Regina Raaf

Kyla – Kriegerin der grünen Wasser


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      Man sprach davon, dass niemand, der sich auf diesen Weg begab, je zurückkehrte. Wenn das stimmte, konnte es gut sein, dass auch Kyla dort ihr Ende finden würde. Warum hatte Quyntyr den Berg Ultay also ausgerechnet zu ihrem Treffpunkt erklärt? Wollte er vielleicht, dass sie starb? Aus Rache, weil sie ihn in seinen Augen benutzt hatte? Aber wenn er sie tot hätte sehen wollen, warum dann dieser Umstand? Er hätte ihr auch einfach während des Trainings einen tödlichen Hieb zukommen lassen können. Und vermutlich hätte es durch seine Kampfkunst überzeugend wie einen Unfall ausgesehen. Doch das hatte er nicht getan, und ihr Bauchgefühl sagte der jungen Frau, dass er sie keineswegs tot sehen wollte. Vielleicht wollte er Rache für das, was geschehen war, aber Quyntyr würde sie auf seinem eigenen Wege erlangen wollen, und Kyla würde es hinnehmen, denn die Schuld lastete schwer auf ihrer Seele. Mit ihrer Entscheidung, ihn zu erwählen, hatte sie das komplette Leben ihres Kampflehrers zerstört. Damals, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er bereits geahnt, dass sie eines Tages die Macht haben würde, über seinen Verbleib im Palast zu entscheiden. Und doch war es anders gekommen, denn er hatte selbst entschieden, den Ort zu verlassen, an dem er damals so gerne hatte bleiben wollen.

      Kyla dachte über all das nach, während sie über den Markt ging und die Chyrrta dieser Stadt beobachtete. Die meisten von ihnen waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und achteten gar nicht auf sie. Das konnte Kyla nur recht sein. Ab und an wehten Düfte von den Ständen zu ihr herüber, die sie neugierig machten. Geräuchertes Fleisch, süße Teigfladen, würziges Danath, das unter Speisen gemischt werden konnte, um ihnen einen kräftigen Geschmack zu verleihen, Duftwässer und Seifen. Immer wieder atmete Kyla tief ein, um die Eindrücke in ihrem Gedächtnis zu bewahren.

      Dann entdeckte sie ein kleines Geschäft, das sich im Schatten des großen Marktplatzes unter einem ausladenden Dach befand, das mit dunklen Schindeln gedeckt war. Erst dachte sie, es wäre geschlossen, doch dann erkannte sie, dass sie durch die Türöffnung auf eine Wand voller Bücher blickte. Die meisten der Einbände waren in Brauntönen gehalten, sodass Kyla geglaubt hatte, es wäre eine hölzerne Tür. Nun steuerte sie auf den Eingang zu, denn ihr kamen Parailas Worte wieder in den Sinn. Die Herrscherin hatte die Vermutung geäußert, Quyntyr habe womöglich einen Teil seiner kostbaren Bücher in Tritam zum Kauf angeboten, um Geld für seine Flucht und für die Unterstützung der Feinde des Reiches zu erhalten. Eigentlich glaubte Kyla nicht daran, doch sie wollte sichergehen und ihrer Herrscherin ehrliches Zeugnis darüber ablegen, was sie diesbezüglich in Erfahrung bringen konnte.

      Die Luft im Geschäft war staubig und abgestanden. Nach dem grellen Sonnenlicht mussten sich Kylas Augen an die Düsternis darin erst einmal gewöhnen. Sie blickte sich um und staunte über wahre Bücherberge, die an zahlreichen Stellen aufgestapelt waren. Es schien ihr unmöglich, hier auf die Schnelle einen Überblick über die vorhandenen Titel zu erlangen. Als sie ein Räuspern vernahm, erkannte sie einen alten Mann, der in einer winzigen Ecke hockte und mit einem Vergrößerungsglas eine Landkarte betrachtete.

      Er hatte aufgeblickt. Ohne förmlichen Willkommensgruß fragte er: »Was begehrt dein Geist? Wünschst du eine unterhaltsame Geschichte mit einem schmucken Kerl, der das Herz einer jungen Dame erfreut? Nun, die Liebesgeschichten findest du in der Ecke dort hinten. Sieh sie dir an, aber bring mir nichts durcheinander!« Kyla sah in die Richtung, in die der alte Mann mit seinem knorrigen Finger deutete. Er hustete und spuckte etwas Auswurf in ein Tuch, das er wohl eigens zu diesem Zweck in der Tasche seiner Weste getragen hatte.

      »Ich suche keine Liebesgeschichten«, erwiderte Kyla und überlegte, wie sie den Mann am besten über ihr Anliegen in Kenntnis setzte, als er ihr erneut zuvorkam.

      »Nun denn, willst du wissen, welche Krankheit dich ereilt hat? Ein Brennen im Schritt? Pelzige Zunge? Oder gar ein übler Geruch aus deinen Eingeweiden? Rat findest du in diesen beiden Bänden dort.« Er zeigte auf ein Regal, das ihm schräg gegenüber stand. Kyla spürte, dass sie wegen seiner vorlauten Art ärgerlich wurde.

      »Du scheinst selbst ein oder zwei Bücher zu viel über die Kunst der Wahrsagerei gelesen zu haben. Doch glaube mir, sie taugen nichts, denn deine Vermutungen, was ich begehre, sind allesamt falsch.«

      Der Mann zog die Augenbrauen zusammen, als überlege er, ob er zu erkennen geben sollte, dass er wusste, dass sie einen Scherz mit ihm getrieben hatte. Er entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen bekam er einen neuerlichen Hustenanfall, von dem Kyla das Gefühl hatte, er wäre nur vorgetäuscht, um Zeit zu schinden. Endlich entschloss er sich, seine mögliche Kundin wegen ihres Anliegens selbst zu Wort kommen zu lassen, und machte eine auffordernde Geste.

      »Ich wollte mich erkundigen, ob ein Mann hier war, um Bücher zum Verkauf anzubieten.«

      Der Verkäufer lachte auf. »So etwa ein Dutzend, wenn ich allein den letzten Mondzyklus rechne.«

      »Ich meine jemanden, der dich erst während der letzten paar Sonnenlichter aufgesucht hat. Er wäre dir aufgefallen. Seine Haut ist sehr blass. Sein Haar und seine Augen sind ungewöhnlich hell.«

      »Ein Albino also?«, fragte der Mann und nickte wissend.

      »Ja, ein Albino! War er hier?« Kyla war aufgeregt, weil Quyntyr offenbar tatsächlich Kontakt mit dem Verkäufer aufgenommen hatte. Zugleich spürte sie, dass sie darüber entsetzt war, denn es bedeutete vermutlich, dass Paraila mit ihrer Einschätzung von ihm nicht gänzlich verkehrt lag.

      »Selbst wenn so jemand hier gewesen wäre, hätte ich ihn nicht erkannt. Meine Augen sind so schlecht, dass ich praktisch blind bin. Ich erkenne Chyrrta vor allem an ihrer Stimme.«

      »Aber du hast in mir offenbar eine junge Frau erkannt, ohne dass ich auch nur ein Wort gesagt hatte«, gab Kyla zu bedenken.

      »Das liegt an deiner Körperhaltung und an den Formen, die ich an deinem Körper ausmachen kann.«

      Kyla ignorierte das lüsterne Lächeln, das kurz die Mundwinkel des alten Mannes umspielte. Sie versuchte, ihre Stimme so gelassen wie möglich klingen zu lassen.

      »Immerhin betrachtest du eine Landkarte. Mit einem Vergrößerungsglas zwar, aber so blind kannst du dann doch gar nicht sein. Bitte erinnere dich, ob du mit dem Mann gesprochen hast, den ich beschrieb.«

      Nun seufzte der Verkäufer tief und legte das Vergrößerungsglas auf den Tisch.

      »Auch wenn ich die Karte betrachte, so sehe ich selbst mit dem Glas nicht mehr, als ein paar Linien. Ich weiß nur aus der Erinnerung, wie sie aussieht.«

      Kyla konnte es einfach nicht glauben. Sie trat näher an den Tisch heran und betrachtete den Mann, der ihr Starren jedoch gar nicht zu bemerken schien. Seine Augen waren trüb. Kyla verspürte Mitleid. Es musste schwer sein, ein Leben zwischen Büchern zu führen, wenn man nicht mehr in der Lage war, sie selbst lesen zu können. Offenbar kannte er seinen Laden so gut, dass er sich in der Lage fühlte, weiterhin Kunden zu beraten. Jedoch nicht, ohne sie zu ermahnen, nichts durcheinander zu bringen, denn nur so fand er sich offenbar selbst noch zurecht.

      Ihr Blick fiel auf die Karte. Sie zeigte zu ihrem Erstaunen das komplette Reich und auch noch Gebiete darüber hinaus, die jenseits der Undurchdringlichen Mauern lagen. Doch das Merkwürdige war, dass eben jene Mauern auf der Karte überhaupt nicht verzeichnet waren.

      »Von wann ist diese Karte?«, fragte sie und wollte danach greifen. Der Mann zog sie ihr jedoch unter den Händen weg, bevor Kylas Finger sie berühren konnten.

      »Sie ist alt.«

      »Wie alt?«

      »Sehr alt.«

      »Und woher hast du sie?«, fragte Kyla nur mühsam beherrscht.

      Der Mann presste die Lippen aufeinander, als wolle er ihr keine Antwort mehr geben, und tatsächlich schwieg er nun. Einen Moment lang überlegte Kyla, ihn durch die Offenbarung ihrer Identität dazu zu zwingen. Der fast blinde Mann hatte natürlich keine Ahnung, wen er da vor sich hatte. Aber Kyla entschied, ihn nicht durch ihren Status unter Druck zu setzen, sondern sich lieber in Diplomatie zu üben.

      »Wenn du mir sagen kannst, von wann sie ist und woher sie stammt, würde ich sie dir für einen guten Preis abkaufen.«

      »Sie