habe, er müsse mal. In Höhe der Tankstelle hätten sie dann beide in das den Bahndamm begrenzende dichte Gebüsch gepinkelt. Mittendrin habe dann plötzlich jemand Bernds Namen gerufen. Bernd habe nur kurz "Ja" gesagt, sei aber noch nicht fertig gewesen, und der Unbekannte habe nochmals Bernds Namen gerufen. Da hätten sie sich dann einen Spaß daraus gemacht, sich mit offener Hose umzudrehen und auf den Bürgersteig zu pinkeln.
Der Unbekannte habe vor der weißgekachelten Wand der Tankstelle gestanden, dicht hinter ihm sei eine Lampe gewesen, so dass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Auf jeden Fall sei er aber dunkelhaarig, habe einen Schnäuzer und sei ungefähr 1,70 groß. Er habe dann noch einmal Bernds Namen gesagt, oder eigentlich eher gefragt, so als habe er sich Sicherheit verschaffen wollen. Dann habe er aus der Tasche die Pistole gezogen und geschossen. Georg sei vornüber auf das Pflaster gekippt und habe grässlich gestöhnt. Ganz ruhig sei der Unbekannte zu ihm gegangen und habe ihn dann aus nächster Nähe in den Kopf geschossen.
Das war zunächst alles, was der Überlebende der beiden Männer den Beamten der Kripo an Ort und Stelle erzählen konnte. Der Mann war völlig verstört, er konnte alles das nicht begreifen: Der Unbekannte hatte ihm selber gar nichts getan, es war, als wäre er für den Unbekannten gar nicht da gewesen. Er konnte auch nicht sagen, wie lange das alles gedauert hatte. Alles sei so schnell gegangen, aber dabei habe der Unbekannte sich nicht etwa beeilt oder sei irgendwie hektisch gewesen: Das sei überhaupt das Schlimmste gewesen, diese Ruhe des Mörders. Geflüchtet, oder besser weggegangen sei der Mann in Richtung Bahndamm; er sei in das Gebüsch gegangen und die Böschung hochgelaufen. Die Beamten des Erkennungsdienstes sollten später die Spuren des Täters im lockeren Boden der Böschung auch schnell finden; sie nahmen Abdrücke davon und wussten seither, dass der Täter die Schuhgröße 43 hatte. Mehr wussten sie nicht, denn oben war die Spur dann im Gewirr der Gleisanlagen des Hauptbahnhofs verschwunden.
Es war, wenn man so will, ein Glücksfall, dass an diesem Samstagabend gerade dieser junge Beamte, Klaus Bergermann, K-Wache hatte. Er war vom 1.K., zuständig für Kapitalverbrechen, war mit seinen 28 Jahren einer der jüngsten Kommissare weit und breit - zumindest behauptete er das seit mittlerweile zwei Jahren - und war im vollen Bewusstsein seiner Verantwortung mit zitternden Knien zum Tatort gefahren, in der Hoffnung, dass die wichtigeren Kollegen, vor allem der Leiter des 1.K., auch an einem Samstagabend nicht unauffindbar sein konnten; eine Hoffnung, die von Minute zu Minute geringer wurde und den Berg heißer Kohlen, auf dem der junge Kommissar saß, wachsen ließ. Irgendwann wollte er selber in der Hierarchie der lebenslänglichen Ordnungshüter soweit oben stehen, dass das Fällen wichtiger Entscheidungen nicht mehr solche Magenbeschwerden verursachte.
Und für sein Weiterkommen tat er viel: Deshalb wusste er, vielleicht als einziger, von den drei Morden in Dortmund und Bochum, wusste von den Besonderheiten dieser drei Morde und schloss deshalb sofort, dass der Psychopath wieder am Werk gewesen war. Aber das Fällen von Entscheidungen ist eine ganz andere Sache als das Informiertsein; und dafür glaubte er sich in der Hierarchie noch zu weit unten. In seiner bisherigen Laufbahn bei der Kripo hatte er bei aller eventuell möglichen Kameradschaft unter Kollegen vor allem eines gelernt: Verantwortung wird delegiert. Klappt alles, heimst der Oberste die Lorbeeren ein; geht etwas schief, kriegt der Unterste einen Tritt in den Hintern.
Es war nun genau sieben Minuten nach Mitternacht. Nach Angaben des Zeugen war der Mord etwa gegen viertel vor zwölf geschehen. Sofort ließ sich Kommissar Bergermann den Fahrplan des Essener Hauptbahnhofs geben. Lag es nicht nahe, dass der Täter den Tatort mit dem Zug verlassen hatte? Vielleicht wollte Bergermann auch nur, dass der Täter so gehandelt hatte: Er musste einfach irgendetwas tun. Und gesetzt den Fall, der Täter hatte den Tatort nicht mit dem Zug verlassen, so wäre Bergermann völlig hilflos gewesen.
Da samstags der Zug um null Uhr nach Gelsenkirchen und Wanne nicht fuhr, war an regulären Zügen erst ein einziger abgefahren: Der Ost-West-Express über Gelsenkirchen, Dortmund und Hamm, allerdings schon um 23 Uhr 46. Bei einer angenommenen Tatzeit von 23 Uhr 45 war es mehr als fraglich, ob der Täter diesen Zug erreicht haben konnte. Als sich dann aber herausstellte, dass der Ost-West-Express in der heutigen Nacht mit 20 minütiger Verspätung von Essen losgefahren war, also vor ein bis zwei Minuten, hielt Kommissar Bergermann die Spannung nicht mehr aus: Er rief einem anderen Beamten zu, der solle die von 23 Uhr 45 bis jetzt von Essen abgegangenen S-Bahnen heraussuchen, lief an das Funksprechgerät im Wagen und rief die Einsatzleitstelle. Sofort sollten die Kollegen und die Bahnpolizei in Gelsenkirchen verständigt werden; dort müsse in etwa 8 Minuten der Ost-West-Express ankommen; der müsse auf jeden Fall aufgehalten werden, bis er selber mit dem Zeugen in Gelsenkirchen ankomme; es sei unbedingt darauf zu achten, dass keiner der Fahrgäste den Zug verließ.
Als er das sagte, wusste er gar nicht, ob er so ohne weiteres den Fahrplan der Deutschen Bundesbahn durcheinanderbringen durfte. Er glaubte aber schon. Außerdem war es ja nicht so ohne weiteres. Und diese Vorstellung beflügelte Bergermann derartig, dass nun auch keine S-Bahn mehr Essen verlassen sollte.
Denn die S-Bahn war das Problem: Seit viertel vor zwölf waren zwei S-Bahnen losgefahren, eine in Richtung Dortmund, die andere in Gegenrichtung, nach Duisburg. Als Fluchtweg lag die S-Bahn natürlich nahe: Sie hielt oft, und der Täter konnte davon ausgehen, dass die Polizei nicht an allen Haltepunkten präsent sein konnte. Oder er brauchte nur am ersten Haltepunkt auszusteigen; die Zeit für die Polizei war damit auf jeden Fall viel zu knapp: Es hatte also keinen Sinn mehr, Streifenwagen nach Steele und Frohnhausen zu schicken. Bei diesem Fluchtweg war der Täter längst auf und davon.
Und dann kamen die Zweifel wieder. Für einen Augenblick ging es Bergermann durch den Kopf, dass möglicherweise seine ganze Spekulation unsinnig war: Der Täter hatte offensichtlich seinem Opfer aufgelauert, er hatte also nicht wissen können, wann er fliehen musste. Einen bestimmten Zug hatte er sich schon gar nicht aussuchen können. Sollte er etwa auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs einen Wagen abgestellt haben, war er auch längst weg, und es hatte wenig Sinn, irgendwelche Straßen, die aus der Innenstadt führten, zu sperren. Oder er hatte ein Taxi genommen, die in Bahnhofsnähe überall zu Dutzenden standen. Oder, oder, oder...., dachte Bergermann. Es war zum Verzweifeln, und er hörte schon die Vorwürfe seines Vorgesetzten, Hauptkommissar Weber: Es war doch ganz gleich, was er tat, Prügel würde es ohnehin geben.
Er stieg aus dem Wagen, und sein Chef stand vor ihm. Für einen Augenblick war ihm, als müsse er Haltung annehmen und Meldung machen. Seinen beruflichen Ambitionen gemäß hatte Bergermann ein zumindest seltsames Verhältnis allen Autoritäten gegenüber. Dann erfuhr er, dass der offensichtlich nicht ganz nüchterne Chef, den eine treu sorgende Gattin von einer langweiligen Party an den Ort des eigentlichen Geschehens kutschiert hatte, mittlerweile mit dem souveränen Schwung, der vielleicht nur dem Betrunkenen zueigen ist, weitere Schritte veranlasst hatte: Weber hatte kurzerhand von der Einsatzleitstelle gefordert, man solle sofort irgendeine rufbereite Hundertschaft herschicken, um das Bahnhofsgelände abriegeln und systematisch durchsuchen zu können. Richtig: Hundeführer sollten auch dabei sein, wenn der Wahnsinnsmörder gefasst wurde. Die Bahnpolizei wurde gerade verständigt. Und natürlich würden nun alle Züge mit Verspätung losfahren: Weber war ein sehr gründlicher Mensch.
Bergermanns seltsames Verhältnis zu Autoritätspersonen äußerte sich nun derart, dass er es auch nicht andeutungsweise wagte, seinen Chef wissen zu lassen, dass er selber diese Maßnahmen für völligen Blödsinn hielt. Und wie wohlüberlegt es war, den Mund zu halten, wurde Bergermann sofort darauf deutlich, als Weber einen jungen Streifenbeamten, der erst kürzlich seine Bewährungsprobe im Personen-und Objektschutz in Bonn hinter sich gebracht hatte und daran nur noch in Alpträumen dachte, mit der barschen Aufforderung abkanzelte, der solle doch die Schnauze halten.
Anschließend wurden Bergermann und der immer noch völlig verstörte Zeuge nach Gelsenkirchen in Bewegung gesetzt. Der Zeuge wusste gar nicht, dass er durch einen ziemlich langen Zug laufen sollte, um den Täter zu identifizieren. Kein Mensch hatte ihm das gesagt. Auf der um kurz vor halb eins immer noch stark befahrenen B1 kam ihm irgendwann der Gedanke, dass der neben ihm sitzende Bergermann doch eigentlich ganz gut aussah, ein bisschen zu brav zwar, aber dennoch nicht zu verachten. Von der Seite beobachtete er möglichst unauffällig und genau die Fältelung der Jeans zwischen Bergermanns gespreizten Beinen. Sah ja ganz vielversprechend aus, und gerne hätte er mal hingelangt. Er ließ es dann aber doch