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      Börner verdrängte diese Erinnerungen. Er wollte nicht mehr daran denken, sich vor allem nicht wieder fragen, ob er nun selber gekündigt hatte oder ohnehin geflogen, disziplinarisch belangt oder sonst was wäre. Auch an Milewski wollte er jetzt nicht denken.

      Missmutig sah er aus dem Fenster. Es war jetzt 18 Uhr, es regnete immer noch, und dieser verdammte Sonntag war wohl einfach nicht totzukriegen.

      Da war immer noch die Möglichkeit, in die Oper zu gehen. Gelsenkirchen ohne Oper war wie ein Fisch ohne Fahrrad; wenn die Leute hier Spaß haben wollten, gingen sie auf Schalke.

      Und damit stand für ihn endgültig fest, dass er auf keinen Fall in die Oper gehen würde.

      7

      Ob er Depressionen hatte oder nicht, wie er das Gefühl schlechter Laune ansonsten bezeichnen sollte, und woher es denn wohl kam, all das waren Fragen, mit denen Hauptwachtmeister Geilenberg nichts am Hut hatte. Er war fast einsneunzig, und seine aschblonden Haare auf dem Kopf und unter der Nase hatten ebenfalls Gardemaß. Sein Arsch und seine Oberschenkel hatten maßgeblichen Anteil an den 88 Kilogramm, die er auf die Waage brachte, und die Hosen, die er kaufte, saßen genau da, wo sie vor allem sitzen mussten: Wenn man einen attraktiven und um seine Attraktivität wissenden und sie ausnutzenden Mann eine Schnitte nennen will, dann war Hauptwachtmeister Geilenberg eine Schnitte. Er stand, wie man so sagt, mit beiden Beinen im Leben. Irgendwoanders zu stehen war ihm niemals eingefallen.

      Seinen Dienst tat er auf der Wache in der Oberhausener Innenstadt, wohnte jedoch im nördlichen Teil der Stadt, in Sterkrade, nur ein paar hundert Meter von der Stadtgrenze entfernt. Von seinem Haus aus konnte er das gelbe Ortsschild von Dinslaken sehen.

      Das kleine Einfamilienhaus lag in einer Siedlung gleich aussehender Einfamilienhäuser. Mit seinen 24 Jahren hätte Stefan Geilenberg kaum das Geld für dieses Haus selber ersparen können. Seine Frau, die als Sekretärin bei einer großen Oberhausener Stahlfirma gearbeitet hatte, hatte dieses Haus als Erbstück von einer ihr eigentlich kaum bekannten Großtante mit in die Ehe gebracht. Auch den kleinen Drahthaardackel Egon hatte die Frau mit in die Ehe gebracht. Und dann war da vor allem noch Beppo, ein Zwergesel. Beppo war den jungen Leuten zur Hochzeit und zu ihrem Entsetzen von einem in der gesamten Verwandtschaft als leicht überspannt geltendem Onkel geschenkt worden. Man konnte sich in den kleinen Einfamilienhäusern letztlich sogar mit Eseln arrangieren; was allerdings lästig blieb, waren die nicht seltenen Beschwerden von Nachbarn, die das beizeiten markdurchdringende Geschrei des seltenen Tieres nachdrücklich beanstandeten. In solchen Momenten war gerade die junge Frau völlig verzweifelt: Jetzt komme das dämliche Vieh aber endgültig weg, sagte sie jedes Mal, wenn eine Beschwerde oder gar eine Anzeige des Ordnungsamtes fällig war. Und jedes Mal wusste sie auch, dass sie das nur so sagte: Der Markt für Esel war nicht gerade groß, und die Bemerkung ihres Mannes, man könne Salami aus dem Biest machen lassen, hatte die junge Frau trotz allen Ärgers insgeheim endgültig Beppos Partei ergreifen lassen. Das Tier würde auf keinen Fall wegkommen, so überflüssig es auch war. Und wirklich stören tat es doch gar nicht.

      Sieht man von den Störaktionen gegen die Nachbarschaft einmal ab, so war das Tier überhaupt nur einmal in Erscheinung getreten: Es war auf einer Fete vor ein paar Wochen, Mitte April, gewesen; das für den ansonsten katastrophalen April unglaublich schöne Wetter jenes Samstagabends hatte die ganze Gesellschaft - in der Hauptsache Kollegen des Mannes - in den Garten gehen lassen. Ein Cousin der jungen Frau war es gewesen, der den schon leicht angeheiterten Hauptwachtmeister Geilenberg provoziert hatte, er wage nicht, auf den Esel zu steigen. Dieser hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als dem Cousin das Gegenteil zu beweisen. Die junge Frau hatte es abgestoßen, wie der baumlange Kerl das kleine Tier gepiesackt hatte, bis es ihn am ganzen Körper zitternd zur Gaudi der Gäste durch den Garten getragen hatte. Und da hatte sie vor allen Gästen einen Ehekrach vom Zaun gebrochen; das war zwar peinlich, aber auch schon lange überfällig gewesen.

      Stefan Geilenberg war ein Macho und Pascha: Die junge Frau hatte in den zwei Ehejahren hinreichend Gelegenheit gehabt, das zu erkennen. Geheiratet hatte sie ihn, weil er blendend aussah und ihr völlig den Kopf verdreht hatte.

      Sie hatte es längst aufgegeben, ihrem Mann zu misstrauen, wenn er beispielsweise unerwartet Nachtdienst hatte: Sie brauchte ihm auch gar nicht zu misstrauen, sie konnte sicher sein, dass er auch mit anderen Frauen ins Bett ging. Ihre einzige Aufgabe sah die junge Frau seit einiger Zeit darin, sich einzureden, dass ihr das egal sei. Es war ihr aber nicht egal.

      Sogar der Cousin hatte es auf der Fete, wenn auch indirekt, gesagt: Stefan hätte sich nur falsch herum auf den Esel setzen sollen; so hätte man im Mittelalter untreue Ehemänner zum Spott der Menge durch die Stadt getrieben.

      Die junge Frau mochte diesen Cousin. Sie hatten sich natürlich schon seit Jahren gekannt, aber eigentlich erst vor einem knappen Jahr näher kennengelernt. Er hatte zu der Zeit ziemliche Probleme mit seiner Partnerschaft gehabt und mit ihr darüber gesprochen. Sie hatte ihn dann auch zu der Fete eingeladen. Auch aus Trotz, denn sie wollte nicht, dass immer nur Bekannte ihres Mannes kamen.

      Sie fand es bezeichnend, dass ihr Mann diesen Cousin nicht ausstehen konnte: Ihn störte dessen zurückhaltende und stille Art; außerdem sei der doch mit Sicherheit schwul.

      Die Frau hatte ihrem Mann widersprochen und sich hinterher darüber geärgert. Dass er schwul sei, hatte der Cousin ihr doch erzählt. Sie war darüber erstaunt gewesen; so etwas hatte ihr noch niemand einfach so gesagt. Aber gestört hatte es sie nicht. Ganz im Gegenteil. Man konnte sich gut mit ihm unterhalten, er konnte wenigstens zuhören, und man fühlte sich ernstgenommen. Vor allem hatte man als Frau nicht immer das Gefühl, für einen jungen Mann nur unter einem einzigen Aspekt interessant zu sein.

      In den letzten Wochen gab es für die Familie Geilenberg allerdings Probleme, die sich durch einen inszenierten Ehekrach nicht so einfach aus dem Weg räumen ließen; Probleme, die die junge Frau manchmal wieder spüren ließen, weshalb sie ihren Mann auch liebte: Er konnte unbeholfen und hilflos sein wie ein kleines Kind, das sich über die Tragweite dessen, was es tat, keine Gedanken machte. Dachte sie dann wieder daran, dass die Probleme letztlich doch wieder begründet lagen in den verrückten Machovorstellungen ihres Mannes, wurde sie wütend: Anders, als es die Mehrheit seiner Kollegen machte, die ihre Dienstpistolen nach Dienstschluss auf der Wache ließen, hatte Stefan Geilenberg seine Waffe, die bei der Polizei übliche Sig-Sauer 9mm, jeden Tag mit nach Hause genommen. Sie hatte ihn oft damit aufgezogen: Ob er eigentlich glaubte, im Wilden Westen zu leben, ob er das brauchte, um seine Männlichkeit zu beweisen. Und sie hatte ihm auch ganz einfach gesagt, dass sie ein solches Ding nicht im Haus haben wollte. Genutzt hatte alles nichts. Jeden Abend hatte Stefan die Waffe in seine Nachtkonsole gelegt und manchmal von der abgelegenen Lage des Hauses und ähnlichem gesprochen.

      Und eines Morgens war die Waffe nicht mehr da gewesen. Und darüber war auch die junge Frau nicht glücklich. Sie hatten das ganze Haus auf den Kopf gestellt, aber die Waffe war weg.

      Und Stefan war unglücklich; denn es würde erheblichen Ärger geben, wenn sie nicht bald wieder auftauchte. Jeden Tag sagte sie ihm, er müsse den Verlust melden, aber er tat es nicht und suchte weiter. Spätestens bei den obligatorischen Schießübungen oder irgendeinem Waffenappell musste Stefan auffallen. Er sollte den Verlust doch melden. Er machte alles immer noch schlimmer.

      Mittlerweile konnte die junge Frau aber über die ganze Sache auch schon mal lächeln. Es hatte etwas Ulkiges, sich vorzustellen, wie ihr Mann mit leerem Halfter als Sheriff von Oberhausen durch die Gegend lief.

      Aber auf Dauer war es natürlich nicht zum Lachen.

      8

      Für Börner schien die Welt nur noch aus Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Automobilen zu bestehen.

      Von den Wochentagen wünschte er nur, sie sollten so schnell wie möglich vergehen, das Wochenende war das einzige Ziel, auf das er hinarbeitete, das die ganze Woche retten musste. Er nahm sich viel vor für das Wochenende und tat dann fast gar nichts. Ging das eigentlich vielen Leuten so? Aber was sollte die Frage: Wenn es so war, konnte es einen