Gegenteil sogar, war es doch nur zu verständlich, dass sie die Chyrrta blieb, die sie nun einmal war. Und diese speiste entweder allein in ihren Räumen des Palastes oder inmitten der unfeinen Männer auf dem Schlachtfeld, indem sie rasch irgendetwas Essbares hinunterschlang.
Sie schmunzelte, als sie sich vorstellte, dass sie wie die Reiter der Herrscherin es in Gasthäusern taten, nun die Füße auf den Essenstisch legen und Wein am frühen Morgen ordern könnte. Aber auch wenn die Vorstellung sie erheiterte, so verzichtete sie doch darauf, als sie nur wenig später in einem lichtdurchfluteten Raum saß, der Platz für viele Gäste bot. Einige der Tische waren besetzt. Kyla versuchte, nicht darauf zu achten, dass sie immer wieder neugierig beäugt wurde. Sie griff zu einem großen Tonkrug und goss sich Wasser in einen Becher. Das Brot, das vor ihr stand, duftete herrlich. Vermutlich kam es gerade aus dem Ofen, denn der kleine Laib war noch ganz warm. Kyla brach ein Stück davon ab und schob es sich in den Mund. Es schmeckte köstlich!
Sie blickte zum Fenster hinaus. Die Sonne war inzwischen über die Berge gestiegen, die Tritam umgaben. Es würde ein heißer Tag werden. Lylha kam an ihren Tisch und brachte Kyla gebratene Tilanifrüchte. »Yola bereitet frischen Rula-Sud vor. Er ist gleich fertig«, berichtete sie mit gepresster Stimme. Kyla fiel auf, dass die junge Frau einen dicken Verband um ihre Hand trug. »Hat sich die Wunde entzündet?«, fragte sie. Lylha schüttelte den Kopf. »Nein, aber bei mir dauert es sehr lange, bis eine Wunde zu bluten aufhört. Es ist ... eine Krankheit, glaube ich.«
»Oh«, machte Kyla, die nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Denn jetzt fiel ihr auf, dass der Verband stellenweise immer noch von frischem Blut befleckt war. Ganz sicher wäre sie inzwischen längst tot, wenn sie eine solche Krankheit ebenfalls hätte, denn ihre Wunden waren für gewöhnlich um einiges größer und tiefer. »Dann solltest du dich ausruhen, anstatt zu arbeiten. Und vielleicht solltest du auch einen Heiler aufsuchen, der die Wunde behandeln kann, damit du bald wieder genesen bist«, schlug Kyla vor.
»Das kann ich nicht. Ich habe zwei kleine Töchter, und mein Mann ... er ist fort.«
Kyla begriff. »Hole mir den Besitzer dieses Gasthauses her!«, befahl sie. Lylha sah sie erstaunt an. Sie lächelte leicht. »Die Besitzerin ist Yola.« Kyla kam sich augenblicklich dumm vor. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht, dass die Besitzerin es sich natürlich nicht nehmen lassen würde, sie als Erste willkommen zu heißen und ihre Dienste anzubieten? Sie ließ sich ihre Verwirrung jedoch nicht anmerken, als Yola mit dem Rula-Sud an ihren Tisch kam. Während die Gasthaus-Besitzerin das dunkle Gebräu in einen kleinen Becher füllte, sagte Kyla entschieden: »Du wirst Lylha heute und für die kommenden beiden Sonnenlichter von ihren Pflichten entbinden. Sie wird einen Heiler aufsuchen und bald wieder bei Kräften sein, um ihren Dienst zu verrichten. Die Bezahlung für sie und den Heiler erhältst du von mir, sobald ich abreise. Füge die Summe meiner Rechnung hinzu.«
»Und wer soll dann die anstehenden Arbeiten übernehmen? Lylha war tollpatschig und ist selbst schuld, dass sie sich verletzt hat«, erwiderte Yola aufgebracht.
»Was tut das zur Sache?«, herrschte Kyla sie an. Sofort senkte Yola den Kopf und murmelte: »Nichts ... natürlich.«
»Dann lass sie nach Hause gehen. Es wird genügend Chyrrta in dieser Stadt geben, die ihre Arbeit einstweilen übernehmen möchten.«
»Aber niemand von denen ist so gut unterwiesen, dass wir unsere Arbeit schaffen könnten. Es gibt noch so vieles zu tun, um das Festmahl vorzubereiten.«
»Welches Festmahl?«, fragte Kyla.
»Das heutige Mahl Euch zu Ehren. Viele Würdenträger der Stadt werden hierher kommen, um Euch zu sehen und Euch Ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.«
Kyla drehte sich bei diesen Worten fast der Magen um. Sie schob den Rula-Sud von sich, den sie ohnehin nicht hatte trinken wollen.
»Dann wird das Festmahl eben ausfallen. Meine Verpflichtungen lassen es auch gar nicht zu, daran teilzunehmen.« Yola sah nun so enttäuscht aus, dass es Kyla beinahe leid tat, sie so vor den Kopf zu stoßen.
»Meine Zeit hier ist begrenzt«, erklärte sie. »Ich muss so bald wie möglich weiter reiten. Ich bin nur hier, um ...« Ja, wozu eigentlich? Kyla konnte natürlich schlecht sagen, dass sie nur hergekommen war, um wiejede andere junge Frau die Schönheiten der Stadt zu entdecken. Sie war nun einmal nicht wie andere Frauen ihres Alters. Hier, innerhalb der Undurchdringlichen Mauern, wäre sie das jedoch ganz gerne gewesen. Denn im Reiche Parailas waren Frauen ebenso angesehen wie Männer. Es waren sogar ausschließlich Frauen aus der Gallan-Familie, die über die Chyrrta hier herrschten. Und niemals hatten sie jemanden versklavt, soweit Kyla informiert war. Damals, als Kyla noch jenseits der Mauern gelebt hatte, hatte sie jedoch eine ganz andere Welt kennengelernt.
Dort waren die Frauen wie das Eigentum der Männer behandelt worden – und die junge Kriegerin war froh, kein solches Leben führen zu müssen. Sie wies sich also selbst zurecht und nahm es hin, dass sie dafür einen gewissen Preis zahlen musste. Es war um so vieles besser, hofiert zu werden, statt mit Körper und Seele jemandem dienen zu müssen. Vor allem war es ihr unerträglich, dass diese Sklavenhalter ihren Stand durch nichts weiter als ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit verdient hatten. Welcher Verdienst das eigentlich sein sollte, war Kyla ein Rätsel. Sicher, Männer zeugten Kinder – aber waren es denn nicht die Frauen, die die Nachkommen so lange in ihren Leibern trugen, bis diese lebensfähig waren? Und waren sie es nicht, deren Schöße zerfetzt wurden, wenn sie Töchter und Söhne gebaren? Viele von ihnen starben sogar dabei. Doch statt dies wertzuschätzen, wurden sie auf der anderen Seite der Mauern behandelt, als wären sie minderwertige Kreaturen. Kyla wurde zornig bei dem Gedanken. Nein, die Chyrrta von jenseits der Undurchdringlichen Mauern durften niemals Parailas Welt in ihre Gewalt bringen, denn dann wäre alles verloren, was die Gallan-Frauen aufgebaut hatten. Ihr Volk war zufrieden. Es war freundlich zueinander – auch wenn es hier ebenfalls Bedienstete und Arbeiter gab, die ihren Geldgebern gehorchen mussten. Doch es stand ihnen frei, sich nach anderen Stellen umzusehen. Niemand wurde hier wie Eigentum behandelt. Auch wenn der junge Mann, der am Morgen von dem Kaufmann ausgeschimpft worden war, das derzeit sicher anders sehen würde. Und doch war auch er frei – frei wie Kyla, die sich aussuchen durfte, wo sie am Abend speisen würde.
»Es bleibt dabei, dieses Festmahl wird nicht stattfinden. Vielleicht ein anderes Mal, bei einem anderen Besuch.«
Yola grollte offensichtlich, doch sie unterdrückte ihre Wut. »So soll es sein. Ein anderes Mal ...« Sie sah zu Lylha, die alles mit angehört hatte, und machte ihr eine Geste, dass sie verschwinden solle. Kyla bemerkte, dass die junge Frau gleichsam erleichtert wie besorgt aussah. Sie konnte sich denken, was in ihrem Kopf vor sich ging – und in dem von Yola.
»Ich wünsche, dass Lylha ihre Stelle hier behält! Du wirst keine finanzielle Einbuße durch ihren Ausfall erleiden«, stellte Kyla mit Nachdruck klar.
»Sie wird ihre Stelle behalten. Hauptsache, Ihr seid zufrieden, Kyla, Kriegerin der grünen Wasser.«
»Das bin ich, wenn du tust, was ich angeordnet habe. Bei Sonnenuntergang werde ich aufbrechen. Bitte sorge dafür, dass mein Pferd dann gesattelt bereitsteht.« Yola nickte und versprach es. Als Kyla wenig später über den Marktplatz ging, fragte sie sich, ob sie richtig gehandelt hatte. Es war gar nicht so einfach, alles so zu machen, dass jedem Genüge getan wurde. Langsam begriff sie, welch schwierige Aufgabe Paraila zu bewältigen hatte, von der bei jedem Sonnenlicht aufs Neue erwartet wurde, dass sie so überaus vielen Chyrrta gerecht wurde. Kyla hatte sehr wohl gespürt, wie gerne Yola ihr die Meinung gesagt hätte. Und zweifellos gab es auch Chyrrta, die nicht mit den Entscheidungen von Paraila einverstanden waren. Doch sie hatte noch nie so deutlich gemerkt, dass jemand der Herrscherin Widerworte hatte geben wollen, wie Yola es bei ihr tun wollte.
Die junge Kriegerin begriff, dass sie noch viel zu lernen hatte, wenn sie das Reich auch außerhalb der Palastmauern würdig vertreten wollte. Sie ging zwischen den Ständen hindurch, an denen verschiedene Waren feilgeboten wurden. Hier gab es nicht nur alles zu kaufen, was im Hause benötigt wurde, sondern auch Dinge, die die Sinne erfreuten. Duftwasser, kulinarische Köstlichkeiten, Schals mit eingewobenen Goldfäden, Spielzeug für die Kinder – aber auch wundersame Dinge für Erwachsene, deren Einsatzmöglichkeiten