Einde hatte ich immer das Gefühl gehabt, unsichtbar zu sein; keiner nahm Notiz von mir, egal was ich tat.

      Mit 16 Jahren hatte ich schon mit sehr vielen Mädchen eine sexuelle Beziehung gehabt. Einige Beziehungen waren sehr befriedigend, aber dennoch fühlte ich mich unsicher, was meine sexuelle Orientierung betraf. Eine Welle der Negativität nahm Besitz von mir, die Gedanken waren komplett außer Kontrolle, und dieser Denkprozess wurde dort in der Isolierzelle kaum unterbrochen. Morgens kamen die Wärter und nahmen das Stück Schaumstoff und die ranzige Decke wieder in Beschlag. Oft ohne ein einziges Wort. Sie stellten einen Teller mit Butterbroten auf den Boden, mit Brotaufstrich, den ich überhaupt nicht mochte. Mittags ein Pappteller mit einer warmen Mahlzeit und ein Holzlöffel. Um sechs wieder Brot mit dem gleichen ekligen Brotaufstrich. Dann spät am Abend, so gegen 10 oder halb 11, wieder die ranzige Decke und das Stück Schaumstoff. Und dann das Licht, das Tag und Nacht brannte und mich völlig wahnsinnig machte. Es wäre zu meiner eigenen Sicherheit so, behauptete man, was natürlich völliger Unsinn ist; so versucht man den Häftling auf eine sehr subtile Weise zu brechen. Die Stille, die soziale Ausgrenzung, das Fehlen von äußeren Reizen und sozialen Kontakten, das alles zusammen ergab ein komplettes Bild. In einigen Ländern verwendet man diese Methode zur Folter, weil sie keine körperlich sichtbaren Spuren hinterlässt. Erwachsene Männer hatte man so schon psychisch gebrochen… ich war ein 16-jähriger Teenager! Es gab vier Isolierzellen im Pavillon 9, und meistens waren sie unbelegt, was ein deutlicher Hinweis darauf war, dass sie bei den Häftlingen nicht sehr beliebt waren. In der Stahltür gab es eine lange schmale Luke, zirka 10 cm breit und 60 cm lang. Zum Schließen wurde die Luke zugeklickt, was mittels Magneten funktionierte. Ich hatte entdeckt, dass, wenn ich mit voller Wucht gegen die Tür trat – hierzu zog ich die stinkigen Latschen ausnahmsweise an –, die Luke aufsprang und ich durch den Schlitz eine Uhr sehen konnte, die im Flur hing. So wusste ich wenigstens, wie spät es war. Dort in den Zellen verlor man schnell das Gefühl für Zeit, und durch die verdammten Leuchtstoffröhren hatte man auch keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr. Selbst mit geschlossenen Augen sah man das Licht. Einmal hörte ich, dass ich einen Nachbarn hatte. Es handelte sich um keinen Geringeren als Koos H. Der berüchtigte Kindermörder und Ex-Türsteher aus Den Haag. Das Personal fand es amüsant, mir die Neuigkeit mitzuteilen. Es war das erste Mal, dass ich froh war, sicher hinter der massiven Stahltür zu sitzen. Wenn jetzt abends mein Essen kam, passte ich immer gut auf, dass meine Tür gut verschlossen wurde. Da hofft man auf einen Gesprächspartner, der einen ablenkt, und bekommt stattdessen einen Serienmörder als Nachbarn! Die 14 Tage krochen vorbei, und ich durfte wieder zurück, teilnehmen am normalen Gefängnisalltag. Aber die zwei Wochen hatte mehr Einfluss auf mich gehabt, als ich mir selber eingestehen wollte. Ich hatte 8 Kilo abgenommen, war nervös und schreckhaft. Ich fühlte mich unwohl bei all den Menschen, und die sozialen Kontakte empfand ich eher als Bedrohung. Ich zog mich zurück, wollte immer öfter alleine sein und war so aggressiv wie noch nie. Innerhalb kürzester Zeit landete ich wieder im Pavillon 9, und wieder, und wieder, und wieder…! Und auch die introspektive Selbstanalyse ging weiter…

      Drei Monate später war mein Gerichtstermin. Für diese Gelegenheit hatte meine Mutter mir einen dreiteiligen Anzug gekauft, in der Hoffnung, den Richter milder zu stimmen und meine Strafe zu mindern. Für mich war alles neu, der große Sitzungssaal, der Richter, der Staatsanwalt, mein Anwalt, Familie und Freunde auf den Zuschauerplätzen und außerdem ein Haufen Fremder. Das war ja wohl der Beweis: ich war ein Publikumsmagnet. Warum ich vor einer Strafkammer stand, war mir ein Rätsel, denn normalerweise werden Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres durch ein Jugendgericht verurteilt. Die maximale Strafe vor dem Jugendgericht war ein halbes Jahr in einer Jugendstrafanstalt. Man verurteilte mich zu einer einjährigen Gefängnisstrafe. Von dieser Strafe wurden drei Monate auf Bewährung ausgesetzt und der dreimonatige Vorarrest abgezogen. Das hieß, ich musste ein halbes Jahr sitzen. Janus bekam die gleiche Strafe. Meine Mutter fing an zu weinen. Ich zuckte mit meinen Schultern, als würde ich sagen „Tja…!“ Wieder mit dem Gefangenentransport eine Runde sightseeing Maastricht und zurück in die U-Haftanstalt. Nachdem ich nun verurteilt war, durfte ich in ein anderes Gefängnis verlegt werden. Innerhalb weniger Wochen war es soweit, ich wurde in die Jugendstrafanstalt Vught verlegt. Der Transport war für mich eine willkommene Abwechslung. Mal wieder raus, was anderes sehen und in dem gammeligen Bus mit den anderen eine Zigarette rauchen. Einfach nur reden, ohne viel Bedeutung. Maastricht war ein hypermodernes Gebäude gewesen, und Vught war das genaue Gegenteil. Den Anblick assoziierte ich sofort mit einem Konzentrationslager. Und damit hatte ich auch Recht, denn im zweiten Weltkrieg hatte Vught tatsächlich als Konzentrationslager gedient. Die Aufnahmeprozedur verläuft fast überall gleich, eine Menge Blabla, das keinen Menschen interessiert… du darfst das nicht, du darfst jenes nicht. Der Standardwitz für alle Neulinge lautete: „Früher unterschrieb man hier bei Ankunft für die Kugel, inzwischen ist sie umsonst.“ Mit der geleisteten Unterschrift bekam man die Erlaubnis, sich frei auf dem Gelände zu bewegen, gab aber gleichzeitig auch sein Einverständnis dass bei einem Fluchtversuch geschossen werden durfte.

      Die ersten beiden Wochen hatte ich gearbeitet. In einem unbewachten Moment flüchtete ich. Ich kletterte über den ersten Zaun, wobei ich mir Hände und Gesicht am Stacheldraht verletzte, sprang hinunter, schwamm durch einen Graben und kletterte über den nächsten Zaun, bei dem ich mir wieder alles Mögliche aufschlitzte. Die Freiheit schon zum Greifen nahe, verfing ich mich mit einem Bein im Stacheldraht und kam einfach nicht mehr los. Aus den Augenwinkeln sah ich zwei Wachposten mit Karabinern auf mich zurennen. „Klack, klack“, klang es, als sie die Waffen entsicherten und auf mich zielten. „Hängen bleiben!“ rief einer. Und so musste ich im Spagat hängen bleiben, bis Verstärkung eingetroffen war. Einer der Wachposten hatte einige Tage später beim Einzelhofgang die Aufsicht, und ich ging zu ihm, um mich zu unterhalten. „Eh…, sag mal, du hättest doch nicht wirklich auf mich geschossen, oder? Ich meine, wenn ich weitergerannt wäre.“ „Aber sicher doch.“, sagte er voller Überzeugung. „Du Arschloch“, dachte ich mir, traute mich aber nicht, es laut zu sagen. Während meiner ersten Haft war nicht alles makellos verlaufen, also hielt ich meinen Mund. Meine Aktion wurde auch hier in Vught mit 14 Tagen in der Isolierzelle bestraft, aber dieses Mal so richtig gruselig. In der Zelle neben meiner waren im Zweiten Weltkrieg mehr als 40 Menschen umgekommen, Männer, Frauen und Kinder!