Schriftbild vertraut, dem Papier, seiner Struktur, suchte nach dem eingeschlagenen Leseband, strich es glatt. Versuchte eine weitere Struktur im Aufbau des Buches zu finden. All dies passierte bevor sie ein Buch las.
Das Lesen selbst war ein von der Zeit getriebener Prozess. Nicht, dass sie es hinter sich hätte bringen wollen. Sie versank für den Moment. Aber es waren immer nur Augenblicke. Dieser hemmungslos zugewandte Zwang auf das nächste Buch vereitelte einen inneren Zugang zu dem momentanen. Was niemand mehr bedauerte als Florentina.
Florentinas Briefe entstanden aus einem Diskurs zwischen Intellekt, Ideologie und Intuition, auf die sich verlassen konnte. Dessen war sie sich sicher.
Sie machte sich die Wörter zueigen. Sie manipulierte sie. Sie missbrauchte sie. Es entstanden neue Wortschöpfungen. Sie verstümmelte Sätze. Verkürzte. Im Gegenzug setzte sie Punkte erst nach langen in sich verschlungenen Reihen.
Ihre Abschnitte waren brutal. Sie verlor Zusammenhänge und diese sich selbst, um sie und sich dann wieder einzufangen. Sie ließ Sätze abbrechen. Dafür setzte sie Zeichen. Für sie waren es akrobatische Instrumente. Ihre Briefe hatten etwas Architektonisches. Selten blieb sie im Fluss. Sie forderte ihren Adressat. Und schrieb doch nur an sich. Sie war Absender und Adressat zugleich. Ihre Virtuosität entpuppte sich als Deckmantel einer Botschaft an sich selbst mit einem Höchstmaß an Zufriedenheit. Ihr Schreiben war ein Schreiben aus dem Inneren.
Viktor sollte dies zunächst nicht bemerken. Erst sehr viel später kritisierte er eine vermeintliche Projektion, die jedoch anderes gelagert war als er hätte vermuten können. Florentina verweigerte jedwede Aufklärung. Davor schützten ihn ihre vorausgegangene Betroffenheit und das daraus entstandene Schweigen.
Lieber Traumreisender,
als Hypothese würde ich dies zunächst gerne so stehen lassen ...
Ob diese einem Vergleich standhält und sich bewahrheitet, wäre zu beweisen.
Wahr ist, dass mich die Sensibilität in der Vorstellung eines gemeinsamen Lebenswegs berührt hat. Getragen von Achtsamkeit und Empathie für den anderen, der Aufmerksamkeit für die leisen Töne und einem liebevollen Umgang miteinander. Der Wunsch nach Stimmigkeit und damit einer möglichen Seelenverwandtschaft.
Ich hoffe, es ist nicht anmaßend, wenn ich hier versuche, die ‘Anforderungen‘ vorsichtig zu interpretieren und mich damit auch meinen Wunsch- und Wertevorstellungen zu nähern.
Ich bin 52, ebenfalls Skorpion.
Auch ich habe den Wunsch und die Freiheit, mich auf eine Partnerschaft einlassen zu wollen und zu können.
Und dies möglichst auf eine Partnerschaft mit gegenseitigem Respekt, eine Partnerschaft, die sich nicht in Oberflächlichkeiten verliert, die aufrichtig und authentisch ist. Die auf ebenso großem Humor wie auf Tiefgang basiert,
die eindeutig und klar ist und auf überflüssige Spielchen verzichtet. Eine Partnerschaft, in der sich eine tiefe Liebe entwickeln kann, in der auch gemeinsame Träume Zeit und Raum haben.
Ich arbeite als Kreativdirektorin in München. Kenne Wien von beruflichen Aufenthalten und privaten Besuchen bei Freunden recht gut und mag diese Stadt mit ihrer hohen Lebensqualität und dem phantastischen Umland.
Ich bitte um Nachsicht, dass ich zunächst kein Foto beilege, würde dies aber nach einem vertrauensvollen Kontakt gerne nachholen. Den Hinweis auf innere und äußere Schönheit habe ich sehr wohl verstanden ... Da bin ich reflektiert und selbstkritisch genug.
Es wäre schön, auf dieser Basis aufeinander zugehen zu können.
In einem Gespräch 0178. 4876898 oder per e-Mail. f-grafschaft @gmx.de).
Einen herzlichen Gruß
Florentina
München, 20. Juli 2016
4.0 Die SMSs
Es war einer jener Briefe, die in Vergessenheit gerieten. Auch des Vergessenwollens. Nicht zuletzt auch, da er so angelegt war. Es war eine Angelegenheit mit einem hohen Verfallsdatum, immer verbunden mit der Möglichkeit, dass sich das Geschriebene selbst zerlegte und auflöste in eine nicht zu vermeidende Niederlage. Diese Möglichkeit in Betracht ziehend, war die Trutzburg des Selbstschutzes existenziell. Dennoch forderte er seinen Tribut.
Noch gab es kein Gegenüber, keine Sprachkultur, keinen Blickkontakt, keine Berührungen. Keine Verbindlichkeiten, keine Ethik, keine Moral, keinerlei Verpflichtungen. Das Unbekannte einer brutalen Anonymität beherrschte die Szenerie.
So setzte bei Florentina schon nach einigen Tagen des Schweigens und der Ungewissheit, je eine Antwort auf ihre Antwort zu bekommen, ihre Vermeidungstaktik ein, die sie glaubte zu beherrschen.
Sie vergaß, bemühte das Schicksal und änderte nichts. Ein Nachfragen war ihr fremd, schien ihr unangemessen. Schließlich ahnte sie nichts von Viktors Flucht und seinem überlebensstrategischen Bündelprinzip.
Was nach dieser Zeit des Vergessens und des Ignorierens folgte, war die minimalisierte Form des Kontaktes auf der Überholspur. Flüchtig, sich selbst genügend und doch anrührend fragil.
Zugleich auch eine Genugtuung.
Da war sie wieder die Überzeugungs- und Wirkungskraft des Geschriebenen. Es war nicht das einzelne Wort, es war das Gesamtbild, das zu einer derartigen Nachricht veranlasste. Florentina verspürte Genugtuung. Sie hatte ihm keine Wahl gelassen. Ihre Worte hatten triumphiert, erhaben über alle Zweifel. Es würde ihr nicht schwer fallen, dem weiter zu genügen und damit eine beiderseitige Anspruchshaltung aufrecht zu halten. Das war ihr an jenem Sonntagmorgen klar, als sie Viktors Nachricht las, die sich auf ihrem Handy angekündigt und sie aufgeweckt hatte.
Es sollte der Start zu einem Spiel mit hohem Risiko und noch höherem Einsatz werden.
So. 10. Aug. 01.27 Uhr
Liebe Florentina,
gerade von einer längeren Reise nach New York zurückgekehrt, habe ich Ihren bezaubernden Brief vorgefunden, der so schöne und wichtige Gedanken enthält. Am liebsten hätte ich Sie bei Vollmond und trotz vorgerückter Stunde angerufen. Und es wäre ein tolles Gespräch geworden. Aber das geht ja nicht.
Bitte, liebe Florentina, teilen Sie mir kurz mit, wann ich Sie anrufen darf.
Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.
Mit herzlichen Grüßen,
Viktor Berggrün
So. 10. Aug. 9.06 Uhr
Guten Morgen, lieber Viktor,
herzlichen Dank für die sympathische Nachricht zu nächtlicher Zeit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich da ein guter Gesprächspartner gewesen wäre ... Bin jetzt auf dem Weg liebe Freunde aus Berlin zu treffen.
Wenn es bei Ihnen passt, ich bin am späten Nachmittag zurück. Freue mich auf Ihren Anruf.
Ihnen einen schönen Sonntag.
Herzlichen Gruß,
Florentina
Viktors Stimme besaß jenen Klang, den sie so liebte. Klar, geschult. Sehr präzise mit leichtem Schmäh, der ihr ein Lächeln aufs Gesicht zeichnete und sie in ihrem Sessel tiefer rutschen ließ. Mit dem Wohlklang war ein Wohlgefühl verbunden, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Sie wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Dennoch vernahm sie eine gewisse Unsicherheit, eine leichte Hektik, die zur Eile drängte das Gespräch bald zu beenden.
Von einem ersten Treffen war die Rede, von einem kurzfristig anberaumten Termin in ihrer Stadt. Da waren sie, die ersten Berührungen. Getrieben, -mutig, neugierig, unabdingbar. Es war zu vermessen, dieses alles an jenem Sonntagabend