Thomas Hölscher

Auf Biegen oder Brechen


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er nicht davon ausgehen, dass die anderen seine Probleme verstanden: Die Kluft zwischen ihm und den anderen Mitarbeitern im Büro schien Börner in der vergangenen Woche noch größer geworden zu sein. Er meinte, das dumme und zynische Gerede, mit dem die anderen ihre Zeit totschlugen, nicht mehr ertragen zu können.

      Vor ein paar Tagen hatten sie ihm erzählt, dass der Rechtsanwalt in Essen noch eine Wohnung gemietet hätte, um sich da mit irgendwelchen Damen zu vergnügen. Sie hatten wirklich Damen gesagt und ihn dabei erwartungsvoll angesehen. Ihm war fast schlecht geworden. Auf dem Schreibtisch des Rechtsanwalts stand ein großes Foto von seiner Frau und den drei Kindern.

      Dann wiederum hielt er sich selber für einen unverbesserlichen Quertreiber: Die anderen kamen schließlich alle gut miteinander aus; er selber stand doch wie immer außerhalb. Und natürlich konnten auch solche Selbstvorwürfe seine Stimmung nicht gerade verbessern.

      Die anderen im Büro mussten ihn mittlerweile für einen ziemlich komischen Kauz halten; auch das Verhalten des Chefs ihm gegenüber war inzwischen - wie Börner glaubte - merklich kühler geworden.

      An einem Montagmorgen wie diesem war Börners Stimmung natürlich besonders schlecht: Er dachte an die fünf vor ihm liegenden Arbeitstage in einem Beruf, den er ja noch zu erlernen hatte, der ihn aber schon jetzt nicht im geringsten interessierte. Außerdem wurde von ihm ja auch immer noch erwartet, glücklich und dankbar zu sein dafür, dass er überhaupt noch einmal die Chance bekommen hatte, einen Beruf zu erlernen und zu arbeiten. In den letzten Tagen waren ihm zum ersten Mal Ideen gekommen, die er im Polizeidienst nie gehabt hatte: Ein Krankenschein für ein paar Tage wäre nicht das Schlechteste. Aber er würde das ohnehin nicht wagen; er wusste auch gar nicht, wie er es anstellen sollte, um an einen Krankenschein zu kommen. Er war doch gar nicht krank.

      Schlapp fühlte er ich allerdings. Das war überhaupt das Verblüffendste: Jeden Tag war er restlos schlapp, wenn er aus dem Büro nach Hause kam, obschon er doch - wie er meinte - gar nichts getan hatte. Jedenfalls nichts Sinnvolles. Das hatte er schon so oft gedacht: Es steckte so viel Energie in ihm, die er endlich für sinnvolle Dinge einsetzen wollte.

      Missmutig wühlte er beim Frühstück in den Zeitungen der vergangenen Woche. Die heutige Zeitung musste im Hausflur liegen, aber Börner hatte jetzt keine Lust, sie zu holen. Auch die Berichte über die Fußballbundesliga konnten ihn heute ohnehin nur ärgern. Wenn Schalke nicht bald besser würde, hatten sie die besten Chancen, im nächsten Jahr schon wieder einmal die 2.Liga zu bereichern.

      Und dann hatte er das Bild gesehen. Mechanisch hatte er die Zeitung schon weitergeblättert, als ihm das Bild des jungen Mannes aufgefallen war. Hastig blätterte er die Zeitungsseiten zurück. Da war es: Neuer Mord an Homosexuellem in Bochum; er überflog den Bericht: Vorgestern Abend.... der 24jährige Krankenpfleger Christoph K. ....auf der Station während des Nachtdienstes ermordet..... Schuss in Kopf und Unterleib.... kein Zweifel, dass dies der fünfte Mord.... auch dieses Opfer verkehrte in einschlägigen Kreisen. Börner verschlang hektisch den Rest des Berichts, aber es waren nicht die Klagen der "Wirte einschlägiger Lokale" über das "wahrscheinlich aus Angst ausbleibende Publikum", nicht die nun auch von der Polizei gehegte Vermutung, dass ein Verrückter aus unerklärlichen Motiven in dreistester Weise "homosexuelle Männer" ermordete, nicht der irgendwie hämische Ton des Zeitungsberichts, was ihn in eine kaum zu ertragende Unruhe versetzte: Das war allein die Tatsache, die ihm sofort klar gewesen war, als er das Bild des jungen Mannes, des fünften Opfers, gesehen hatte: Er kannte diesen Mann. Er wusste nicht woher, auch sagte ihm das Namenskürzel Christoph K. nichts; aber es gab gar keinen Zweifel: Er kannte diesen Mann. Er versuchte angestrengt, dieses Gesicht mit irgendeiner Umgebung, irgendeinem Namen, irgendeiner Erinnerung in Verbindung zu bringen. Es gelang ihm nicht. Jetzt interessierte ihn das Datum der Zeitung: Er hatte sich zufällig die Samstagsausgabe genommen. Weshalb wurde über den Mord erst am Samstag berichtet? Dann fiel Börner wieder ein, dass der Donnerstag, der Tag, an dem der Mann, den er irgendwoher kannte, ermordet worden war, ein Feiertag gewesen war: Christi Himmelfahrt. An Tagen, die auf Feiertage folgten, gab es keine Tageszeitungen. Börner sah auf die Uhr und machte sich mit übler Laune auf den Weg nach Essen.

      Dieser Arbeitstag war für ihn eine Tortur. Pausenlos kreisten seine Gedanken um die Morde an Schwulen, vor allem um das Bild des jungen Mannes, der der Mörder sein sollte.

      Vielleicht war es nur Börners auch den anderen auffallende Geistesabwesenheit, was seine Kollegen veranlasste, ihn immer wieder auf die Serie von Morden in verschiedenen Städten des Ruhrgebietes aufmerksam zu machen. Börner wich diesem Thema hartnäckig aus, was sehr offensichtlich seine Beliebtheit bei den Kollegen nicht gerade steigerte. Als dann der Lehrling - ein kleiner hässlicher Bengel von 16 Jahren mit verpickeltem Gesicht und vorlautem Mundwerk - zur Erheiterung der anderen meinte, sein Vater habe auch schon gesagt, da mache endlich jemand Schluss mit denen, die der Adolf vergessen habe, musste Börner aus dem Raum gehen. Diese Vorstellung war ganz widerlich und abartig. Aber das eigentlich Bedrückende daran war, dass diese Idee so unwahrscheinlich gar nicht war.

      Als er um kurz nach vier das Büro in der Essener Innenstadt verließ, hatte er das Gefühl, die Arbeitszeit hätte nicht eine Minute länger dauern dürfen: Er wäre sonst explodiert. Am Nachmittag hatte er mit niemandem mehr gesprochen, und die anderen hatten angefangen, ihn zu hänseln. Nicht direkt: Börner glaubte, dass sie dazu zu feige waren; aber sie hatten ihn andauernd wieder auf diese Schwulenmorde angesprochen, und Börner hatte das Gefühl gehabt, die anderen hätten anschließend immer zusammengesteckt, sich über ihn unterhalten und wären dann immer lachend auseinandergelaufen.

      Endlich hatte er die Hindenburgstraße erreicht, in der er morgens meistens seinen Wagen abstellte, weil die Parkplatzsituation in Essen eine einzige Katastrophe war und Börner es hasste, stundenlang mit dem Wagen durch die Gegend zu fahren, um einen Parkplatz zu finden.

      Hatten die anderen eigentlich den Verdacht, dass er auch schwul sei? Sie sollten ihn doch fragen. Er würde ihnen schon die Wahrheit sagen. Als Börner seinen Wagen erreicht hatte, musste er lachen: Was war schon die Wahrheit? Was war schon schwul? Trotzdem hätte er keine Angst, es diesen dämlichen Leuten zu sagen: Natürlich, ich bin schwul. Aber die wagten es ja nicht einmal, so etwas zu fragen.

      Und mit einem Schlag waren seine Gedanken über die Kollegen verschwunden: Es war die Fete in Langendreer gewesen. Natürlich, die Fete in Langendreer.

      Den ganzen Rückweg lang wunderte Börner sich, weshalb er nicht eher darauf gekommen war. Der Ruhrschnellweg war wieder einmal völlig verstopft, und es ging nur im Schritttempo vorwärts, aber nun ärgerte es Börner nicht. Er war viel zu aufgeregt.

      Den Toten, diesen Christoph K., dessen Bild er heute Morgen in der Zeitung gesehen hatte, den hatte er auf einer Fete in Langendreer kennengelernt.

      Es musste zu Beginn des vergangenen Jahres gewesen sein, genau wusste er das nicht mehr. Überhaupt hatte er diese Fete schon ganz aus seinem Gedächtnis gestrichen; er hatte sich dort sehr unwohl gefühlt, die Leute gar nicht gekannt. Ein flüchtiger Bekannter, den er selber kurz zuvor in einer Kneipe in Essen kennengelernt und der sich wohl in ihn verguckt hatte, hatte ihn mit dorthin genommen. Nach dieser Fete hatte Börner auch den Bekannten nicht mehr wiedergesehen.

      Nun war plötzlich alles wieder vor seinen Augen: Es war die Geburtstagsfete eines gewissen Bennie oder Bernie gewesen. Börner erinnerte sich nun auch genau an die Gegend wieder, wo dieser Bernie wohnte, ohne den Straßennamen je gekannt zu haben. Der Bekannte hatte ihn damals mit nach Langendreer genommen.

      Er hatte sich auf der Fete eine ganze Zeit lang mit diesem Christoph K. unterhalten, der sich auch recht unwohl gefühlt hatte. Börner erinnerte sich genau an die Situation: Christoph war ein Spätaussiedler aus Polen gewesen, was man deutlich an seinem Akzent hatte hören können. Sie hatten sich eigentlich nur über die Fete unterhalten, darüber, dass sie sich beide dort unwohl fühlten. Es waren ungefähr 20 Personen da gewesen, alles Schwule, von denen der größte Teil sich ganz offensichtlich gekannt hatte. Dieser Bernie hatte seinen 40. Geburtstag gefeiert. Er sah jünger aus, und Börner erinnerte sich auch noch daran, dass er sich hatte Mühe geben müssen, nicht unfreundlich zu diesem Mann zu sein: Er hatte ihn einfach unsympathisch gefunden.

      Was ihn aber am meisten bei dieser Geburtstagsfete gestört hatte,