Thomas Hölscher

Auf Biegen oder Brechen


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und angefasst hatten, wie es ihnen gerade in den Sinn gekommen war. Im Schlafzimmer, dessen Tür immer offen gestanden hatte, hatten einige Leute rumgebumst. Ihm war das alles vorgekommen wie Sodom und Gomorra.

      Er erinnerte sich aber auch daran, dass er einige der Männer ziemlich attraktiv gefunden hatte. Einen vor allem, einen großen blonden Typen. Und da war dann von seiner Seite auch eine ganze Portion Neid und Eifersucht gewesen. Er hätte sich niemals an diesen Spielchen beteiligen können und war der Frage, ob er das denn wollte, lieber ausgewichen. Er war früh nach Hause gegangen, weil er den großen blonden Typen nicht nur hatte anhimmeln wollen. Es war ihm noch genau in der Erinnerung, dass einige der Anwesenden ihn für so eine Art Spielverderber gehalten hatten.

      Als er dann unter irgendeinem Vorwand schon ziemlich früh die Fete verlassen hatte, musste dieser Christoph schon gegangen sein; jedenfalls hatte er ihn nicht mehr gesehen. Er wusste auch nicht mehr, ob der alleine gekommen war oder mit irgendjemand anderem. Auf jeden Fall hatte sich dieser junge Mann auch sehr unwohl gefühlt und sehr offensichtlich den Großteil der Anwesenden nicht gekannt. In seiner Wohnung angekommen, glaubte Börner , vor Aufregung zu platzen. Jetzt gab es endlich nichts mehr, was ihn ablenkte, keine ihm unsympathischen Kollegen, keine verstopfte B1, keine Autofahrer, denen man den Vogel zeigen musste.

      Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, war es still. Und auch dieses Gefühl kannte Börner zur Genüge: Er war eingesperrt in seinem Käfig, und draußen spielte sich das eigentliche Leben ab. Er konnte diese Stille nicht ertragen. Dabei konnte er keine Ruhe finden. Und obschon es erst 17Uhr war, ging Börner sofort zum Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Bier. Er trank sie ohne abzusetzen leer und nahm die nächste Flasche. Er spürte, wie der Alkohol langsam in sein Gehirn eindrang und ihn beruhigte, ein Gefühl, das Börner genießen konnte. Endlich war das alles unwichtig, diese verlogene Hektik, die Angst, etwas zu verpassen, alles wurde unwichtig. Begannen eigentlich viele Menschen zu saufen, um diese Ruhe zu erfahren? Börner lachte: Auch der Zwang, sich solche Fragen zu stellen, war plötzlich nicht mehr da.

      Die Zeitungen: Unterwegs war ihm eingefallen, dass er alle Zeitungen der letzten Wochen durchsehen musste, um die Schwulenmorde rekonstruieren zu können. Die alten Tageszeitungen stapelten sich immer in seiner Küche und auf der Toilette.

      Zunächst überflog er die neueste Ausgabe der Tageszeitung vom Montag, die eine summarische Auflistung der bisherigen Ereignisse brachte. Er holte sich eine weitere Flasche Bier, nahm Papier und Bleistift und las den Bericht noch einmal.

      Gegen kurz vor 19 Uhr, als er die fünfte Flasche leer in den Bierkasten stellte, war er zufrieden: Der Zettel vor ihm war vollgeschrieben: Der erste Mord war am 29.April 1985, einem Montag, in Dortmund geschehen; der zweite am Samstagmorgen der gleichen Woche , am 4.Mai, in Bochum. Der Mord an der Uni war am 9.Mai, dem darauffolgenden Donnerstag, geschehen. Den Mord auf der Hollestraße in Essen mit anschließender Großfahndung in Gelsenkirchen hatte der 11.Mai, ein Samstag, erlebt.

      Dann kam Christoph, der junge Mann, den er kannte. Er war am Donnerstag, dem 16.Mai gestorben. Als Börner auf den in seiner Küche hängenden Kalender sah, musste er plötzlich lachen: Es war ein Feiertag gewesen: Christi Himmelfahrt.

      Noch einmal las Börner die Zeitungsberichte durch. Seinen Notizzettel erweiterte er um die Rubriken Name des Opfers, Beruf, Alter, Angaben zum Tatort. Das Ergebnis war lückenhaft, aber nicht entmutigend. Und dann kam er nicht mehr weiter. So oft er nun auch die Zeitungsartikel überflog, es gab nichts mehr, das nicht schon auf seinem Zettel notiert wäre. Er wurde immer gereizter, bis ihm sein ehemaliger Vorgesetzter Bremminger einfiel.

      Der wusste doch bestimmt mehr. Kontakt hatte er zu Bremminger nicht mehr; nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst vor rund neun Monaten hatte er die Kollegen nur einmal wiedergesehen. Es war auf einem Skatabend bei Milewski gewesen. Bremminger hatte ihn angerufen, er sollte doch auch kommen, und Börner hatte das unheimlich nett gefunden von Bremminger. Und dann war der ganze Abend fürchterlich gewesen. Er war mit dem Wagen zu Milewski gefahren, hatte also nichts trinken dürfen und dann sich selbst und den ganzen Abend unausstehlich gefunden. Skat konnte er ohnehin nicht ausstehen, weil es ein Spiel für besoffene Machos war. Und den ganzen Abend hatte er nicht gewagt, Milewski zwischen die Beine zu sehen. Und aus dem Grund war er ja nur hingegangen.

      Er redete sich nun ein, dass es doch schön wäre, seinen Freund Bremminger einfach mal anzurufen. Er hatte das noch nie getan; Bremminger nach dem Skatabend aber auch nicht.

      Natürlich wusste er, dass er Bremminger nicht anrufen würde. Was sollte er dem schließlich auch sagen? Außerdem brauchte er keine Hilfe. Er wurde allein mit allem fertig.

      9

      Gegen 20 Uhr hatte Börner die siebte Flasche geleert, und alles, was von den vergangenen fünf Morden in seiner Tageszeitung erwähnt worden war, fand sich mit Datum versehen auf Schreibmaschinenpapier geklebt. Erst jetzt fiel Börner wieder das bereits in mehreren Ausgaben der Zeitung erschienene Bild des Täters wieder auf: Halblange schwarze Haare, dunkle Augen und ein Schnäuzer. Der junge Mann gefiel ihm. Der Kerl sah wirklich unheimlich nett aus.

      Eine Zeit lang sah er auf das Bild in der Zeitung und glaubte plötzlich, in einen Spiegel zu schauen: Dunkle Haare, dunkle Augen, ein Schnäuzer. Auf einmal interessierten Börner alle in den Zeitungen angegebenen Informationen über den Mörder. Zunächst las er noch einmal die von ihm auf weißes Schreibmaschinenpapier geklebten Artikel, machte Notizen, sah dann nochmals alle Zeitungen, beginnend vom 29.April, durch. Dadurch wurde, was er zu schreiben hatte, nicht mehr: Der Mörder hatte schwarze, halblange Haare, einen Schnäuzer; außerdem war er relativ klein - die Zeugen hatten von 1,65 bis 1,70 gesprochen. Wie gebannt sah er auf das Bild des Täters, von dem er wusste, dass die Leute vom LKA es mit dem Minolta-Verfahren aus zig anderen Fotografien hergestellt hatten. Den Menschen, den er vor sich sah, gab es nicht. Es war doch völlig verrückt, dass man sich auch in Menschen verlieben konnte, die es gar nicht gab.

      Börner lief zum Telefon und durchwühlte die Seiten seines Telefonverzeichnisses. Irgendwo musste die Nummer des Bekannten aus Essen stehen, der ihn damals mit auf die Fete nach Langendreer genommen hatte. Dann begann er zu lachen: Er wusste den Namen dieses Bekannten gar nicht mehr. Hatte er den eigentlich jemals gewusst?

      Börner versuchte sich zu erinnern an den Abend, als er diesen Bekannten kennengelernt hatte. Es musste einer jener Abende gewesen sein, an denen er ausprobierte, ob er es wagte, alleine in eine Schwulenkneipe zu gehen. Man konnte so etwas lernen. Es war so eine Art Überlebenstraining.

      Das Gesicht des Bekannten sah er noch genau vor sich. Es gefiel ihm nicht besonders, aber es hatte ihn angesehen, als er an irgendeinem Abend vor vielleicht einem Jahr in einer Kneipe in Essen gewesen war. Und plötzlich wusste er den Namen: Heinz. Der Bekannte hieß Heinz. Er wusste es plötzlich wieder, da er dem jungen Mann gleich zu Beginn gesagt hatte, dass er erstaunt wäre: Unter Heinz hätte er sich immer richtige Männer vorgestellt.

      Für Börner gab es zwei Kategorien von Männern. Zu der einen Kategorie gehörten Männer wie Milewski, die er anhimmelte, denen er die Füße küssen würde, wenn er sie nur anzureden wagte. An der zweiten Kategorie Männer konnte man sich für diesen Frust rächen, konnte selber Milewski spielen und sie gebrauchen. Heinz hatte er damals sofort in die zweite Kategorie eingeordnet und damit Recht behalten.

      Noch einmal sah Börner sein Telefonverzeichnis durch. Unter dem Buchstaben H gab es nur einen Heinz. Heinz Behrend. Der musste es sein. Die Rufnummer, die Börner nun wählte, ging auch nach Essen; das war aus der Vorwahl zu ersehen. Das Geräusch im Hörer machte deutlich, dass der Ruf durchging.

      Auflegen oder doch, dachte Börner, als das rhythmische Gequäke des Telefonrufs in sein Ohr drang. Gänzlich unerwartet war da eine Stimme.

      "Behrend."

      Sofort erkannte Börner die Stimme wieder. Er hatte sich erschrocken, insgeheim gehofft, der Bekannte wäre nicht zu Hause.

      "Ja, hier ist Börner, Richard Börner." Der Alkohol machte ihm das Sprechen schwer.

      "Wer ist da?" Die Stimme klang halb belustigt, halb verärgert.

      Nun