blickte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Und dann blickte er in den Lauf einer Pistole und ließ den Schlüssel zu Boden fallen.
Anschließend fiel er selber: Ein Schuss hatte ihn in den Unterleib getroffen. Der rasende Schmerz ließ ihn schon fast besinnungslos langsam vornüber kippen, und da seine Hände das grausige Brennen aus seinem Leib reißen wollten, schlug sein Gesicht schutzlos auf die blanken Marmorfliesen der Passage. Die erheblichen Verletzungen und Entstellungen seines Gesichts - so sollte später der Bericht des Gerichtsmediziners feststellen - waren auf diesen Sturz zurückzuführen. Das an der unteren Begrenzung des Hinterhauptbeines schräg nach unten eindringende, das verlängerte Rückenmark zerfetzende und die Halswirbelsäule durchdringende Projektil hatte den Tod herbeigeführt. Den augenblicklichen Tod, wie es später heißen sollte. Dass der Schuss aus unmittelbarer Nähe auf den am Boden Liegenden abgefeuert worden war, das wurde sehr schnell festgestellt. "Sieht ja fast aus wie 'ne Exekution", sagte Werner Schröer, ein junger Mann, der gerade auf der Fachhochschule in Dortmund den Kommissarslehrgang und in Bochum ein neunmonatiges Praktikum absolvierte. "Die Haare sind versengt, und wetten, dass sich zwischen Kopfhaut und Schädelknochen eine Schmauchhöhle entwickelt hat?"
Bei seinen Ausführungen über die tödliche Schussverletzung sah er Hauptkommissar Schreiner herausfordernd an, und diesem wurde augenblicklich wieder klar, weshalb er dem Ende von Schröers Praktikum so entgegenfieberte. Er fand diesen aufgeblasenen Klugscheißer einfach zum Kotzen. Als Schröer auch noch hinzufügte, das käme durch die Saugwirkung infolge vakuumähnlichen Umstands im Pistolenlauf, musste Schreiner seine Hände ganz fest in die Manteltaschen stecken.
Die Details der Tötung des Opfers waren in dem späteren Bericht des Gerichtsmediziners mit geradezu philologischer Akribie aufgeführt worden, und es drängte sich den Beamten der Kripo der Verdacht auf, dies solle darüber hinwegtäuschen, dass man über den Tathergang, das Motiv und den Täter eigentlich nicht das Geringste wusste. Der junge Mann tauchte in den Vernehmungsprotokollen der Kripo überhaupt nicht auf. Ihn hatte nämlich niemand registriert.
Der Tote war von Passanten vor der Ladentür gefunden worden; eine zähflüssige Blutspur führte von seinem Kopf über die Fliesen der zur Straße leicht abfallenden Passage und zerlief im Regen, der sich in kleinen Pfützen auf dem Bürgersteig sammelte.
Die ersten Ermittlungen der Beamten hatten letztlich kaum etwas gebracht. Der Mann war offensichtlich nicht beraubt worden; sämtliche Papiere und eine erhebliche Geldsumme befanden sich noch in seinem Mantel. Auch der Schlüsselbund lag noch vor der Ladentür.
Verblüffend war auch, dass niemand die Schüsse gehört hatte. Eine Waffe von dem Kaliber hätte in der Passage einen Höllenlärm machen müssen. Der Täter musste einen Schalldämpfer benutzt haben.
Der Ermordete hatte in dem Haus gewohnt, in dessen Erdgeschoss er ein Herrenbekleidungsgeschäft hatte. Die Nachbarn kannten ihn kaum. Der Mann war seit eineinhalb Jahren von seiner Frau geschieden. Das wussten rstaunlicherweise alle Nachbarn.
Lediglich die Vernehmung der Ex-Frau des Ermordeten schien Hauptkommissar Schreiner etwas gebracht zu haben. Was, das wusste er allerdings selber nicht genau zu sagen: Sie hatten sich vor eineinhalb Jahren in beiderseitigem Einvernehmen scheiden lassen, weil sie beide das Gefühl hatten, sich in ihrer Entwicklung nur noch zu behindern. Kinder hatten sie nicht. Der Mann hatte den Laden weitergeführt, und die Frau hatte ihren Beruf als Lehrerin nie aufgegeben. Sie hatte durch seinen Tod keinerlei Vorteil, sie wusste nicht einmal, wer ihren Mann beerben würde. Feinde hatte er ihres Wissens nicht gehabt, aber sie kannte seinen jetzigen Bekanntenkreis nicht und legte ganz ausdrücklich auch keinen Wert darauf. Sie hatten kaum noch Kontakt zueinander gehabt, sie hatten zueinander gestanden wie zwei alte Bekannte. Man hatte dem anderen alles Gute gewünscht, aber es hatte keinen Grund gegeben, sich öfters zu treffen.
Immer wieder überflog Schreiner am frühen Nachmittag seine Notizen von der Vernehmung der Frau. Seine Stimmung war schlecht. Das war es alles nicht, was er meinte. Man musste zwischen den wenigen Zeilen lesen. Die Frau hatte irgendetwas über ihren Ex-Mann nicht gesagt. Irgendetwas Wichtiges.
Die Quintessenz der Berichterstattung in der lokalen Presse war das Erstaunen darüber, dass so etwas am helllichten Tag mitten in der Stadt unbemerkt passieren konnte. Für die meisten Leute bedeutete dieser Mord eine spannende Abwechslung bei der morgendlichen Lektüre der Zeitung. Als Zeitungsstory aber blieb dieses Geschehen den meisten Leuten völlig gleichgültig.
Doch das sollte sich noch ändern.
Nur vier Tage nach dem Mord auf der Brückstraße wurde an der Ruhr-Universität ein junger Mann erschossen. Die Ausführung der Tat ließ kaum einen Zweifel daran, dass dieses Opfer von der gleichen Person erschossen worden war, die auch den Mord in der Brückstraße verübt hatte. Der junge Mann war durch Schüsse in Kopf und Unterleib getötet worden. Die Untersuchung der Projektile aus beiden Mordfällen beseitigte schließlich alle Zweifel: Beide Morde waren mit ein und derselben Waffe verübt worden. Und bei dieser Waffe handelte es sich um eine Sig-Sauer, eine Waffe, mit der auch die Polizei in Nordrhein-Westfalen ausgerüstet ist. Das besagte natürlich gar nichts, es war nur ungewöhnlich.
Ungewöhnlich, geradezu unfassbar, war vor allem aber etwas anderes: Der Täter hatte den Mord während einer Vorlesung in einem Hörsaal begangen, in dem fast 150 Menschen anwesend waren. Dass zunächst niemand die Tat bemerkt hatte, blieb Hauptkommissar Schreiner lange Zeit ein Rätsel, das man aber immerhin noch erklären konnte. Dass der Täter mit einer derartigen Dreistigkeit vorging, das machte ihm Angst. Zum ersten Mal wurde von einem Verrückten geredet.
Allerdings konnten eine ganze Reihe von jungen Leuten nun eine sehr genaue Beschreibung einer Person geben, die neben dem Ermordeten gesessen und sich vor der Veranstaltung sogar mit ihm unterhalten hatte. Noch am gleichen Tag kamen zwei Beamte des Landeskriminalamtes aus Düsseldorf und fertigten mit dem Minolta-Verfahren ein Portrait dieses Mannes an, und schließlich waren sich alle Zeugen einig. Genau so hatte der junge Mann ausgesehen: Mitte 20, 170 bis 175 groß, in der Mitte gescheitelte dunkle Haare, halblang, die Ohren bedeckt, ein schmaler Mund und ein Oberlippenbart.
Dieses Phantombild erschien am Donnerstag, dem 9.Mai 1985, zum ersten Mal in der Zeitung. Trotz der Saure-Gurken-Zeit beließ es die Presse bei der sachlichen Darstellung der polizeilichen Informationen: Es bestand der dringende Verdacht, dass der Mord auf der Brückstraße und der an der Uni zusammenhingen; das Foto zeigte den mutmaßlichen Mörder.
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Essen ist die fünftgrößte Stadt der Bundesrepublik. Maßgeblich für eine solche Zuordnung ist allein die Einwohnerzahl. Außerdem nennt Essen sich gerne "Herz des Ruhrreviers".
"Essen die Einkaufsstadt" prangt einem auf riesigen Lettern entgegen, wenn man den Hauptbahnhof verlässt, und genau so sieht die Innenstadt auch aus. Alles ist auf die Sorte Mensch zugeschnitten, die sich auf ein Dasein als Konsument reduzieren lässt.
Für das Herz des Ruhrreviers scheint das zu reichen. Es ist ein chaotisch zubetoniertes Herz, und der angebliche Stolz der Essener, das neue Rathaus, darf nicht nur für sich in Anspruch nehmen, das höchste in Deutschland zu sein. Es ist mit Sicherheit auch das hässlichste.
Geht man donnerstags-, freitags- oder samstagsabends vom Eingang des Hauptbahnhofs nach rechts entlang des Bahndamms über die zumeist wie ausgestorben wirkende Hollestraße in Richtung Steelerstraße, so kann man fast sicher sein, dass 80 Prozent der Männer, die einem begegnen, Schwule sind, die zwischen dem Hauptbahnhof und den beiden Schwulenkneipen auf der Hollestraße und der Steelerstraße hin- und herpendeln.
Es war ein ungewöhnlich warmer Samstagabend im Mai. Da für die meisten Menschen das Wochenende anscheinend in irgendeiner Weise die unerträglichen Arbeitstage vergessen machen muss, war auf den Straßen noch einiges los. Kurz vor Mitternacht kamen aus der Richtung Steelerstraße zwei nicht ganz nüchterne Männer langsam den Weg in Richtung Hauptbahnhof herauf. Sie gingen Arm in Arm, und unter jeder der den Bürgersteig beleuchtenden Neonlampen blieben sie stehen und küssten sich. Aber das schien niemanden zu interessieren.
Wie sich nur wenig später herausstellen sollte, schien das