Also jetzt rufe ich Sie, liebe Florentina, nicht mehr an, das verbietet ja schon die altrömische Provenienz Ihres Namens. Ich denke morgen, nach der 1. Messe. Ich selbst bin Protestant, gehe aber nur in katholische Kirchen, meistens wenn sie leer sind oder dort konzertiert wird.
Di. 12. Aug. 22.46 Uhr
Liebe Florentina
ich wünsche Ihnen nochmals eine gottgesegnete Nachtruhe. Jetzt müssten Sie eigentlich schon tief schlafen.
Viele liebe Grüße,
V
Viktor erhöhte den Druck, um seinem eigenen zu entkommen, der gegen Abend anstieg. Florentina spürte diese Intensität zu genau, als dass sie sich damit beschäftigen wollte. Sie nahm ihn auf und gab sich ihm hin. Sie gab ihn, für Viktor nicht zu vernehmen, zurück. Da waren keine Zeit und kein Raum. Geboren aus ihrer beider Not und Bedürftigkeit. Von denen der jeweils andere nichts wusste, nur ahnte. Diese gewollte Unkenntnis war die eigentliche Tragik. Die rote Linie war längst überschritten.
Es wurde zu einer brutalen Annäherung nach dem Vermeidungsprinzip eines Absturzes – auf beiden Seiten. Florentina verspürte ein leichtes Unbehagen, das jedoch nicht stark genug ausgeprägt war, um sich zu entsagen. Sie ging sogar noch einen Schritt weiter. Sie verweigerte sich der Kontrolle.
Vor Viktor baute sich eine Drohkulisse auf, an der Florentina vollkommen unbeteiligt war, ebenso wie an seinem späteren Schweigen. Es drohte der Absturz, den er nur mit Florentinas Anwesenheit hinauszögern oder gar abwenden konnte. Selbst die getroffenen Verabredungen wurden zu Schreckgespinsten. Je näher der Abend im Bayerischen Hof kam, um so bedrohlicher wurde er für Viktor.
Mi. 13. Aug. 09.10 Uhr
Lieber Viktor,
zunächst einen guten Morgen.
Auch ich liebe es, Briefe zu schreiben. Auch ich habe immer ein kleines Leuchtturmbuch in meiner Tasche. Für Notizen, Gedanken, Fragmente, Ideen ... Darf ich fragen, mit wem Sie das Prinzip des Brieftagebuchs praktizieren? Telefonate in unserem Stadium sind sicherlich eine kleine Herausforderung. Vielleicht aber können wir zusätzlich als Kompromiss Emails nutzen, da unsere Kommunikation doch in einen Modus von mehr Tiefe geht und mir bei SMSs der Eindruck des Gesamten fehlt.? Und damit die Intensität und auch Ästhetik. Es bekommt etwas Flüchtiges, was mich ein Stückweit irritiert.
Einen lieben Gruß,
Florentina
Mi. 13. Aug. 14.42 Uhr
Liebe Florentina,
das Brieftagebuch mache ich mit meiner Tochter Konstanze, die seit 5 Jahren in New York lebt. Ihre Ausführungen zur Ästhetik moderner Kommunikation kann ich nur teilen. Ich hatte bisher keinen privaten Email Account. Nun ist er da: [email protected].
Mit lieben Grüßen,
Viktor
Nur zu gern ließ Viktor sich auf Florentinas Vorschlag ein, der schon eher einer Forderung glich. Dieses Medium eröffnete ihnen beiden ungleich größere Möglichkeiten der akut notwendigen Nähe bei gleichzeitigem Schutz für Viktor.
Für Florentina sollte es zur Spielwiese einer ungezügelten Fantasiewelt werden, die sie glaubte zu beherrschen. Die sie unvorsichtig werden ließ, die ihr jegliche Skepsis nahm, die alle Zweifel zerstreute. Und wenn doch, spielte sie ihre Stärke des Verstehens aus, nicht aber die des Verstandes. Sie ließ sich auf ihn ein. Er brauchte sie. Zumindest für den Moment. Da war kein Aufwand zu groß. Und doch lag in allem keine Absicht. Gerade diese Absichtslosigkeit ließ jeden Argwohn unzumutbar werden. Getragen von Fürsorge, auch Respekt, einer geheimnisvollen Vertrautheit, abgeschirmt von der Außenwelt. Eben jene unverbindliche Verbindlichkeit, die unverpflichtete Verpflichtung, das unmissverständliche Verständnis, das nicht verstandene Verstehen und die unmöglichen Möglichkeiten. Mit ihren E-Mails würden sie alle Zweifel überschreiben und zugleich tot schweigen.
Viktor ahnte es. Florentina wusste es nicht.
Mo. 18. Aug. 07.42 Uhr
Guten Morgen, lieber Viktor
bist Du gut nach Hause gekommen? Wie geht es Dir?
Alles Liebe,
Florentina
So. 09. Nov. 11.12 Uhr
Lieber Viktor,
im Vertrauen darauf, dass es Dir besser geht ... eine kurze Nachricht. Ich bin am Wochenende, 21. bis 23. Nov., anlässlich eines Geburtstagsfests bei meinen Freunden in Wien. Es besteht immer noch der Herzenswunsch, Dich zu sehen. Vorausgesetzt natürlich, es ist für Dich machbar und dies auch Dein Wunsch.? Ich wäre sehr froh, wenn Du Dich dem Gedanken öffnen könntest, dass eine Begegnung gut sein und damit auch gut tun könnte.
Herzlichst,
Florentina
So. 09. Nov. 12.43 Uhr
Liebe Florentina,
ich habe mich über Deine Nachricht gefreut. Mir geht es gut. In der 47. Kalenderwoche bin ich wegen einem großen Vertragsabschluss in New York, sollte aber am 22.11. wieder da sein. Am Dienstag nächster Woche erfahre ich den genauen Zeitpunkt. Wann könntest Du?
Ich hoffe, es geht Dir gut.
Herzliche Grüße,
Viktor
So. 09. Nov. 13.11 Uhr
Lieber Viktor,
wie schön, von Dir zu hören und zu wissen, dass es Dir gut geht. Ich werde ab Freitag, 21.09., ab späten Nachmittag in Wien sein bis Sonntagnachmittag und bin flexibel bis auf Samstagabend (Geburtstagsfest). Ich würde mich freuen, Dich zu sehen, auf einen Kaffee oder zu einem Spaziergang. Das überlasse ich Dir.
Lieben Gruß,
Florentina
So. 09. Nov. 14.03. Uhr
Liebe Florentina,
lass uns doch am Samstag um 11.00, wenn das für Dich nicht zu früh ist, vor der Oper treffen. Dann machen wir einen Spaziergang und gehen anschließend noch eine Kleinigkeit essen. Preisfrage: an was erkennst Du mich?
Herzliche Grüsse,
Viktor
So. 09. Nov. 14.23 Uhr
Das ist keinesfalls zu früh. Woran ich Dich erkenne? Vor ca. drei Monaten war es die linke offene Hand. Wäre dies immer noch so?
Herzlich,
Florentina
So. 09. Nov. 14.53 Uhr
Natürlich. Bin gerade auf der Fahrt an den Neusiedlersee. Du kannst Dir als Quizmasterin in der Zwischenzeit 3 sehr einfache Fragen und ein neues Erkennungszeichen überlegen.
Herzlich,
V.
So. 09. Nov. 15.12 Uhr
Lieber Viktor,
das ist gar nicht so leicht, wie ich feststelle. Ich hätte so viele Fragen ...
Also gut! Dann Risiko.
1 Hättest Du Dich bei mir gemeldet?
2 Kann ich anknüpfen? Wenn ja, ab wann? Oder alles auf Anfang oder eher nicht?
3 War der Herbst auch in diesem Jahr Deine liebste Jahreszeit?
Ich glaube ich sollte die Fragen jetzt schnell abschicken, bevor mich der Mut